Dr. phil. Paul Natterer

Vorbemerkungen

Schamane [WikiCommons]Die folgende Skizze zur systematischen Analyse der religiösen Erscheinungen (Religionsphänomenologie) und Strukturen (Religionsmorphologie) orientiert sich an dem konzentrierten Überblick von Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2007. Die Seitenverweise beziehen sich auf die Erstauflage Hamburg 1957. Wie erwähnt, ist Eliade (1907—1986, Bukarest, Kalkutta, Paris und Chikago) der führende Religionswissenschaftler zur strukturalistischen und phänomenologischen Analyse der Religion. Eliade absolvierte 1928—1931 ein dreijähriges Postgraduiertenstudium an der Universität Kalkutta in Sanskrit und indischer Philosophie und veröffentlichte nach zweijähriger Feldforschung in Ashrams des Himalayagebietes ein Standardhandbuch zur Yogatechnik und -mystik (dt: Yoga: Unsterblichkeit und Freiheit, Frankfurt a. M. 2004). Auch seine späteren Forschungen zum Schamanismus sind bis heute Standard (dt: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt 2006). Von 1956 bis zu seinem Tod 1986 hielt Eliade die Professur für Religionsgeschichte an der Universität Chikago und war Mitbegründer der Chikago School der Religionswissenschaft, welche das Fach in der zweiten Hälfte des 20. Jh. dominierte. Wer das Thema vertiefen möchte, findet eine ausführliche Darstellung in Eliade: Die Religionen und das Heilige. Elemente einer Religionsgeschichte, Frankfurt a. M. 1998. Darüber hinausgehend bietet unerschöpfliches Material das monumentale Werk, ebenfalls von Eliade: Geschichte der religiösen Ideen [4 Bde., dt: Freiburg / Basel / Wien 2002]. [Foto oben: Sibirischer Schamane am Feuer]

Man hat Eliade schon dafür kritisiert, dass er die ihm eigene große Zusammenschau und Synthese der religiösen Phänomene um den Preis gelegentlicher Übergeneralisierung erkaufe. Diese Einwendung erscheint aus drei Gründen unangemessen: Erstens stützt sich diese Synthese auf bahnbrechende Forschungen und anerkannte Einzelanalysen in zentralen Feldern. Zweitens verdankt sie sich einer ganz seltenen und wohl dokumentierten Vertrautheit mit der gesamten Stoff-Fülle. Drittens ist die verlässliche Konzentration auf die großen Linien gerade das, was Nichtexperten von wirklichen Meistern ihres Faches erwarten. Dazu kommt, dass Eliades persönliches Interesse und Engagement in der Sache einen unmittelbareren Zugang zur Welt der Religion garantiert, als noch so viele distanziert-kalte Information in Enzyklopädien, Datenbanken und Statistiken.

Was bei Eliade nicht sehr ausgeprägt vertreten ist und nicht im Mittelpunkt des Interesses steht, ist Religionskritik. Sein Schwerpunkt und seine Stärke ist die Herausarbeitung allgemeingültiger religiöser Ideen, Symbole und Strukturen an sich — als Analyse der reinen religiösen Vernunft. Man hat dies schon religionswissenschaftlichen Platonismus genannt. Die unterscheidende Bewertung und ethische Kritik von Wahn, Dämonie und Mordlust bestehender religiöser Glaubenssysteme und ihrer Praxis findet sich nur beiläufig, was Eliade den nicht ganz unbegründeten Vorwurf einer zu romantischen Einstellung eingetragen hat. Eliade spricht bevorzugt von der Heiligkeit der Welt und kosmischen Spiritualität (z.B. 1957, 96—101), während der prophetische Theismus und durchaus auch viele sonstige religiöse Schriften und Autoren den komplementären Sachverhalt herausstellen, dass "die ganze Welt unter der Macht des Bösen steht" (1 Johannes 5,19). Und dass die Religionen des Heidentums "nicht Gott opfern, sondern den Dämonen" und "Götzendienst" sind (1 Korinther 10, 14.20).

