Dr. phil. Paul Natterer

Natterer: Philosophie der Biologie

Die Texte des Menus "Evolutionsbiologie" sind in einer früheren Version als Buch erhältlich. Der Buchtitel ist Natterer, Paul: Philosophie der Biologie. Mit einem systematischen Abriss der Kritik der teleologischen Urteilskraft und einer interdisziplinären Bilanz zur Evolutionsbiologie [= Edition novum studium generale 4], Norderstedt 2010, 204 Seiten. Verkaufspreis 23,90 € [ISBN 978-3-8423-2825-9].

 

 

Vorbemerkung

Auf dieser Leitseite zur Evolutionsbiologie werden wir In Folge einen ersten Einstieg in das realwissenschaftliche Konzept der biologischen Evolution geben. Wir konzentrieren uns dabei auf die Abfolge der Theorien seit dem 19. Jahrhundert, die im Hintergrund der Diskussionen der Gegenwart stehen.

Das Untermenu: Lebenswissenschaften bietet dann eine detaillierte Bilanz der empirischen Evolutionsbiologie an Hand der beteiligten Disziplinen: Präbiotische Chemie Molekularbiologie Anatomie Entwicklungsbiologie Paläobiologie Anthropologie. In einer Skizze wird auch die gegenwärtige Evolutionismus-Kreationismus-Debatte vorgestellt. Da die synthetische (neodarwinistische) Evolutionstheorie nach wie vor das vorherrschende Paradigma ist, wird unsere Bilanz deren Begriffen und Einteilungen folgen und konstruktionistische bzw. auch evolutionskritische Argumente jeweils fortlaufend mit integrieren.

Es ist bemerkenswert, dass bereits vor der Aufnahme des Evolutions-Paradigmas in die neuzeitliche Biologie seit Darwin und Wallace (Mitte 19. Jh.) eine differenzierte Wissenschaftstheorie und philosophische Wertung der Idee der biologischen Evolution von Immanuel Kant vorgelegt wurde. Seine Kritik der Urteilskraft (1790) [in Folge abgekürzt: KU] ist — neben dem Altmeister der Biologie und Biophilosophie Aristoteles — eine der gründlichsten philosophischen Analysen der Biologie und Ökologie. Sie wird im zweiten Teil dieses Werkes entwickelt, betitelt: Kritik der teleologischen Urteilskraft. Letztere ist der Argumentationstyp, der in der Biologie zum Einsatz kommt. Kant nennt sie genauer die reflektierende transzendentale Urteilskraft. Das Untermenu: Philosophie der Biologie stellt Kants Gedanken und Argumente zur Sache vor. Sie werden einerseits mit der aristotelischen Theorie der Tradition inkl. moderner Rekonstruktionen derselben abgeglichen; anderserseits mit der aktuellen philosophischen Debatte zur Evolutionsbiologie.

Das letzte Untermenu Evolutionäre Erkenntnistheorie diskutiert den Versuch der Ausweitung des naturalistisch oder materialistisch gedeuteten Evolutionskonzeptes auf die Formal- und Geisteswissenschaften.

Realwissenschaften zur biologischen Evolution

Man kann seit der Antike eine Reihe von Vorläufern nennen, die in den Lebenswissenschaften das Konzept der Entwicklung angedacht oder auch ausgeführt haben. Im Bewusstsein der Gegenwart ist die Idee der Evolution in den Realwissenschaften jedoch vor allem mit Darwin und dem Darwinismus verknüpft. Dabei können die in Folge kurz vorgestellten Phasen unterschieden werden. Ausgangspunkt ist dabei der ursprüngliche Ansatz Darwins selbst.

Klassischer Darwinismus

Der klassische Darwinismus ist das von Charles Darwin (1809—1882, Foto unten) selbst in Verbindung mit A. R. Wallace (1823—1913) aufgestellte Theoriegebäude. Darwin ging hierbei von der innerartlichen Selektion in der europäischen Tier- und Pflanzenzucht aus; Wallace von tropischen Freilandforschungen in Südostasien. Das Grundbuch ist Darwins On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life von 1859. Der klassische Darwinismus verteidigt folgende 5 Thesen oder Kernaussagen:

Ch. Darwin [WikiCommons]Wandelbarkeit und Entwicklung der Arten aus Urformen in langen Zeiträumen — Auslese resp. Selektion der bestangepassten Formen — Postulat der Abstammungsverwandtschaft aller LebewesenGraduelle Evolution kleiner Schritte — Vervielfachung der Arten durch Aufspaltungen (vgl. Kutschera: Evolutionsbiologie, 3. Aufl. Gießen 2008, 34). Evolutionsursache ist Selektion oder Kampf ums Dasein. Es steht der Begriff des „Darwinismus als Kurzform für das Selektionsprinzip“ (Kutschera 2008, 59) in Verbindung mit der Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften (Pangenesistheorie, vgl. Kutschera 2008, 60): Letztere „Spekulation erwies sich jedoch bald als Irrlehre“ (Kutschera 2008, 61).

Neodarwinismus und Synthetische Evolutionstheorie

A. Weismann [WikiCommons]Hauptvertreter des Neodarwinismus [1890-—1930] sind der deutsche Zoologe August Weismann (1834—1914, Foto links) und wiederum A. R. Wallace (1823—1913). Weismann widerlegte die Pangenesistheorie Darwins (und schon Lamarcks), indem er experimentell nachwies, dass erworbene Merkmale wie Organverstümmelungen nicht erblich sind. (Er schnitt 19 Generationen von geschlechtsreifen Mäusen die Schwänze ab, was ohne Einfluss auf die Schwänze der Nachkommen blieb.) Freilich relativiert die gegenwärtige Genetik diesen 'experimentellen Nachweis' drastisch. Denn 43 % des Genoms bestehen aus kreativen Modulen im Dienst der aktiven Konstruktion und Kontrolle von Genen, wobei sog. Mikro-RNS-Sequenzen  von den Zellen selbst hergestellt und anschließend aktiv in das Genom des Zellkerns eingefügt werden können (= sog. reverse, umgekehrte Transkription). Das bedeutet aber, dass erworbene, epigenetische Eigenschaften und Fähigkeiten doch u.U. vererbbar sind (vgl. Bauer: Das kooperative Gen, 2008, 40—45, 81—99, 112—119 sowie in Folge).

Weismann integrierte darüber hinaus die neuen Disziplinen der Zellforschung (Cytologie) mit Entdeckung der Keimzellen sowie der Genetik mit der Entdeckung der genetischen Rekombination als Variationsquelle (Durchmischung männlicher [väterlicher] und weiblicher [mütterlicher] Erbanlagen). Der Begriff Neodarwinismus wurde erstmals 1894 geprägt.

