Dr. phil. Paul Natterer

Problemstellung und Antworten

Das Paradox des Naturalismus

Wir haben im Untermenu zur Philosophie der Biologie gesehen, dass Idee und Theorie der Evolution nicht nur in der Biologie bzw. den Lebenswissenschaften zum Einsatz gebracht werden, sondern auch in den Formal- und Geisteswissenschaften wie Psychologie, Pädagogik, Ethik, Politik. Eine der weitgehendsten und kämpferischsten Positionen hat hier wie gezeigt Daniel Dennett, z.B. in Darwin‘s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life, New York 1995 [deutsch: Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens, Hamburg 1997]. Eingangstür und Prüfstein für eine solche universelle Ausweitung des Evolutionskonzeptes, die normalerweise mit einem weltanschaulichen Naturalismus oder Materialismus verbunden ist, ist die evolutionäre Erkenntnistheorie. Denn eine naturalistische Evolutionsbiologie als Totalerkärung von unten nach oben ist eine philosophische und wissenschaftliche Theorie, die sich selbstreferentiell auf sich selbst als wissenschaftliches Denken und Erkenntnissubjekt anwendet. Man ist dann aber zwangsläufig mit dem sog. Paradox des Naturalismus bzw. des naturalistischen Objektivismus konfrontiert. Dieses ergibt sich aus der widersinnigen Anwendung des Naturalismus auf den wissenschaftlichen Naturalismus selbst: Nichtphysiologisches wissenschaftliches Denken entdeckt zum einen die Bedingungen und Gesetze der Physiologie. Die Physiologie produziert zum anderen nichtphysiologisches wissenschaftliches Denken, also ihre eigenen Bedingungen und Gesetze (vgl. Seebohm: Psychologism Revisited. In: Seebohm, Th. M./Follesdal, D./Mohanty, J. N. (eds.): Phenomenology and the Formal Sciences, Dordrecht 1991, 179). 

Empirizität der Logik?

In der Gegenwart stehen sich nun in Sachen biologischer Erkenntnistheorie die Paradigmen der evolutionären Erkenntnistheorie und des epistemischen Konstruktivismus gegenüber (siehe auch in Folge). Die Biosemiotik bzw. Systems Biology kann dabei dem Konstruktivismus zugeschlagen werden. Sie ist eine Fortentwicklung desselben. Das wird an Folgendem sofort deutlich: Thure von Uexküll, moderne Leitfigur der Biosemiotik, bestand ebenso freundlich wie eisern darauf, dass deren zentrale Einsicht die Theorie nichttrivialer Systeme im Konstruktivismus ist (siehe das Menu Evolutionsbiologie). Der Umgang dieser beiden Paradigmen mit dem Paradox des Naturalismus kann an ihrem rudolf carnapVerhältnis zur kantischen Theorie und insbesondere zu den kantischen formallogischen und transzendentallogischen apriorischen Denkformen gezeigt werden. Dazu folgende Orientierung: Eine umweltabhängige Entfaltung (Epigenese) auch des Denkens wird oft, etwa in der Quine'schen Theorie der ultimativen (nicht: vordergründigen) physikalischen und biogenetischen Empirizität oder Synthetizität auch der formalanalytischen mathematischen Logik und materialanalytischen Konzeptlogik, vertreten. Vgl. Quine, W. V. (1961) From a Logical Point of View, 2. Aufl. Cambridge (Mass.) 1961 und ders. Wissenschaft und Empfindung. Kant Lectures, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001. Die Wissenschaftstheoretiker Paul Rudolf Carnap [Foto links] und Karl Raimund Popper zeigten die Unhaltbarkeit dieses positivistischen Ansatzes (siehe in Folge).

Empirische Erklärungen der Kognition

Demgegenüber ist davon auszugehen, dass beide z.Zt. vorliegenden empirischen Erklärungen der Kognition, die evolutionäre Erkenntnistheorie (K. Lorenz, K. Popper, G. Vollmer) und der epistemische Konstruktivismus (J. Piaget, Heinz von Förster, Jakob und Thure von Uexküll) zwar einerseits die empirische phylo- und ontogenetische Fundierung der Kognition betonen, andererseits aber in Auseinandersetzung mit und Anlehnung an Kant eine relative apriorische Eigengesetzlichkeit der kategorialen Denkformen, intensionalen Denkregeln und formalen Denkoperationen zur Evidenz bringen.