In dieser Hinsicht bieten Tertullians Apologetikum, die meistgelesene Reportage über die abgründige Verlogenheit und Verkommenheit heidnischer Religion, Augustinus' monumentale Religionsphänomenologie und -kritik Vom Gottesstaat sowie Athanasius' Werk Gegen die Heiden und in der Neuzeit Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft eine Orientierung unter Auswertung der radikalen Religionskritik des prophetischen Theismus. Charakteristisch für Letztere ist das Buch der Weisheit, Kap. 13—15: Die Götterkulte der unterschiedlichen Nationen und Kulturen sind ein "Irrwahn" und das Produkt der Vergöttlichung von verstorbenen Angehörigen oder lebenden Herrschern. Und der "Anfang der Götzenbuhlerei ist ... das Sinnen auf Götzenbilder" (Weisheit 14, 12—21). Der falsche Götterkult wird "zu einer Falle" indem die Menschen so "entweder dem Unglück oder der Tyrannei sich fügten" (14, 21). Er hat im Gefolge "kindermordende Opferfeiern", Mord und Leidzufügung "durch Ehebruch", "Diebstahl und Betrug": "Denn die Verehrung der namenlosen Götzen ist jeden Übels Anfang, Ursache und Ende." (14, 23—27). Das Denken und Fühlen der Anhänger der wuchernden Religionen des Heidentums ist "unvernünftig" und infantil: "armseliger als eines Kleinkindes Seele" (15, 14). Allerdings schwächelt Kants Untersuchung nach der anderen Seite, indem er Religion zu sehr als Vernunftreligion fasst, für welche die positive, geschichtliche, symbolisch-sakramentale Verkörperung zwar auch notwendig ist, aber nicht zum Wesen der Religion gehört. Hier ist Eliade realitätsdichter und erfahrener.

Dass wir trotz o.g. Vorbehalte dem Thema Religionsphänomenologie die Darstellung Eliades zu Grunde legen, hat auch einen eher zufälligen, biographischen Hintergrund. Meine Redaktionsassistentin in der Schriftleitung einer theologischen Zeitschrift in den 1980er Jahren war Dr. Inge Köck, welche auch Eliades Übersetzerin und Lektorin war. Sie hatte seine zentralen Werke Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik sowie Yoga ins Deutsche übersetzt und mit ihm in Paris für das deutschsprachige Publikum vorbereitet. Auch sie hatte Vorbehalte, empfahl mir Eliade aber als einen Altmeister der vergleichenden Religionswissenschaft. Als Schülerin, Assistentin und Koautorin des 1943 hingerichteten Philosophiehistorikers, Psychologen und Volkskundlers Professor Kurt Huber, des Mentors der studentischen NS-Widerstandsbewegung 'Weiße Rose', hielt und halte ich ihr Urteil auch wissenschaftstheoretisch für begründet, zumal das Urheberrecht für das Fach Religionsphänomenologie in der Familie lag. Sie war direkte Nachfahrin Joseph von Görres', eines maßgeblichen Begründers dieses Faches im 19. Jh., v.a. mit Mythengeschichte der asiatischen Welt (1810) und Die christliche Mystik (1836 / 1842).

Das Heilige

Das Heilige als Gegenstand der Religion

Eliade geht von Rudolf Ottos klassischem Werk Das Heilige (1917) aus, das in 20 Sprachen übersetzt wurde und bis heute ununterbrochen aufgelegt wird (Foto rechts: eine Ausgabe von 1979). Gegenstand dieses Werkes ist die religiöse Erfahrung. Diese Erfahrung begegnet im „Gefühl des Schreckens vor dem Heiligen, vor dem mysterium tremendum, vor jener majestas, die von erdrückender Übermacht ist“ und in „der frommen Scheu angesichts des mysterium fascinans. All diese Erfahrungen nennt Rudolf Otto Das HeiligeOtto numinos (von la. Numen = Gottheit), weil sie aus der Offenbarung eines Aspektes der göttlichen Macht herrühren. Das Numinose steht abseits von allem, es ist das 'ganz andere': nichts Menschliches und keine Erscheinung des Weltalls ist ihm vergleichbar. Dem Numinosen gegenüber fühlt der Mensch seine ganze Nichtigkeit, er hat die Empfindung 'nur eine Kreatur' zu sein, oder, wie Abraham ... sagt, 'nichts als Asche und Staub'.“ (Eliade a.a.O. 1957, 7)

„Der Mensch erhält Kenntnis vom Heiligen, weil dieses sich manifestiert, weil es sich als etwas vom Profanen völlig Verschiedenes erweist. Diese Manifestation des Heiligen wollen wir hier mit dem Wort Hierophanie (aus griechisch hieros = heilig, und phainomenai = sich zeigen) bezeichnen.“ (8)