J. HuxleyAuf den Neodarwinismus folgte die Synthetische Evolutionstheorie [1930/40er Jahre]: Hauptvertreter sind Th. Dobshanski (1900—1975), E. Mayr (1904—2005), J. Huxley (1887—1975, Foto rechts). Oft werden die beiden Begriffe auch bedeutungsgleich gebraucht, in dem Sinn, dass die Synthetische Evolutionstheorie als Neodarwinismus i.w.S. bezeichnet wird. Grundannahmen sind: Evolutionseinheit ist die Population. Entwicklung bezieht sich auf die Gentotalität (Genpool) einer Population. Die Gentotalität umfasst die Gene + Allele + Mutationen + Gentransfer + Rekombination + Selektion + Aufspaltung (Separation + Isolation + Gendrift mit Gründerindividuen). Die synthetische Evolutionstheorie ist bis heute die vorherrschende Lehrmeinung — unbeschadet der in Folge genannten Ergänzungen und Alternativen.

Die Grundannahme von der Population als evolutiver Einheit wurde von Richard Dawkins in seinem Buch Das egoistische Gen 1976 in Frage gestellt. In der Folge hatte sich weithin seine Auffassung des Gens als evolutiver Einheit durchgesetzt. Gegenwärtig findet wieder ein gegenläufiges Umdenken statt. Dawkins wurde durch ein zweites Konzept bekannt, das Mem als Replikationseinheit der kulturellen Evolution — in hypothetischer Analogie zum Gen als Replikationseinheit der biologischen Evolution. Beispiele für Meme sind nach Dawkins: „Ideen, Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen“. Meme vermehren sich im Mempool, „indem sie von Gehirn zu Gehirn springen durch einen Prozeß, den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann“ und unterliegen ebenso wie Gene Mutation und Selektion. Dawkins selbst wollte allerdings nur die universelle Reichweite der Darwinschen Evolutionstheorie zeigen, insofern Gene nicht die einzigen Replikatoren sind. Dawkins sieht das Mem-Konzept selbst eher metaphorisch und hypothetisch. Trotzdem bildete sich die Forschungsrichtung der Memetik, die Meme als tatsächliche Replikationseinheiten der kulturellen Evolution versteht. Überhaupt ist die darwinistische Behandlung von sozialem, altruistischem Verhalten (Ethik) und Transzendenz (Religion) ein gegenwärtiger Schwerpunkt nicht nur in der Soziobiologie geworden. Auch hier ist Dawkins durch sein kämpferisches Plädoyer für den Atheismus The God Delusion (2006) einer der bekanntesten Exponenten. Umfassender und differenzierter ist David S. Wilson mit Darwin's Cathedral — Evolution, Religion, and the Nature of Society (2002) und (zusammen mit Elliott Sober) Unto Others — The Evolution and Psychology of Unselfish Behavior (1999).

Eine deutschsprachige Standarddarstellung zu letztgenanntem Schwerpunkt ist die Soziobiologie von F. Wuketits (Heidelberg/Berlin/Oxford 1996), welche auch für die Kritik von Dawkins These von Genen als evolutiven Einheiten wichtig ist (114—129). Wuketits geht von Kampf / Aggression und Kooperation / Altruismus als zwei komplementären, synergistischen Prinzipien der sozialen Intelligenz und des sozialen Lebens aller Spezies aus. Wahres Eigeninteresse und ausgeprägte Hilfsbereitschaft sind bikonditional: "Der wahre Egoist kooperiert" (1996, 76) wie auch kämpferische Aggression notwendig ist zur Führung und zum Schutz Schwächerer. Rousseaus Theorie eines pazifistischen natürlichen Urzustandes ist falsch (144, 147, 150). Wuketits nennt dies den reziproken Altruismus, der "die soziale Evolution der Hominiden in entscheidender Weise" (150) geprägt hat und "eine der größten Errungenschaften" war (180). Dieser ist soziobiologisch ursprünglich auf die Kleingruppe ausgerichtet (Ethnozentrismus) und mit Abgrenzung Außenstehender (Xenophobie) verbunden (96—100, 152—159). Das heißt: "Wir dürfen davon ausgehen, dass Moral einen Selektionsvorteil hat" (180) wie auch die Zehn Gebote den Daten der Soziobiologie entsprechen (172—173). Im Fazit: "Die vielleicht wichtigste von den Soziobiologen vermittelte Einsicht ist, dass Kultur [und moralische Normen] als spezifischer Ausdruck unserer [biologischen] Natur betrachtet werden kann" (196). Wuketits ist auch einer der ersten, die den derzeitigen evolutionsbiologischen Forschungsschwerpunkt 'Religion' angebahnt haben: "Die Existenz von Religion [ist] die größte Herausforderung für die Human-Soziobiologie ... wie auch umgekehrt" (174).

Punktualismus

Eine weitere inzwischen sehr einflussreiche Position ist der Punktualismus oder im Englischen meist die Theorie des Punctuated Equilibrium. Der bekannteste Vordenker war neben Niles Eldridge wahrscheinlich Stephen Jay Gould. Ausgangspunkt ist hier die für Evolutionstheoretiker unerwartete und überraschende Tatsache, dass es keine fossilen Übergangsformen zwischen den Arten und Gattungen usw. gibt, wie von Darwins Theorie borausgesetzt. Steven M. Stanley, Autor des angelsächsischen Standardlehrbuches zur Historischen Geologie Earth System History hat das einmal kategorisch so formuliert, dass der kontinuierliche graduelle Artenwandel des klassischen (Neo)Darwinismus einfach nicht existiert, weil man in der gesamten Erdgeschichte keine einzige Übergangsform gefunden hat.

Der Punktualismus beschreibt die stratigraphische bzw. paläontologische Situation so, dass neue Arten aufgrund neuer Umweltbedingugen o.a. plötzlich entstehen und sich dann für die gesamte Dauer ihrer Existenz praktisch nicht mehr verändern. Diese Stabilität der Form nennt er Stasis. Die Artenabfolge und Evolution überhaupt ist also diskontinuierlich statt stetig. Für die Möglichkeit plötzlicher Entstehung kompletter neuer Arten verweist man besonders auf Mutationen von Regulatorgenen. Wenn regulatorische Bereiche der DNS betroffen sind, dann können große phänotypische Auswirkungen erfolgen (überzählige oder fehlangeschlossene komplexe Gestaltmuster wie Glieder und Organe). Dies betrifft insbesondere die sog. genetischen Schalter für das An- und Abschalten von Makrostrukturen (Homeoboxgene). Diese sind oft in sog. Homeoboxen gebündelt und entsprechen in der Informatik dem Aufrufen eines Computerprogramms, nicht dem Programmieren desselben. Letztlich ist das, wie Kritiker zurecht einwenden, natürlich eine petitio principii. Man setzt stillschweigend voraus, was man erklären will. Denn Programme alias Makrostrukturen können nur aufgerufen bzw. aktiviert werden, wenn sie bereits vorhanden sind. Das Aktivieren kompletter falscher Programme ist zudem normalerweise der evolutive GAU. In schweren Fällen resultiert der bereits vorgeburtliche Abortus oder das nachgeburtliche Todesurteil.