Cocciarella (Philosophical Perspectives on Formal Theories of Predication. In: Gabbay / Guenthner: Handbook of Konrad Lorenz O König 1974 in Winden Neusiedlersee Alfred Schmied CC BY SA 3.0Philosophical Logic IV.3, Dordrecht 1989,  254—326) bietet eine diesbezügliche logische Formalisierung sowohl des epistemischen Konstruktivismus wie der evolutionären Erkenntnistheorie. Vgl. auch Lorenz’ (Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München/Zürich 1973) doppelte Theorie von einerseits realen kausalen Bedingungen der phänomenalen Wahrnehmung und der Kognition (hypothetischer empirischer Realismus). Andererseits die These der Irreduzibilität der höheren Bereiche von Psychologie und Logik auf die Biologie und Physik. Lorenz rezipiert dazu die Ontologie Nicolai Hartmanns mit hierarchisch aufgebauten „Schichten des realen Seins“ bzw. unterschiedlichen Seinskategorien. Für die höheren Schichten gibt es — so Lorenz — keine Erklärung von unten nach oben. Der Biochemiker und Wissenschaftsphilosoph Reinhard Zecher hat die Ontologie Nicolai Hartmanns neuerdings in diesem Sinn für die Aufklärung der biologischen Informationsverarbeitung und der kognitiven Leistungen des Menschen zu Grunde gelegt: Die Sprache der Sprache. Untersuchungen zur Klärung des Informations- und Sprachbegriffs, Würzburg 1999. [Foto oben: Konrad Lorenz (links) mit dem Schüler Otto Koenig, Leiter des 'Instituts für Vergleichende Verhaltensforschung' der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1974 am Neusiedler See]

Relative apriorische Eigengesetzlichkeit meint hier, dass diese kognitiven Formen und Regeln — abgesehen von dem harten Kern des Begriffsanalytischen und der formalen (Konsequenz-)Logik — hypothetisch apriorisch gültig sind, d.h. unter der Voraussetzung der spezifischen Anlage der menschlichen Kognition und Informationsverarbeitung. Absolut betrachtet stellt diese Apriorität eine faktische, globale Anfangsbedingung dar: Es sind prinzipiell andere Anfangsbedingungen denkbar, wie gerade Kant immer betont. Vgl. Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 3 Bde., München 1991 I, 177; Seebohm: Psychologism Revisited. In: Seebohm, Th. M./Follesdal, D./Mohanty, J. N. (eds.) Phenomenology and the Formal Sciences, Dordrecht 1991, 149—182; Husserl: Logische Untersuchungen, 6. Aufl. Tübingen 1980 [1900/01], 6. Logische Untersuchung, 187—201. Ähnlich argumentiert — von Seiten der Logikergemeinschaft — Cocciarella (a.a.O. 1989) und vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt Carnap: Meaning and Necessity, 2. Aufl. Chikago 1956, und Popper: Logik der Forschung, 9. Aufl. Tübingen 1989. Vgl. auch ders.: Alles Leben ist Problemlösen, München/Zürich 1994, 127—144. Dies ist mit Kants Position vereinbar. Popper (a.a.O. 1994, 127): „Meiner Meinung nach wird Kant viel verständlicher, wenn man sich darüber klar wird, daß er, wenigstens sehr oft, ‘genetisch a priori’ gemeint hat, obzwar er natürlich immer von ‘a priori gültig“ gesprochen hat.“ Ähnlich argumentiert Lorenz (a.a.O. 1973, 9—32 und 57—65).