Neben Rudolf Otto steht v. a. der französische Soziologe und Religionswissenschaftler Émile Durkheim (1858—1917) Pate für Eliades Bestimmung des Gegenstandes der Religion durch den Begriff des Heiligen mit dem Kontrastbegriff des Profanen. Bei Durkheim ist diese Begriffsbestimmung motiviert durch die Einsicht, dass es auch religiöse Verhaltensweisen und Gruppen ohne göttliche Transzendenz gibt, wie der ursprüngliche Buddhismus. Deren Ziel und Gegenstand lässt sich nicht durch den Begriff des Göttlichen, aber sehr wohl mittels des weiteren und neutralen Begriffs des Heiligen erfassen. Dazu kommt, dass Durkheim, in dem Werk Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912), eine funktionalistische bzw. soziologische Betrachtung der Religion vertritt, indem er als ihr Wesen ihre Funktion zur Stiftung von Zusammenhalt und Identität der Gesellschaft ansetzt. Diese funktionalistische bzw. soziologische Betrachtung erneuert der empirische Anthropologe Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden 51986: Religionsphänomenologie ist sachlogisch auch eine "Philosophie der Institutionen — einschließlich der Frage ihrer Ursprünge und Primärformen." (1986, 9). Eliade selbst vertritt allerdings durchaus einen sog. substantialen Religionsbegriff, der das Wesen von Religion erstrangig durch inhaltliche Merkmale (Gottesidee, Transzendenz, Erlösung ...) bestimmt.

Das Heilige als Realität an sich

„Der Mensch der archaischen Gesellschaften hat das Bestreben, im Heiligen oder sehr nahe bei geweihten Gegenständen zu leben [...] Für alle vormodernen Gesellschaften ist das Heilige soviel wie Kraft und letztlich Realität schlechthin [...] Der Gegensatz heilig – profan erscheint oft als Gegensatz zwischen real und irreal oder pseudoreal.“ (9)

Der reale Raum

Realer Raum: Heiliger Raum und geordneter Kosmos

„Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen. Er weist Brüche und Risse auf; er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. 'Tritt nicht heran', sprach der Herr zu Moses, 'ziehe die Schuhe von den Füßen, denn die Stätte, darauf du stehst, ist heiliges Land' (2 Mose 3, 5). Es gibt also einen heiligen, d.h. 'kraftgeladenen', bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Raumbezirke, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort 'amorph' sind. Diese Inhomogenität des Raumes erlebt der religiöse Mensch als einen Gegensatz zwischen dem heiligen – d.h. dem allein wirklichen, wirklich existierenden Raum – und allem übrigen, was ihn als formlose Weite umgibt [...] Durch die Offenbarung des Heiligen wird ontologisch die Welt gegründet. In dem grenzenlosen homogenen Raum ohne Merkzeichen und Orientierungsmöglichkeit wird durch die Hierophanie ein absoluter 'fester Punkt', ein Zentrum enthüllt.“ (13)

„Deshalb war der religiöse Mensch auch immer bemüht, sich im 'Zentrum der Welt' festzusetzen [denn ...] keine Welt entsteht im 'Chaos' der Homogenität und Relativität des profanen Raums.“ (13) Solche Zentren kann es viele geben, denn es geht dabei nicht um ein äußerliches, physikalisches, geographisches Zentrum, sondern um ideelle Zentren der Realität = des Heiligen.

Ganz besonders gilt für die menschliche Zivilisation: „Die Weihung eines Gebietes [bedeutet] eine Kosmisierung“ (19). Ein Gebiet wird vom fremden chaotischen Raum abgegrenzt und zu einem vom Göttlichen geformten und geordneten Kosmos. So z.B. beim vedischen Landnahmeritual: die Landnahme wird erst rechtskräftig durch die Errichtung eines Feueraltars, der Agni geweiht ist, und der die Verbindung mit der Welt des Göttlichen sichert. Dies vollzieht sich als Vergegenwärtigung der Kosmogonie (Weltschöpfung): „Die Errichtung eines Agni-Altars ist nichts anderes als eine Wiederholung der Schöpfung in mikrokosmischem Maßstab. Das Wasser, mit dem man die Tonerde anrührt, wird dem Urwasser gleichgesetzt; der Ton, der dem Altar als Unterlage dient, stellt die Erde dar ...“ (19) Ein anderes Beispiel: „Als die skandinavischen Siedler von Island Besitz ergriffen (landnáma) und es urbar machten, [war ...] ihr Tun für sie nur die Wiederholung einer urzeitlichen Tat: der Umwandlung des Chaos in Kosmos durch den göttlichen Schöpfungsakt.“ (19)

Das heißt: „Die rituelle Besitzergreifung muß immer und auf jeden Fall die Kosmogonie wiederholen [...] Man macht ein Gebiet nur dann zum 'unsrigen', wenn man es neu 'schafft', also weiht [...] Die enge Beziehung zwischen Kosmisierung und Konsakrierung ist schon auf elementaren Kulturstufen bezeugt, so bei den Australiern“ (19—20).