Neutrale Theorie der molekularen Evolution

Der japanische Biologe Motoo Kimura (1924—1994), der führende Evolutionsgenetiker und große alte Mann der Populationsgenetik nach dem Zweiten Weltkrieg, ist Urheber der sog. Neutralen Theorie der molekularen Evolution. Das Grundbuch der Theorie ist Motoo Kimura: The Neutral Theory of Molecular Evolution, Cambridge 1983. Die in der Evolutionsbiologie anerkannte und ernsthaft diskutierte Theorie geht von dem Befund aus, dass die meisten Mutationen neutral sind in dem Sinne, dass sie keinen Angriffspunkt für die natürliche Auslese bieten. Der Akzent liegt also auf den Auswirkungen der Mutationen für die Tauglichkeit. Kimuras Schüler modifizierten die Theorie später, da sich immer stärker zeigte, dass Mutationen für das Lebewesen keinesfalls neutral oder harmlos sind, sondern nahezu alle Mutationen für den Organismus schädlich sind, und wenige relativ vorteilhaft, auch wenn sich das meist in einem unauffälligen Spektrum bewegt.

Kimura ersetzt die darwinistische natürliche Auslese daher durch die zufällige Gendrift oder genetische Drift, d.h. zufällige Veränderungen der Genfrequenz im Gesamtgenbestand einer Population. Genfrequenz oder Allelfrequenz meint die relative Häufigkeit der Kopien eines Allels (Ausprägung eines Gens) in einer Population. Die Genfrequenz beschreibt m.a.W. die genetische Vielfalt einer Population. Solche Veränderungen wirken sich naturgemäß in kleineren Populationen stärker aus und Kimura sieht hier einen bedeutenden Faktor der Evolution von Gründerpopulationen und mittelbar damit auch für die Artbildung.

Die Neutrale Theorie vertritt insofern keine globale Theorie der Evolution, als sie keine Erklärung der Zunahme von Komplexität und von Anpassungen bietet, sondern der Schwerpunkt auf der Falsifikation der neodarwinistischen Mechanismen der Evolution (Mutation und Selektion) liegt. Es ist daher nicht überraschend, dass Ernst Mayr, der große alte Mann der neodarwinistischen  Synthese der Evolutionsbiologie, als Gegner der Neutralen Theorie par excellence in Erscheinung getreten ist.

Der Schüler Kimuras, Tomoko Ohta, differenzierte die Theorie weiter zur Nearly-Neutral Theory der Evolution. Grundlegend ist Ohta, T.: Slightly Deleterious Mutant Substitutions in Evolution. In: Nature 246, 11.09.1973, 96—98. Nearly neutral besagt, dass die meisten Mutationsereignisse auf dem molekularen Niveau nicht strikt neutral, sondern leicht negativ sind sowie einige wenige positiv. In einem begrenzten Umfang sagt diese Theorie daher auch einen Zusammenhang zwischen der Populationsgröße und der Rate der molekularen Evolution voraus: In großen Populationen wirkt die Gendrift, welche sogar leicht negative Mutationen fixieren kann, schwächer als in kleinen Populationen, so dass in großen Populationen evolutionäres Geschehen langsamer verläuft.

Konstruktivistische Evolutionstheorie

In der Konstruktivistischen oder auch Konstruktionistischen Evolutionstheorie [Mitte / Ende 20. Jh.] liegt der Schwerpunkt auf den epigenetischen selbstorganisatorischen Prozessen. Der Ansatz wird intuitiv plausibel durch den empirischen Sachverhalt der „Neotenie, d.h. das lange Verbleiben des Individuums in einem noch unfertigen jugendlichen Zustand [...] Neuroepistemologisch bedeutet das, daß in bezug auf die individuelle Entwicklung des Individuums der Ontogenese viel mehr überantwortet ist als der  Phylogenese.“ (Oeser/Seitelberger: Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis, Darmstadt 1988, 40)

Methodische Ausgangspunkte des Konstruktivismus sind sodann die folgenden Disziplinen. Einmal die konstruktivistische Schule der Entwicklungspsychologie. Ein erster ausdrücklicher Ausgangspunkt sind hier die Arbeiten Jean Piagets zu Prozessen und Stufen kognitiver Entwicklung: genetische Erkenntnistheorie. Das kognitive Apriori des Menschen, v.a. die logisch-mathematischen Strukturen sind durch die evolutionäre Erkenntnistheorie nicht zu erklären: „Ihre Notwendigkeit ist vielmehr das Ergebnis einer allmählichen Konstruktion“ (Piaget: Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, Frankfurt/M. 1974, 323). Ein starkes Argument zugunsten des Konstruktivismus ist in diesem Zusammenhang auch der immer stärker in den Mittelpunkt der anthropologischen, paläontologischen und frühgeschichtlichen Forschung rückende plötzliche kulturelle Urknall um 40000 v. Chr. konventioneller Datierung (vgl. Tattersall: Wir waren nicht die Einzigen. Warum von allen Menschen nur der Homo sapiens überlebte. In: Spektrum der Wissenschaft. Dossier: Die Evolution des Menschen, 3/2000, 40—47). Dies bedeutet die Ablösung einer biologischen Evolution durch eine bewusste kulturelle Evolution mit Schwerpunkt auf der vor- und nachgeburtlichen Ontogenese.

Ein zweiter Ausgangspunkt ist die biologische Epistemologie in der Form des von Maturana und Varela entwickelten Begriffs autopoietischer, energetisch offener und funktional, informationell geschlossener Systeme: Wahrnehmung und Kognition wird definiert als selbstreferentielles neuronales Subsystem auf den biologischen Vorstufen der Selbstorganisation und Selbsterhaltung. Vgl. Maturana: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit: Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, 2. Aufl. Braunschweig 1985 und Kaspar: Lorenz’ Lehre vom Aposteriorischen im Lichte gegenwärtiger Naturwissenschaft. In: Lütterfelds, W. (Hrsg.) Transzendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie?, Darmstadt 1987, 64—80. Diese „operationale Geschlossenheit lebender Systeme“ ist „das Organisationsprinzip, das Kognition zu einem konstruktiven Prozeß macht.“ (von Förster et al.: Einführung in den Konstruktivismus, 2. Aufl. München/Zürich 1995, 116)

Ein dritter Ausgangspunkt ist die Kognitionswissenschaft: Kognitionswissenschaftlich stützt sich der Konstruktivismus auf die Theorie nichttrivialer Systeme, deren Ursache [Reiz]-Wirkungs [Reaktions]-Funktion von einer Zustandsfunktion abhängt, d.h., dass alle Reiz-Reaktions-Operationen von den inneren Zuständen abhängig sind und diese selbst wieder von vorangegangenen Operationen beeinflusst werden.