Eigengesetzlichkeit der begrifflichen Kognition

Was aber keinesfalls mit Kants Konzeption vereinbar ist, ist die reduktionistische These, wonach die formallogische und konzeptlogische kognitive Dimension an die Kognitionspsychologie, Neurobiologie, oder Linguistik zu delegieren sei. Hier wäre als kantische Gegenthese zu formulieren: Die reduktionistische Delegation der konzept- und formallogischen Dimension an Sprach- und Realwissenschaften ist keine Option, insofern ein eigengesetzliches konzeptuelles und logisches, d.h. kognitives Gegenstandsgebiet vorliegt. Eine der besten fachübergreifenden Analysen unter Einbeziehung der kantischen Einsichten ist hierzu Heisenbergs Ordnung der Wirklichkeit. Hier ein Abriss dieses klassischen Textes zur Wissenschaftstheorie in Thesenform:

Diskussion der evolutionären Erkenntnistheorie

Zur detaillierten Verhältnisbestimmung von kantischer Theorie und evolutionärer Erkenntnistheorie bzw. Konstruktivismus vgl. das Untermenu: Philosophie der Biologie. Darüber hinaus bietet folgendes Skript einen Forschungsbericht zur gegenwärtigen Diskussion von transzendentaler kantischer Erkenntnistheorie und evolutionärer Erkenntnistheorie. Er konzentriert sich deswegen auf das Verhältnis Kants zur evolutionären Erkenntnistheorie, da der konkurrierende erkenntnistheoretische Konstruktivismus nicht ganz zu Unrecht schon dahingehend charakterisiert wurde, dass kantisch sei, was an ihm gut ist. Für das philosophische und wissenschaftstheoretische Selbstverständnis der evolutionären Erkenntnistheorie in sich ist das maßgebliche Referenzwerk noch immer G. Radnitzky / W. W. Bartley III (eds.): Evolutionary Epistemology, Rationality, and the Sociology of Knowledge, La Salle, Illinois 3. Aufl. 1993. Es skizziert deren Entstehung, fachübergreifende Anwendung und interne Selbstreflexion um den Freundeskreis von Karl Popper, Friedrich A. von Hajek, Konrad Lorenz, Gerard Radnitzky, W. W. Bartley, zu welchen v.a. Donald D. Campell tritt und in Deutschland Gerhard Vollmer.

Methodischer Kulturalismus als aktueller Referenzrahmen

In obigem Skript setzt sich auch Peter Janich, der Marburger Vordenker der sog. Protophysik von Raum, Zeit und Materie, mit der Kritik der evolutionären Erkenntnistheorie (und früher bereits der physikalischen relativistischen Erkenntnistheorie) an den kantischen Anschauungs- und Denkformen auseinander (Janich: Evolution der Erkenntnis oder Erkenntnis der Evolution? In: Lütterfelds, W. (Hrsg.) Transzendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie?, Darmstadt 1987, 210—226). Insbesondere mit dem speziellen Einwand, dass unsere Anschauungs- und Denkformen nur für den mesokosmischen Raum Geltung haben. Es handelt sich dabei also um die Behauptung, dass diese Formen zwar in der mittleren, mesokosmischen Dimension der Wirklichkeit gälten, aber in der atomaren, mikrokosmischen und astronomischen, makrokosmischen Ebene versagten. Sie seien also nicht allgemeingültig. Dazu Janich: Hier liegt eine Verwechslung deskriptiver inhaltlicher Aussagen und normativer, metasprachlicher (pragmatischer, operationaler, handlungstheoretischer) Wahrheitskriterien von Aussagen vor. Die Letzteren dienen nur und genau dazu, deskriptive Erkenntnisse von deskriptiven Nichterkenntnissen zu unterscheiden (a.a.O. 1987, 221—223). Solche normativen Geltungskriterien sind vorgängig zu empirischen, deskriptiven Behauptungen und methodisch von diesen unabhängig.