Yggdrasil [WikiCommons]Mit der Kosmisierung alias Konsakrierung ist die Setzung einer vertikalen Tiefenstruktur gegeben: „Wo eine Hierophanie zur Durchbrechung der Ebenen geführt hat, ist zugleich eine 'Öffnung' nach oben (in die göttliche Welt) oder nach unten (zu den unteren Regionen, der Totenwelt) entstanden. Die drei kosmischen Ebenen — Erde, Himmel und Unterwelt — sind miteinander in Verbindung gesetzt [...] manchmal durch das Bild einer Weltsäule (axis mundi) ausgedrückt, die Himmel und Erde trägt und verbindet“ (22). So bei den Kelten und Germanen. Rudolf von Fulda (um 860) berichtet, dass Irminsul, die von Karl dem Großen zerstörte Weltsäule der Sachsen „die Säule des Universums ist, die gleichsam alles trägt“ und das Zentrum der Welt ist (21). Aber das Bild der Weltsäule findet sich auch bei den Römern (Horaz, Oden III, 3), im alten Indien (Rig Veda I, 105; X, 89, 4), bei Indianern (Kwakiutl in Britisch Kolumbien), oft symbolisiert durch einen heiligen Pfahl oder Berg oder Tempel oder Stadt. [Bild links: Isländische Darstellung der Weltesche Yggdrasil in der germanischen Mythologie. Die Heimat der Menschen in deren Mitte ist Midgard = Mittelerde in Tolkiens Rekonstruktion Herr der Ringe]

Feindliche Infragestellungen und barbarische Attacken auf das kosmisierte, zivilisierte Gebiet sind elementare, dämonische Bedrohungen: „Der Angriff auf 'unsere Welt' bedeutet eine Rache des mythischen Drachen, der sich gegen das Werk der Götter, den Kosmos, erhebt und ihn ins Nichts zurückwerfen will. Die Feinde gehören zu den Mächten des Chaos [...] Aus diesem Grund wurde der Pharao dem Gotte , dem Besieger des Drachen Apohis, gleichgesetzt, seine Feinde aber verkörperten eben diesen mythischen Drachen [...] Der Drache [ist] das Bild des Meerungeheuers, der Urschlange, das Symbol für die kosmischen Wasser, die Finsternis, die Nacht und den Tod — kurz für das Amorphe“ (29).

Die Kosmogonie: Archetypus jeder Schöpfung

Jede „'wahre Welt'“ liegt „immer in der 'Mitte'“ und „es handelt sich immer um einen vollständigen Kosmos: wie groß oder klein der Kosmos sein mag, - ein ganzes Land ... eine Stadt ... ein Heiligtum ... sie alle sind in gleicher Weise ein Abbild der Welt, eine imago mundi“ (26). Flavius Josephus schreibt über den Symbolismus des Tempels [von Jerusalem], daß der Hof das 'Meer' darstelle (das heißt die unterweltlichen Gegenden), das Heilige Haus die Erde und das Allerheiligste den Himmel (Ant. Jud. III, 7, 7)“ (26).

„Jeder Bau, jedes Verfertigen hat deshalb die Kosmogonie zum Modell. Die Erschaffung der Welt wird zum Archetypus für jedes menschliche Schöpfungswerk.“ (27)

„In allen traditionsgebundenen Kulturen [hat auch] die Behausung einen sakralen Aspekt, insofern sie die Welt wiederspiegelt. So weist die Wohnstatt der primitiven Völker der Arktis, Nordamerikas und Nordasiens einen Mittelpfosten auf, welcher der axis mundi, d.h. der Weltsäule oder dem Weltbaum ... gleichgesetzt wird.“ (32)

Tempel als Nachbildung des ideellen kosmischen Archetyps

Tempel von Jerusalem [WikiCommons]„In den großen orientalischen Zivilisationen ... erfuhr der Tempel eine wichtige Neuwertung: er ist nicht mehr nur imago mundi, sondern gilt zugleich als irdische Nachbildung eines überirdischen Modells." Auch im Judentum zeigt sich "diese altorientalische Vorstellung, daß der Tempel das Abbild eines himmlischen Archetyps sei [...] Als heiliger Ort par excellence ... heiligt der Tempel ständig von neuem die Welt, weil er sie zugleich repräsentiert [als Abbild] und umfaßt [als Urbild] [...] Die überirdischen Modelle der Tempel haben eine geistige, unverletzbare, himmlische Existenz [...] Für das Volk Israel hatte Jahwe die Modelle des Tabernakels, der heiligen Geräte und des Tempels zu Beginn der Zeiten erschaffen; er hatte sie seinen Auserwählten geoffenbart, damit sie auf Erden nachgebildet würden. Er wandte sich an Mose mit den Worten: [...] 'Genau nach dem Urbild der Wohnung und nach dem Urbild all ihrer Geräte ... so sollt ihr es machen' (2. Mose 25, 8—9) [...] Genau das verkündet Salomon: „'Du hast befohlen, einen Tempel zu bauen auf deinem heiligen Berge [...] da du wohnst, als Abbild des Heiligen Zeltes, das du von Anbeginn zubereitet hattest' (Weisheit 9, 8).“ (35—36) [Bild oben: Plan des Zweiten Tempels in Jerusalem zur Zeitenwende, Ch. v. Adrichom, Köln 1584]