H. v. Förster [H. v. Förster Gesellschaft]Die Theorie selbstreferentieller Systeme sieht als leitendes Prinzip der ontogenetischen wie phylogenetischen Evolution die Eigendynamik der vorhandenen Struktur: Kognitive Systeme wie auch biologische und soziale Systeme bilden ihre Strukturen nicht erststellig wegen des Kampfes ums Dasein aus, um die Informationen aus der Umwelt sinnvoll zu verarbeiten, oder umweltbeeinflussende Informationen abzugeben, sondern leitendes Prinzip der ontogenetischen wie phylogenetischen Evolution ist die Eigendynamik des vorhandenen Strukturmaterials, das sich eigengesetzlich immer weiter differenziert, ausfaltet und komplexer wird. Die Umwelt ist also nur notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Systembildung, und Erkenntnis ist Hervorbringung einer praxisdienlichen, instrumentellen Umweltrepräsentation (vgl. hierzu Hedrich: Die materialen Randbedingungen epistemischer Leistungen. In: Philosophia naturalis 36, 1999, 237—262). [Foto links: Heinz von Förster, 1911—2002, österreichischer Biophysiker, Mitbegründer der Kybernetik in Deutschland und ab 1948 in den USA, 1958—75 Direktor des Biological Computer Laboratory in Illinois]

Neurophysiologisches Hauptargument des Konstruktivismus ist das Prinzip der undifferenzierten Kodierung. Dieses Prinzip besagt: „Die Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Intensität, aber nicht die Natur der Erregungsursache. Codiert wird nur: ‘Soundsoviel an dieser Stelle meines Körpers’, aber nicht ‘Was’.“ (Von Foerster et al. 1995, 58) Die qualitative sensorische Differenzierung der Erlebniswelt wird als durch die motorische Aktivität und kognitive Interpretation des Organismus realisiert gedacht. Dies ist die Antwort des Konstruktivismus auf die Frage nach der bewusst erlebten Qualität der Wahrnehmungen, d.h. nach den subjektiven, intrinsischen Empfindungen oder intrinsischen phänomenalen Qualitäten (qualia) und intentionalen Bedeutungen (meanings) von kognitiven Konstrukten. Dies erklärt freilich das Fakt der intrinsischen phänomenologischen Qualitäten (qualia) und intentionalen Bedeutungen (meanings) genausowenig wie die evolutionäre Erkenntnistheorie, sondern formalisiert es lediglich und benennt notwendige, aber keine zureichenden Bedingungen. Vgl. dazu Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (übers. u. hrsg. v. E. Cassirer), 4. Aufl. Hamburg 1972, 446, 458; Kripke: Identity and Necessity. In: Schwartz, S. P. (ed.) Naming, Necessity and Natural Kinds, Ithaca and London 1977, 66—101; Searle: The Rediscovery of the Mind, Cambridge/Mass. 1992 [Dt: Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt 1993] und ders: Mind, Oxford 2004; Pohlenz: Phänomenale Realität und Erkenntnis: Umrisse einer Theorie im Ausgang von der eigentümlichen Natur des Qualia-Begriffs, Freiburg 1990 und: Die Qualia als systematischer Kern eines metaphysischen Weltaspektes. Eine Anknüpfung an Husserls Lebenswelt-Konzept. In: Philosoph. Jahrbuch 106, 1999, 100—122; Sturgeon: The Epistemic View of Subjectivity. In: The Journal of Philosophy 91, 1994, 221—235. Selbst härteste Reduktionisten wie Churchland räumen daher faktisch die irreduzible kognitive Eigenständigkeit prälinguistischer qualia (A Neurocomputational Perspective. The Nature of Mind and the Structure of Science, Cambridge (Mass.)/London (Engl.) 1992, 47—76, bes. 62—63) und linguistischer meanings (Churchland ebd. 1992, 23—46, bes. 39—44) ein.

Der Erfolg der mentalen Repräsentationen als viable Realitätskonstrukte wird im Konstruktivismus an der topologischen Struktur der Gehirns festgemacht, das Wahrnehmungshandlungen „in den ihnen phylogenetisch zugeordneten und stabilisierten Umweltbereichen“ lokalisiert (von Foerster et al. 1995, 119). Dies ist die instrumentelle Viabilität oder adaptive Passung oder Kompatibilität statt epistemischer Korrespondenz oder Isomorphie zwischen inneren Wahrnehmungen und Umwelt: Wahrnehmung ist koordinierende und wiederholende, organisierende Aktivität im Dienst des (Über-)Lebens und das Objekt ist die Folge, das Konstrukt dieses Handelns (vgl. von Foerster et al. 1995, 30—31, und 18—31). Aus der Ablehnung einer realistischen bzw. objektivistischen Interpretation der Theoriehaltigkeit der Erfahrung folgt für den Konstruktivismus nicht generell, dass die Naturwelt chaotisch organisiert ist. Aus der Tatsache, dass Menschen zu Bildung von prognosefähigen deskriptiven und kausalanalytischen Theorien in der Lage sind, die in realen Wechselwirkungen zwischen systemischen Sensoren und der Realität gründen, folgen transzendentallogisch zu erfragende Inhalte, die eine ontologische Bedeutung haben können. Der Ansatz lässt sich eher und allgemeingültiger als negative Epistemologie — in Analogie zur negativen Theologie — beschreiben, mit provokativer Akzentuierung des Unterschiedes zwischen direktem Erkennen als Wahrnehmen, symbolisch-operationalem Denken und weder erkennendem noch denkendem Erschließen.

Auch wurde die ursprüngliche konstruktivistische Ächtung des Informationsbegriffs und des kognitiven Funktionalismus mit dessen Grundbegriffen Information und Repräsentation kritisiert (vgl. Oeser / Seitelberger a.a.O. 1988, 47). Roth (Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt/M. 1994), gegenwärtig einer der wichtigsten europäischen Denker des Konstruktivismus, modifiziert Maturanas pauschale Gleichung: Leben ist Erkennen, und trennt Autopoiose (= Selbstorganisation und Selbsterhaltung) von Kognition (= Selbstreferentialität, welche vereinbar ist mit dem Informationsbegriff und kognitivem Funktionalismus). Im Gegenteil tendiert die biologische Grundlagenforschung heute zur Logifizierung des Lebens bzw. der Selbstorganisation (vgl. Fontana: Molekulare Semantik. Evolution zwischen Variation und Konstruktion. In: Braitenberg, V./Hosp, I. (Hrsg.) Evolution, Reinbek bei Hamburg 1994, 69—106).