Peter Janich [Foto unten, 1942—2016] ist immer mehr zu einem wissenschaftstheoretischen Vordenker par excellence der Methodenreflexion auch der Lebenswissenschaften geworden und zum intelligenten Kritiker der naiven Naturalisierung von Logik, Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie. Vgl. P. Janich / M. Weingarten: Wissenschaftstheorie der Biologie. Methodische Wissenschaftstheorie und die Peter Janich NetzBegründung der Wissenschaften, München 1999. Das von Peter Janich aus dem Erlanger Konstruktivismus weiterentwickelte Forschungsprogramm des Methodischen Kulturalismus hat darüber hinaus Prototheorien aller Realwissenschaften zum Gegenstand. Diese beschreiben deren tatsächliche, effektive Methode und zielen auf rationale Kontrolle der Grundbegriffe und Theorien ausgehend vom vorwissenschaftlichen bzw. technischen Handeln und Erkennen. Trotz der Unterschätzung von Metaphysik im Methodischen Konstruktivismus wird Peter Janich wahrscheinlich einmal als einer der bedeutendsten Wissenschaftsphilosophen und Physiker unserer Epoche gelten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat er eine intensive und lange Debatte mit dem Hirnforscher Wolf Singer (Frankfurt) geführt, der ein Hauptvertreter der Naturalisierung von Formal- und Geisteswissenschaften ist. Ebenda hat Janich am 22.09.2008 eine Bilanz dieser Debatte gezogen ('Geist und Gehirn: ein Resümee der Debatte. Es geht nicht um die Lösung von Welträtseln'), deren Hauptpunkte wir wiedergeben: 

"Wissenschaftstheorie besteht unter anderem darin, die Neurobiologie nach ihren Zielen und Mitteln zu fragen, nach Voraussetzungen, Methoden und Begriffen, denn daran entscheidet sich, was 'Erkenntnisse' sind. [...]

Naturwissenschaftlich sind z.B. neuroanatomische und neurophysiologische Aussagen. Aber um sie geht kein Streit, keine Publikumsaufregung. Doch täusche man sich nicht: wenn physiologisch etwa das menschliche Sehen erforscht wird, muss der Physiologe schon vorher — aus seiner lebensweltlichen Lerngeschichte — wissen, was 'Sehen' ist; sonst hätte seine Disziplin keinen Gegenstand (und übrigens auch keine Methoden, denn selbst die schönste Experimentierkunst verlangt von ihren Urhebern letztlich Einigkeit in Sachen des vom Experimentator Gesehenen). Das heißt, auch hochgeschätzte, völlig unkontroverse naturwissenschaftliche Teildisziplinen wie die Sinnesphysiologie (inklusive neuronaler Teile) sind auf außerwissenschaftliche Unterscheidungen und sprachliche Mittel zwingend angewiesen. Oder sie hätten kein Explanandum, hätten nichts kausal zu erklären. [...]

Die Neurowissenschaften verlassen jedenfalls das Terrain der Naturwissenschaften (mit den Begriffen, die sie methodisch beherrscht) in Grenzüberschreitungen zu Psychologie und Philosophie, wo z. B. über die Kognitionsfähigkeiten des Menschen gesprochen wird. Denn da müssen die der Kognition, also dem Erkennen 'zugrunde liegenden' von anderen Stoffwechselprozessen unterschieden werden. Wegen der hier gebotenen Kürze ganz grob: Hirn und Leber unterscheiden sich unter anderem darin, dass zur Beschreibung der kognitiven Hirnleistungen die wahr-falsch-Unterscheidung unverzichtbar ist, bei der Leber nicht. Die Wörter 'wahr' und 'falsch' ('Erkenntnis' und 'Irrtum', oder irgendein anderes Paar einschlägiger Unterscheidungen) sind aber sicher keine Fachtermini der Naturwissenschaften, sondern der Philosophie (und übrigens wichtige Wörter des täglichen Lebens). Der Neurowissenschaftler kommt also ohne Philosophie nicht zu seinem Gegenstand. [...]

Empirische Fragen müssen selbstverständlich empirisch beantwortet werden [...] Aber ob eine Behauptung empirisch ist (oder etwa durch logisches Schließen, Rechnen, Definieren oder Postulieren begründet werden kann/muss), ist nicht selbst eine empirische Frage. Es gibt auch kein Experiment, das entscheiden könnte, ob eine Laborprozedur ein Experiment ist, d.h. (empirische) Ergebnisse liefert. [...]

Wer die Wissenschaftlichkeit der Hirnforschung will, muss metasprachlich wieder zu Mitteln der Wissenschaft greifen, das heißt, sie nicht nur wissenschaftlich betreiben, sondern auch wissenschaftlich (statt naiv oder dogmatisch) über sie reden."