Diese Zusammenhänge sind auch und gerade im prophetischen Theismus von bleibender Geltung: „Das himmlische Jerusalem wurde von Gott gleichzeitig mit dem Paradies erschaffen, also in aeternum. Die Stadt Jerusalem war nur eine unvollkommene Reproduktion des himmlischen Modells [...] Die christliche Basilika und später die Kathedrale greifen alle diese Symbolismen wieder auf und führen sie weiter [...] Doch auch die kosmologische Struktur des heiligen Bauwerks lebt im Bewußtsein der Christenheit fort. In der byzantinischen Kirche z.B. tritt dies deutlich zutage: 'Die vier Teile des Kircheninnern symbolisieren die vier Weltrichtungen. Das Innere der Kirche ist das Weltall. Der Altar ist das Paradies, das nach Osten verlegt wurde [...] Demgegenüber ist der Westen das Gebiet der Finsternis, des Grams, des Todes [...] Die Mitte des Kirchengebäudes ist die Erde' [Sedlmair: Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, 119] [...] Als Abbild des Kosmos verkörpert und heiligt die byzantinische Kirche die Welt.“ (37)

Profaner Raum: Chaos und Nichtsein

„Fassen wir zusammen: [...] Wo sich das Heilige im Raum manifestiert, enthüllt sich das Reale, gelangt die Welt zur Existenz [...] Die Welt läßt sich als 'Welt', als 'Kosmos' insofern fassen, als sie sich als heilige Welt offenbart.“ (38)

„Der religiöse Mensch kann nur in einer geheiligten Welt leben, weil nur eine solche Welt am Sein teilhat und somit wirklich existiert. Der religiöse Mensch dürstet nach dem Sein [...] Der ... profane Raum verkörpert für den religiösen Menschen das absolute Nichtsein [...] Der religiöse Mensch empfindet ein tiefes Heimweh nach der 'göttlichen Welt' [und den ...] Wunsch ... in einem Kosmos zu leben, der rein und heilig ist, so wie er es am Anfang war, als er aus den Händen des Schöpfers hervorging.“ (38—39)

Die reale Zeit

Reale Zeit: Heilige Zeit und kosmisches Leben

„Ebensowenig wie der Raum ist für den religiösen Menschen die Zeit homogen und stetig. Es gibt einerseits die Intervalle heiliger Zeit, die Zeit der Feste [...] und andererseits die profane Zeit, die gewöhnliche zeitliche Dauer“ (40).

„Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Zeitarten fällt sofort auf: die heilige Zeit ist ihrem Wesen nach reversibel; sie ist eigentlich eine mythische Urzeit, die wieder gegenwärtig gemacht wird [...] und eine Art mythische ewige Gegenwart darstellt, der man sich vermitttels der Riten periodisch wieder einfügt.“ (40)

„Im Vergleich zu anderen Religionen hat das Christentum dadurch, daß es die Geschichtlichkeit der Person Christi betont, den Begriff der liturgischen [heiligen] Zeit umgewandelt. Die heilige, periodisch wiedervergegenwärtigte Zeit der vorchristlichen (besonders der archaischen) Religionen ist eine mythische Zeit, also ein uranfängliche, in der historischen Vergangenheit nicht auffindbare Zeit.“ (41—42)

„In verschiedenen Sprachen der Ureinwohner Nordamerikas wird das Wort 'Welt' (= Kosmos) auch im Sinn von Jahr gebraucht. Die Yokut sagen 'die Welt ist vergangen' wenn sie sagen wollen 'ein Jahr ist abgelaufen' [...] Man stellt sich den Kosmos als lebendige Einheit vor, die entsteht, sich entwickelt und mit dem letzten Tag des Jahres erlischt, um am Neujahrstag wiedergeboren zu werden [...] In Indien [ist ...] die Errichtung eines Altars eine Wiederholung der Kosmogonie [und] 'der Feueraltar ist das Jahr' [Es ...] wird mit jedem Altarbau ... nicht nur die Welt neu gemacht, sondern ebenso auch 'das Jahr errichtet'" wobei das "das Jahr Prajâpati, dem kosmischen Gott, gleichgesetzt“ wird (42—43).