Biosemiotik und / oder Evo-Devo-Paradigma

Evo-Devo-Revolution

Massive Unterstützung und Bestätigung erfährt der konstruktivistische Ansatz durch das seit der Jahrtausendwende explosionsartig gewachsene Wissen um Bau und Arbeitsweise der Gene und des Genoms (Human Genome Project u.a.). Man nennt den daraus resultierenden Forschungsansatz die Evo-Devo-Revolution. Das Kürzel 'Evo-Devo' steht für Evolution-Development bzw. für evolutionary-developmental. Es meint die Komplementarität von Evolutionsbiologie und Entwicklungsbiologie mit dem Primat der Entwicklungsbiologie für ein angemessenes Verstehen von Evolution. Erkenntnisleitend ist hier die im Genom und in der Ontogenese (vor- und nachgeburtliche Individualentwicklung) ablesbare Selbstorganisation. Auch die Beobachtungen des Punktualismus werden integriert. Joachim Bauer (Universität Freiburg / Breisgau), bekannter Genforscher und Psychiater, hat die einschlägige Forschungsliteratur und ihre Ergebnisse in Das kooperative Gen, Hamburg 2008, zusammengefasst.

Vielleicht ist der beste Einstieg in Bauers Darstellung die zentrale Einsicht des Kognitionswissenschaftlers Daniel Dennett, dass das Leben und die Organismen und schon die physikalisch-chemische Natur aus objektiver Intelligenz bestehen. Höhere biochemische Maschinen oder Lebensformen sind intelligente Systeme (wie Organismen) oder Subsysteme (wie das Stoffwechsel- und Immunsystem). Sie sind „Systeme, die von Informationen gelenkt werden und nach Zielen streben“ (Dennett: Spielarten des Geistes, München 2001, 40). Lebensformen sind mithin Akteure, die Dennett intentionale [zweckgerichtete] Systeme nennt. Als solche benötigen sie Repräsentationen der intentionalen äußeren Zielobjekte sowie der inneren Antriebsmotive. Repräsentationen bestehen aber aus semiotischen Zeichensystemen und den darin kodierten Bedeutungen (intensionalen Gehalten), Überzeugungen und Wünschen.

B. McClintock [WikiCommons]Bauers Überblick zur genetischen Grundlagenforschung zeigt nun, dass — in einem Wort — in der Genetik dasselbe gilt: "Gene bzw. Genome folgen drei biologischen Grundprinzipien ...: Kooperativität, Kommunikation und Kreativität [...] Den Anfang des Lebens markiert ... das Prinzip der Kommunikation, das heißt des Erkennens und der Übermittlung von Information." (2008, 17, 33) Die Pionierin der Genforschung Barbara McClintock prägte daher das Wort: "The genome is a higly sensitive organ" und ihr jüngerer Kollege James Shapiro nennt die DNS ein "communication molecule", wodurch Zellen zu "cognitve entities", kognitiven Trägersubjekten, werden (vgl. Bauer 2008, 89). [Foto rechts: Barbara McClintock, 1902—1992, Nobelpreis 1983 für die Entdeckung der Transposone resp. springenden Gene]

Und hier, so Bauer, "zeigen sich die Unzulänglichkeiten der darwinistischen Dogmen. Zufällige Variation (des biologischen Substrats) und Selektion ... sind nicht einmal ansatzweise hinreichende Voraussetzungen für eine Erklärung der Kommunikationsphänomene und der Zuwächse an Komplexität [...] Wir sollten ... beginnen, unser Denken über das, was ist, an die beobachtbaren Realitäten anzupassen, und uns von den Scheuklappen des Darwinismus zu befreien." (2008, 47—48)

Evolutionsbiologischer Paradigmenwechsel

Die gegenwärtige systemisch-informationelle Weiterführung der konstruktivistischen Theorie der Entwicklung des Lebens ist sich bewusst, dass sie in Konkurrenz zum darwinistischen Ansatz steht und folgerichtig einen evolutionsbiologischen Paradigmenwechsel fordern muss: "Das darwinistische Universaldogma, bei jedem noch so erstaunlichen biologischen Phänomen handle es sich um die Folge einer zufälligen Variation, die dann evolutionär selektiert worden sei, bietet keine rationale Erklärung. Der Glaube an den Zufall [...der] als Säulenheiliger der Gemeinde waltet und schaltet, die sich dem Darwinismus verschrieben hat", besteche allenfalls durch "Schlichtheit". Insbesondere "mehrzellige Lebewesen benötigen ... einen Körperbauplan" und damit "ein koordiniertes genetisches Programm, das zum einen Teilungsprozesse steuert, zum anderen für die orts- und zeitgerechte Synthese von Proteinen sorgt, die Zellen aneinander binden [...] Organismen mit einem definierten Körperbau benötigen ... zusätzlich einen inneren Bauplan, der nach einem zeitlich und räumlich geordneten Verfahren für eine Spezialisierung unterschiedlicher Zellen an unterschiedlichen Orten des Körpers sorgt und zugleich die Wachstumsprozesse begrenzt, sobald die jeweilige Zielgröße eines Gewebes erreicht ist" (2008, 59—60).

Die Genetik bringt in der Tat erdrückendes Material herbei, das diese neue Sicht stützt. So bestehen nur 1, 2 % des menschlichen Erbgutes aus klassischen Genen, aber 43 % des Genoms bestehen aus kreativen Modulen im Dienst der binnen- und zwischenzellulären Wahrnehmung, Kommunikation und kreativen, aktiven (autopoietischen) Konstruktion, aber auch Kontrolle und Überwachung. Bauer nennt sie Transpositionselemente (v.a. sog. Mikro-RNS aus der genetischen Gattung der sog. Repeat-Sequenzen). Diese können von den Zellen selbst hergestellt und anschließend aktiv in das Genom des Zellkerns eingefügt werden = sog. reverse, umgekehrte Transkription! (vgl. Bauer 2008, 40—45, 91—99, 112—119)

"Die Analyse zahlreicher Genome zeigt: Was neue Arten entstehen ließ, waren vom Genom selbst ausgehende Umbauprozesse innerhalb der genomischen Architektur, die sich gemäß inhärenten (im Genom selbst verankerten) Prinzipien abspielten. Genomische Umbauprozesse, die der Evolution zugrunde liegen, sind ... nicht völlig zufällig, sondern folgen biologischen Regeln [...] Ein erstes Prinzip der Evolution der Gene betrifft die aktiv bewahrte Stabilität [...] Stabilität von Genen über Dutzende, ja Hunderte von Millionen Jahren widerspricht dem darwinistischen Dogma kontinuierlicher — noch dazu dem Zufallsprinzip unterworfener — Mutationen des Genoms. Gleiches gilt für die sich über Millionen von Jahren ... erstreckende erstaunliche Stabilität lebender Arten, ein als Stasis oder Robustheit bezeichnetes Phänomen [...] Ein zweites, für die Entwicklung neuer Arten zentrales und entscheidendes Evolutionsprinzip ist Duplikation, Ortswechsel und Rekombination von Genen. Auch dieser Prozess ist — entgegen dem darwinistischen Dogma — alles andere als ungerichtet bzw. dem reinen Zufall unterlassen, vielmehr wird er vom Genom selbst organisiert." (2008, 72, 81) Auslöser scheinen meist umweltbedingte Stressoren zu sein, worauf "Genome ... reagieren, indem sie ihre Architektur nach eigenen inneren Gesetzen modifizieren." (2008, 108)

Natural Genomic Engineering (NGE) und Systembiologie

Der hier in Rede stehende Ansatz der Biologie wird im Englischen von James Shapiro Natural Genomic [Genetic] Engineering (NGE) genannt, also Natürliche Gentechnologie. Manchmal verwendet er auch den Begriff Biologische Systemtechnik oder System-Biologie (Systems Biology). Es ist sehr naheliegend und an sich treffend, das im Deutschen mit 'Systemische Biologie' oder 'Systembiologie' wiederzugeben. Bedauerlicherweise ist das aus terminologischen Gründen nicht uneingeschränkt ratsam. Auch im Englischen sollte man vorsichtig sein. Denn die Bezeichnung 'Systembiologie' geht auf eine junge und auch unter Biologen, selbst Systembiologen, noch nicht sehr klar definierte Disziplin. Rainer Breitling, Systembiologe der Universität Manchester: "Ask two systems biologists for the definition of their discipline, and you will get three answers."

Das Evo-Devo-Paradigma bzw. NGE überschneidet sich nun zwar sachlich weitgehend mit der systems biology: Beide Male geht es um ganzheitliches Verstehen der Struktur und Interaktion von Biomolekülen / Genen / Enzymen / Zellen / Organen / Organismen / Ökosystemen unter Echtzeitbedingungen. Doch in zweifacher Hinsicht bestehen Unterschiede. Einmal methodisch: Sehr vergröbert gesagt setzt die Systembiologie auf die quantifizierende Mathematisierung und Computersimulation, während die Systems Biology im Sinne von Natural Genetic Engineering das zwar genauso stark tut, aber darüber die qualitative Evaluation der zielgerichteten biologischen Informationsverarbeitung, Kommunikation und Teleologie legt.

Auch die Philosophie ist eine andere: Die Systembiologie scheint stark einer materialistisch-deterministischen Sicht verpflichtet, die Lebensformen als hochkomplexe Maschinen sieht und ihre Arbeit als Grundlagenforschung für die Synthetische Biologie alias Biotechnologie. Und das ist zwar nicht das Gegenteil dessen, was Shapiro mit Natural Genetic Engineering meint, aber der Ton und Zungenschlag sind deutlich anders.

Dass die Grenzen und Selbstverständnisse in der Biologie auch ansonsten sehr fließend und verwirrend sein können, zeigt Daniel Dennett, der wohl bekannteste Vertreter der Maschinen- oder Roboterphilosophie des Lebens. Da Dennett andererseits prominenterweise Lebensformen als intentionale zweckgerichtete semiotische Systeme fasst, könnte bzw. kann man ihn auch als Kronzeugen von Evo-Devo oder NGE aufrufen (s.o.). Führende Biologen betrachten ihn daher als überschwänglichen und widersprüchlichen Wissenschaftspoeten.

Biosemiotik

Nun gibt es aber eine aktuelle Schule, die sich sehr weitgehend mit der Systems Biology im Sinne von Natural Genomic Engineering deckt: die Biosemiotik. Wir verwenden daher in Folge diesen Begriff, zumal diese Disziplin wesentlich in Deutschland entwickelt wurde. So ist bzw. war maßgeblicher Vordenker der Biosemiotik der berühmte Mitbegründer der Theoretischen Biologe Jakob von Uexküll (1864—1944) und sein Sohn Thure von Uexküll (1908—2004). Beide sind auch Vordenker des Konstruktivismus, sodass die angesprochene Kontinuität zur und Herkunft aus der konstruktivistischen Evolutionstheorie unübersehbar ins Relief tritt. Siehe auch in Folge. Von 1990 an haben ferner der Vordenker der Semiotik Thomas A. Sebeok (Indiana University, 1920—2001) und Jesper Hoffmeier (Kopenhagen, 1942—2019) die Biosemiotik entscheidend geformt.

Seit der Jahrtausendwende ist die Biosemiotik ein sich weltweit dynamisch entfaltendes Forschungsparadigma, wobei heute die nordeuropäische Copenhagen-Tartu-School federführend ist. Seit 2001 bestehen jährliche Kongresse unter dem Titel Gatherings in Biosemiotics. Im Jahre 2005 wurde die International Society for Biosemiotic Studies gegründet. Und seit 2008 erscheint die Fachzeitschrift Biosemiotics inkl. einer gleichnamigen Buchreihe. Wissenschaftshistorisch ist interessant, dass die traditionsreiche, im 19. Jh. deutschsprachige Universität Dorpat = Tartu in Estland, damit zum dritten Mal Schrittmacher der Entwicklungsbiologie ist. Einmal durch den Dorpater Professor und Begründer der Entwicklungsbiologie (Embryologie) Karl Ernst v. Baer (1792—1876), den viele für den bedeutendsten Biologen des 19. Jh. halten. Sodann durch den ebenfalls von Dorpat herkommenden Mitbegründer der Theoretischen Biologe, Ökobiologie und Biosemiotik Jakob von Uexküll (1864—1944). Schließlich und drittens durch das aktuelle biosemiotische Kompetenzzentrum in Tartu. 

Für die Sachdiskussion ist dabei Folgendes grundlegend: Die Biosemiotik oder NGE oder das Evo-Devo-Paradigma ist inbesondere eine Erklärung des in der synthetischen Theorie ungelösten Kernproblems der Synorganisation: Schrittweise genotypische Kopplung (genetische Speicherung, Genverschaltung) phänotypischer Merkmalskomplexe in einem hierarchisch aufgebauten Steuer- und Regulationssystem des Organismus und Genoms.

Der genetische / epigenetische Konstruktivismus beansprucht also, zum ersten Mal eine sehr weitgehende Erklärung der Komplexität der Lebensformen zu bieten: "Die erst in den letzten Jahren gelungene Aufdeckung dieses kreativen evolutionären Potentials lebender Systeme macht jetzt erstmals verständlich, wie und warum die Evolution von einem Komplexitätszuwachs lebender Organismen begleitet war und ist. Mittels der (neo)darwinistischen Prinzipien der Evolution, nämlich Zufallsmutationen und natürliche Auslese, ließ sich das Phänomen des Komplexitätszuwachses nie erklären. Die Annahme, Zufallsmutationen hätten aus einem einzelligen Lebewesen einen vielzelligen, vermehrungsfähigen Organismus mit Körperbauplan entstehen lassen, gleicht der Erwartung, es bilde sich — nach dem Zufallsprinzip — schließlich ein Wolkenkratzer, wenn man die dazu nötigen Komponenten nur oft genug auf einen Haufen schütte." (Bauer 2008, 125—126)

Erweiterte Synthese

Es überrascht daher nicht, dass es auch im Hauptstrom der Synthetischen Evolutionstheorie heute eine breite Front von Forschern gibt, die eine Erweiterung oder Fortschreibung der Synthetischen Evolutionstheorie fordern, in Richtung einer sog. Erweiterten Synthese. Gemeint ist damit die Integration der modernen ontogenetischen Entwicklungsbiologie in die traditionelle phylogenetische Evolutionstheorie. Andere, wie Shapiro und Joachim Bauer, gehen noch weiter. Sie halten für problematisch, die neuen Erkenntnisse lediglich als Erweiterung der Synthetischen Evolutionstheorie, also des Neodarwinismus, zu sehen. Denn tatsächlich handele es sich um ein neues Bild von der Biologie, um ein neues Paradigma. Seit 2014 hat sich in dieser Perspektive eine Allianz von ca. 50 Professoren der Biologie gebildet, die sich als Dritter Weg (Third Way) definieren, zwischen Darwinismus und Kreationismus / Intelligent Design, obwohl Letzteres nicht ganz das Anliegen trifft.