„Einen analogen Zeitsymbolismus finden wir in dem kosmologischen Symbolismus des Jerusalemer Tempels eingebettet. Nach Flavius Josephus (Ant. Jud. III; 7, 7) bedeuteten die zwölf Brote auf dem Tisch die zwölf Monate des Jahres, und der siebenarmige Leuchter bedeutete die Dekane (d.h. die Tierkreiseinteilung der sieben Planeten in Zehner). Der Tempel ... heiligte ... nicht nur den ganzen Kosmos, sondern auch das kosmische 'Leben', d.h. die Zeit.“ (43) Es besteht sogar eine „etymologische Verwandtschaft zwischen templum [= Tempel] und tempus [= Zeit]“ (43). [Foto rechts: Flavius JosepF. Josephus [WikiCommons]hus, 37—100 n. Chr., Pharisäer priesterlicher Abstammung, im Ersten Jüdischen Krieg (66—70) jüdischer Militärkommandeur von Galiläa, dann römischer Militärberater und wichtigster Historiker der jüdischen Kultur und Geschichte vor und nach der Zeitenwende]

„In Babylon rezitierte man [an Neujahr ...] feierlich das 'Gedicht der Schöpfung', das Enuma elish [als] Wiedervergegenwärtigung des kosmogonischen Aktes [...] im Rahmen eines Neujahrsdramas durch einen Kampf zwischen zwei Gruppen von Spielern, [der] den Übergang vom Chaos zum Kosmos vergegenwärtigte“. Ähnlich bei den Hethitern, Ägyptern und Persern (45). So sollte der „mythische Augenblick wiederhergestellt werden, in dem die Welt — von einer 'reinen', 'starken' und heiligen Zeit umflutet — entstanden war. Die Vernichtung der abgelaufenen profanen Zeit wurde durch Rituale bewirkt, die eine Art 'Weltende' bedeutet. Auslöschen des Feuers, Wiederkehr der abgeschiedenen Seelen, Vermischung der sozialen Klassen ..., erotische Freiheit, Orgien — all das symbolisierte die Rückkehr des Kosmos in Chaos.“ (46)

„Der religiöse Mensch vergegenwärtigt die Kosmogonie nicht nur, sooft er etwas 'erschafft' ('seine Welt' — das bewohnte Gebiet —, eine Stadt, ein Haus), sondern auch, wenn er einem neuen Herrscher eine glückliche Regierung sichern will, wenn es gilt, die gefährdete Ernte zu retten, einen Krieg zu führen, eine Meerfahrt zu unternehmen [...] bei Heilungen“ (47—48).

Profane Zeit und Existenz: Schein und Chaos

„Auf der Ebene der primitiven Kulturen hat alles, was der Mensch tut, ein übermenschliches Modell [an] beispielhaften Werke[n] der Götter und mythischen Ahnen [...] Die periodische Vergegenwärtigung der göttlichen Taten, d.h. die religiösen Feste, lehrt die Menschen wieder die Heiligkeit der Modelle“ z.B. des Bootsbaues, des Pflanzenanbaus [...] Nur die ewige Gegenwart des mythischen Ereignisses ermöglicht die profane Zeitdauer der historischen Ereignisse [...] Die heilige, mythische Zeit begründet auch die existentielle, historische Zeit, denn sie ist ihr Modell [...] Der 'Ursprung' der Realitäten und des Lebens selbst ist religiös [...] Im Fest erlebt man die Heiligkeit der menschlichen Existenz als einer göttlichen Schöpfung [...] Alles, was uns in moderner Sicht 'Fortschritte' — sozialer, kultureller oder technischer Art — zu sein scheinen, haben die primitiven Gesellschaften im Laufe ihrer langen Geschichte als ebensoviel neue göttliche Offenbarungen hingenommen.“ (51—53)

„Von einem bestimmten Gesichtspunkt aus kann man sogar sagen: das Hauptkennzeichen des religiösen Menschen — vor allem in primitiven Gesellschaften — ist, daß er vom Mythos der ewigen Wiederkehr gelähmt wird [...] Aber ... es wäre ein Irrtum, zu glauben, der religiöse Mensch der primitiven Gesellschaften lehne die Verantwortung für eine echte Existenz ab. Im Gegenteil, er nimmt ... mit Mut schwere Verantwortung auf sich [...] aber es handelt sich um eine andere Art von Verantwortung als die, welche uns modernen Menschen allein echt und gültig erscheint: um eine Verantwortlichkeit auf kosmischer Ebene [...] Innerhalb der profanen Existenz kennt der Mensch nur eine Verantwortung vor sich selbst und vor der Gesellschaft. Für ihn ist das Universum kein Kosmos, keine lebendige, gegliederte Einheit mehr, sondern einfach die Summe der auf unserer Erde vorhandenen Materialvorräte und Naturenergien.“ (55)