Es ist verständlich, dass diese engagierte und folgerichtige Erneuerung des evolutionsbiologischen Konstruktivismus, für welche in Deutschland die Biosemiotik und Joachim Bauer (Freiburg) steht und in den USA der renommierte Molekularbiologe James A. Shapiro (Chikago) sowie Mary-Jane West-Eberhard (Smithsonian Tropical Research Institute), heftige Diskussionen auslöst. Wer diese Diskussionen beobachtet, wird allerdings feststellen, dass das gegnerische Lager der Synthetischen Evolutionstheorie durchaus keine einheitliche Front bietet, sondern v.a. wegen der aus der Genetik kommenden Befunde in sich gespalten ist. So wird Shapiros Grundbuch Evolution: A View from the 21st Century, FT Press Science 2011, von Nobelpreisträgern und sonstigen erstrangigen Experten als bahnbrechende Darstellung des Forschungsstandes — und des sich aus diesem ergebenden neuen systemtechnischen Paradigmas — anerkannt und empfohlen. Dasselbe gilt für West-Eberhards Grundbuch zur Evo-Devo-Synthese: Developmental Plasticity and Evolution, Oxford 2003. An dem monumentalen Werk haben 100 Biologen mitgewirkt und die gesamte empirische Datenbasis sowie alle argumentativen Gesichtspunkte zusammengefasst.

Ein vielgelobter Überblick zu diesem neuen epigenetischen Schwerpunkt in der Biologie ist ferner Nessa Carey: The Epigenetic Revolution: How Modern Biology is Rewriting our Understanding of Genetics, Disease, and Inheritance, New York 2013. Auch die modernen Handbücher zur Entwicklungsbiologie, also zur vorgeburtlichen Ontogenese des Kindes, legen dieses konstruktivistische und epigenetisch ausgerichtete Modell als besonders realitätsdicht zu Grunde; so Jamie A. Davies: Life Unfolding: How the Human Body Creates Itself, Oxford 2015. Siehe dazu mehr im Untermenu Lebenswissenschaften.

Noch einmal zu Shapiro. Dieser ist Materialist, aber durchschnittliche materialistische Evolutionsbiologen tun sich schwer mit dem Paradigma der Biosemiotik oder Erweiterten Synthese, das ihnen zu massiv die Intelligent-design-Perspektive nahezulegen scheint. Umgekehrt kritisieren Intelligent-design-Vertreter Shapiro dafür, dass er zwar die bestehende biologische Systemtechnik auf molekularer, genetischer und zellulärer Ebene glänzend analysiert, aber keine Erklärung für deren ursprüngliches Zustandekommen hat, sondern in diesem besonders entscheidenden Punkt wieder in darwinistische Floskeln zurückfällt.

Shapiro möchte das allerdings so nicht gelten lassen, sondern führt als Grund für seine Zurückhaltung in der Frage nach der Entstehung des Lebens und biologischer Zellen an, dass es in diesem Bereich bisher keine wirklich tragfähige Datenbasis gebe, geschweige denn empirisch prüfbare Theorien zu den Prinzipien des Lebens. Man könne zum Thema des Ursprungs des Lebens, der DNS und der Zellen keine realwissenschaftlich begründeten Aussagen machen, "before science is ready to address it [...] But science is clearly not there yet." (J. Shapiro: Is James Shapiro a Design Theorist? In: Evolution News, 16.01.2012) Und er sei kein Mann für "just-so stories in conventional evolutionary theory" (ebd.).

Etwas anderes seien natürlich philosophisch oder religiös begründete Glaubensüberzeugungen zu dieser Frage, deren Berechtigung und Sinn er nicht in Abrede stelle. Aber er verstehe sich nur und genau als empirischer Naturwissenschaftler, der somit auf dem Boden des methodologischen Naturalismus stehe. Darüber hinaus beanspruche er keine Kompetenz. Wenn man so wolle, sei das ein dritter Weg zwischen Darwinismus und Intelligent design, welche seiner Meinung nach beide empirische Forschung nicht rein für sich betrieben, sondern in Verbindung mit philosophisch/theologischen Überzeugungen.    

Soziobiologischer Paradigmenwechsel

Auch im Blick auf Verhalten, Sozialität, Altruismus und Ethik ist der evolutionsbiologische Konstruktivismus ein Kritiker der darwinistischen Soziobiologie, wie sie z.B. Konrad Lorenz oder aktuell Richard Dawkins mit der Theorie des egoistischen, amoralischen, einzelkämpferischen Gens vertreten. Man sieht in letzterer Soziobiologie einerseits ein Abweichen voJoachim Bauer Netz CC BY SA 4.0n Darwins ursprünglicher Einsicht, dass vitale und Bindungsbedürfnisse, Zuneigung und Gerechtigkeitssinn primäre biologische Bedürfnisse und Einstellungen sind, und Kampf und Aggression sekundäre Reaktionen auf Bedrohungen dieser primären Bedürfnisse. Vgl. auch hier die Übersicht bei Bauer: Das kooperative Gen, 2008, 147—156, 160—170, und ausführlicher ders.: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006 sowie Selbststeuerung, München 2015. Andererseits macht man darauf aufmerksam, dass sich dennoch umgekehrt Charles Darwin ausdrücklich zu Rassismus und Sozialdarwinismus bekannte, einen globalen Existenzkampf zwischen stärkeren und schwächeren Individuen sowie höheren und niederen Rassen um Lebensrecht und Weltherrschaft voraussagte und den Sozialstaat ablehnte (vgl. Darwin: Die Abstammung des Menschen, Paderborn 2005 [1871] und Bauer: Das kooperative Gen 2008, 148—150). [Foto rechts: Joachim Bauer]

Bauers Fazit ist, dass der Darwinismus mehr und mehr von Angst motiviert ist und mit neurotischen Abwehrmechanismen operiert: "Manche, die außerhalb des biologischen Diskurses stehen, werden es mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen: Der Zufall gehört zu den brisantesten Themen der Biologie. Von den Gralshütern des Darwinismus wird er wie eine Reliquie gehegt. Die Motive, die diesem Beharren zugrunde liegen, sind zwar historisch nachvollziehbar, doch [... sie] haben sich mittlerweile nicht nur überlebt, sie sind zu einer dogmatischen Erkenntnisbremse verkommen, die es aufzubrechen gilt [...] Die Angst, der Religion ein neues Einfallstor in die Biologie zu eröffnen ... hat dazu geführt, dass jeder geäußerte Zweifel am evolutionären Zufallsprinzip heute die Gefahr der Exkommunikation aus der wissenschaftlichen Gemeinde nach sich zieht." (2008, 109—110)

Bauers eigener Standpunkt zum Verhältnis Biologie und Religion ist der, dass wir anerkennen sollten, "dass die Biologie ihr letztes Geheimnis wohl niemals lüften wird" (2008, 22), was auch Darwins letzter Standpunkt gewesen sei, der meinte, aufgrund "der extremen Schwierigkeit oder eigentlich Unmöglichkeit, sich vorzustellen, dieses gewaltige, wunderbare Universum einschließlich des Menschen ... sei nur das Ergebnis blinden Zufalls", sollte er sich "wohl einen Theisten nennen". Er sei "jedoch sehr" schwankend und definiere sich als Agnostiker: "Das Mysterium vom Anfang aller Dinge können wir nicht aufklären; und ich jedenfalls muss mich damit zufrieden geben, ein Agnostiker zu bleiben" (Darwin: Mein Leben, Frankfurt 1993 [1887], 97—98).

Zum Informationsbegriff in den Biowissenschaften

Der biologische Konstruktivismus und die Biosemiotik zeigen die nicht zu überschätzende Rolle von Information, Kommunikation und Informationsverarbeitung in den Organismen. Das sollte jedoch nicht vorschnell mit dem Phänomen und Potential der menschlichen Kognition und Sprache parallelisiert oder gar gleichgesetzt werden. Echte Kognition und Sprache ist nicht nur Informationsrepräsentation und -verarbeitung. Biologische Informationsverarbeitung und echte Sprachkompetenz verhalten sich wie programmgesteuerte, automatisierte Produktion einerseits und autonome, kreative Unternehmensführung andererseits, z.B. in einem Automobilunternehmen. Siehe hierzu die Menus zur Kognitionswissenschaft und Philosophie des Geistes.

Der interdisziplinär arbeitende Biochemiker Reinhard Zecher hat diese Differenz von menschlicher Sprachkompetenz und biologischer Informationsverarbeitung für den heutigen Diskussionsstand neuerdings im Detail gezeigt: Die Sprache der Sprache. Untersuchungen zur Klärung des Informations- und Sprachbegriffs, Würzburg 1999. Ein weiteres Beweisziel des Buches ist die Aufklärung darüber, dass auch die binnenbiologische Informationsverabeitung nicht uniform ist, sondern viele Spielarten und Stufen hat. Information ist nicht Information. Biologische Information ist sehr vielschichtig. Zecher macht das deutlich an der molekularbiologischen strukturellen und prozessualen (funktionellen) Information im zellulären Bereich. Ferner an der sich höherstufig darüber lagernden Informationsverarbeitung im Immunsystem, in der Hämatologie (Blutstillung, Blutgerinnung, Blutzuckerspiegel), im Hormonsystem, in der Motorik und den Muskelreflexen, bis zur Sinnesphysiologie und Verhaltensbiologie. Analoges gilt für die weniger untersuchten Informationssysteme in der Botanik: "Diese Ergebnisse zeigen, daß schon auf der molekularen Ebene der Informationsbegriff Heterogeneität aufweist. Deutlich ist auch die Schichtung innerhalb dieser Verschiedenheit zu erkennen und die Tatsache, daß das organische Gefüge sich als eine zusammenhängende, in sich geschlossene Einheit darstellt. Denn die unterschiedlichen Formen molekularbiologischer Information bauen aufeinander auf.“ (1999, 69)

Überhaupt gilt: Was heute nachhinkt, ist nicht die realwissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Lebensvorgänge, sondern die philosophische Analyse einschließlich der begrifflichen Klärung des verwendeten Wortschatzes. In Sachen Information herrscht unter Biologen oft wenig begriffliche Klarheit. Siehe dazu jetzt David Frank: Der Topos der Information in den Lebenswissenschaften. Eine Studie am Beispiel der Biosemiotik und der Synthetischen Biologie [= Gentechnik und Biotechnologie], Wiesbaden 2019. "In den heutigen Biowissenschaften sind der Informationsbegriff und sein verwandtes semantisches Feld omnipräsent […] Häufig handelt es sich jedoch dabei nicht um [fachgerechte wissenschaftliche] theoretische Terme, sondern um alltagssprachliche Begriffe, die je nach Kontext zum Teil in sehr diverser Weise Verwendung finden.“ (2019, 1)

Frank sieht naheliegenderweise v.a. zwei große biologische, aber auch schon naturphilosophische Paradigmen zum Thema biologische Information: Einmal das reduktionistisch-materialistisch-mechanistische Naturverständnis, das auf eine Naturalisierung der Teleologie (Zielursache, Zweckursächlichkeit) hinauswill. Ihr kämpferischster Exponent ist gegenwärtig die Synthetische Biologie. Darunter versteht man die Gentechnik und Biotechnologie. Der Begriff ist wohl zu unterscheiden von der Synthetischen Evolutionsbiologie (s.o.). Ihren unmittelbaren Ahnvater erkennt Frank in Jakob [Jacques] Loeb (1859—1924, Deutschland und USA).

Diesem steht gegenüber das nichtreduktionistische und nichtphysikalistische Paradigma, das in der Teleologie, also im Zweckbegriff, die zentrale biologische Kategorie sieht: Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn ohne den Teleologiebegriff. So das Axiom des Begründers der Entwicklungsbiologie (Embryologie) Karl Ernst v. Baer (1792—1876). Thure von UexkuellDie gegenwärtige Ausarbeitung dieses Paradigmas ist die Biosemiotik resp. die Evo-Devo-Synthese. Frank nennt als deren modernen Pionier Jakob von Uexküll (1864—1944), der auch der Vordenker des Konstruktivismus (s.o.), der Theoretischen Biologie und der Ökobiologie ist; sowie seinen Sohn Thure von Uexküll (1908—2004, Foto links), der ansonsten v.a. als Begründer der psychosomatischen Medizin bekannt ist: „Die synthetische Biologie betrachtet Organismen bzw. Zellen als Maschinen, Fabriken, Sensoren usw. Die Biosemiotik betrachtet Organismen bzw. Zellen als zeichenverarbeitende bzw. kommunizierende Entitäten.“ (2019, 4—5) Die Biosemiotik „hat eine vitalistische, holistische, organizistische oder teleologische Auffassung von Biologie.“ (ebd. 10)