„Der Mythos [...] ist immer der Bericht von einer 'Schöpfung' [...] Aus diesem Grund steht der Mythos in engem Zusammenhang mit der Ontologie; er spricht nur ... von dem, was sich real ereignet, sich voll manifestiert hat [...] Natürlich handelt es sich um heilige Realitäten, denn das Heilige ist das Reale par excellence. Was der Sphäre des Profanen angehört, hat am Sein nicht teil, weil das Profane durch keinen Mythos ontologisch gegründet wurde und kein exemplarisches Modell besitzt [...] Was die Menschen aus eigener Initiative, was sie ohne mythisches Modell tun [gehört] der Sphäre des Profanen an. Es ist deshalb ein eitles und illusorisches, ein letzten Endes irreales Tun.“ (56—57)

„Jeder Mythos erzählt, wie eine Realität entstand [und ...] warum [...] Die Hauptfunktion des Mythos ist, die exemplarischen Modelle für alle Riten und alle wesentlichen Betätigungen des Menschen (Ernährung, Sexualität, Arbeit, Erziehung) festzulegen.“ (57)

„Der religiöse Mensch nimmt ein Menschsein auf sich, das ein übermenschliches, transzendentes Vorbild hat [...] Man wird wahrhaft Mensch nur, ... indem man die Götter nachahmt.“ (59)

„Der religiöse Mensch [beabsichtigte] auch dann noch seine Götter nachzuahmen ..., wenn er sich zu Handlungen hinreißen ließ, die [wie der rituelle Kannibalismus, Menschenopfer und Tempelprostitution] schon an Wahnsinn, Schandtat und Verbrechen grenzten“ (62).

Zyklisches Multiversum als spekulative Spätform

„Diese Perspektive verändert sich von Grund auf, wenn [...] in weiter entwickelten Gesellschaften die intellektuelle Elite sich mehr und mehr von den 'patterns' der überlieferten Religion entfernt [und ...] die religiöse Bedeutung der Wiederholung von exemplarischen Handlungen“ vergisst: „Die ihres religiösen Gehaltes entleerte Wiederholung ... führt notwendig zu einer pessimistischen Existenzansicht: [...] die desakralisierte zyklische Zeit erhält einen schrecklichen Aspekt: sie wird zum Kreis, der sich unentwegt um sich selbst dreht, sich ewig wiederholt. So ist es in Indien, wo die Lehre von den kosmischen Zyklen (yuga) eine reiche Entwicklung erfuhr [...] und die ewige Rückkehr in die Existenz bedeutete [qua] unbegrenzte Fortsetzung von Leiden und Sklaverei.“ (64—65)

„Auch die Griechen kannten den Mythos der ewigen Wiederkehr, und die Philosophen der Spätzeit haben den Begriff der kreisförmigen Zeit immer weiter ausgedehnt [...] Denker der ausgehenden Antike — Pythagoräer, Stoiker, Platoniker — nahmen sogar an, daß im Innern eines jeden dieser Zeitzyklen, dieser aiones oder aeva, dieselben Situationen wiederkehren, die schon in früheren Zyklen waren und in späteren wieder sein würden. Kein Ereignis ist einzig“ (65)

Prophetischer Theismus: Geschichte als Theophanie

„Gegenüber den archaischen und altorientalischen Religionen und den in Indien und Griechenland ausgebildeten mythisch-philosophischen Vorstellungen von der ewigen Wiederkehr bringt das Judentum eine grundlegende Neuerung. Für das Judentum hat die Zeit einen Anfang und ein Ende. Die Idee der zyklischen Zeit ist überholt. Jahwe manifestiert sich nicht mehr in der kosmischen Zeit (wie die Götter der anderen Religionen), sondern in einer historischen Zeit, die unumkehrbar ist [...] Seine Taten sind persönliche Eingriffe in die Geschichte [...] Damit gewinnt das historische Ereignis eine neue Dimension, es wird zur Theophanie.“ (65—66)

Die These, "dass das Zeitverständnis Israels linear und das der Umweltvölker zyklisch ist", wurde in den letzten Jahrzehnten in dieser pauschalen Form als nicht zutreffend herausgestellt. Allerdings erhärtete die Forschung durchaus, dass "eine Geschichtstheologie" wie in den Hl. Schriften Israels vorliegend "dem Alten Orient ganz fremd war" und "eine derart umfangreiche, so weit ausholende Anbindung einer fortschreitenden Geschehenskette an ein und denselben Gott, wie dies im AT der Fall ist, sich im Alten Orient und Ägypten nicht finden lässt" (Zenger et al.: Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart, 7. Aufl. 2008, 189—190).  

"Das Christentum geht noch weiter in der Wertung der historischen Zeit. Seit Gott sich inkarniert, also eine historisch bedingte, menschliche Existenz angenommen hat, wurde die Geschichte der Heiligung fähig [...] Damit erweist sich die Geschichte als eine neue Dimension der Gegenwart Gottes in der Welt.“ (66)

Eliade macht hier auf säkularisierte Anwendungen der letzten 200 Jahre aufmerksam, insbesondere im Deutschen Idealismus, Marxismus, Historismus und Existenzialismus: „Hegel nimmt die jüdisch-christliche Ideologie wieder auf und wendet sie auf die Universalhistorie in ihrer Gesamtheit an: der Universalgeist manifestiert sich kontinuierlich in den historischen Ereignissen und nur in diesen Ereignissen. Die Geschichte wird so in ihrer Totalität eine Theophanie [Dieser ...] Historizismus [ist] ein Abbauprodukt des Christentums: er erteilt dem historischen Ereignis entscheidende Bedeutung (ein Gedanke, der christlichen Ursprungs ist), aber dem historischen Ereignis als solchem, indem er ihm nämlich ... soteriologischen, transhistorischen Sinn[es] abspricht“ (67). Auch „die Zeitbegriffe gewisser historizistischer und existentialistischer Philosophien [zeigen] denselben ... Aspekt wie in den indischen und griechischen Philosophien der ewigen Wiederkehr. Endgültig desakralisiert, zeigt sich die Zeit als schwankende und schwindende Strecke, die unaufhaltsam zum Tode führt.“ (67)

Der Kosmos: Symbol der transzendenten Realität an sich

Der Himmel als Symbol des Höchsten Wesens

[Dieser Abschnitt ist identisch mit dem Abschnitt "Kosmische Religion' im Untermenu: Religionsgeschichte] "Für den religiösen Menschen ist die Natur niemals nur 'natürlich': sie ist immer von religiöser Bedeutung erfüllt, ... denn der Kosmos ist eine göttliche Schöpfung [... die] die verschiedenen Modalitäten des Heiligen schon in der Struktur der Welt und der kosmischen Erscheinungen manifestiert [...] Dieses göttliche Werk behält immer eine gewisse Transparenz [...] Der Himmel offenbart direkt und 'natürlich' die unendliche Ferne, die Transzendenz Gottes. Die Erde ist ebenfalls 'transparent': sie erweist sich als Mutter und Ernährerin. In den kosmischen Rythmen manifestieren sich Ordnung, Harmonie, Beständigkeit, Fruchtbarkeit. Der Kosmos als Ganzes ist ein zugleich realer, lebendiger und heiliger Organismus: er offenbart die Modalitäten des Seins und der Heiligkeit: Ontophanie und Hierophanie begegnen sich." (68)

"Für den religiösen Menschen ist das 'Übernatürliche' unauflöslich mit dem 'Natürlichen' verbunden, ist die Natur immer noch Ausdruck für etwas, das sie transzendiert [...] Es wäre deshalb verfehlt, hier von ... 'Naturreligion' im Sinne des 19. Jahrhunderts zu sprechen, denn durch die natürlichen Aspekte der Welt begreift der religiöse Mensch die 'Übernatur'" (68).

Das Gesagte gilt vorrangig vom Himmel als Firmament: "Die einfache Betrachtung des Himmelsgewölbes löst bereits ein religiöses Erlebnis aus. Der Himmel offenbart sich als unendlich, als transzendent. Er ist das 'ganz andere' par excellence — d.h. etwas ganz anderes als der winzige Mensch und sein Lebensraum. Die Transzendenz enthüllt sich dem Menschen schon, sobald er sich der unendlichen Höhe bewußt ist. Der Begriff des 'Allerhöchsten' wird spontan zum Attribut der Gottheit [...] Der Kosmos — das exemplarische Werk der Götter — ist so 'konstruiert', daß das religiöse Gefühl der Transzendenz des Göttlichen schon durch die bloße Existenz des Himmels hervorgerufen wird. Und da der Himmel auf absolute Art existiert, belegen viele primitive Völker ihren höchsten Gott mit Namen, die eigentlich ... das Himmelsgewölbe oder Wettererscheinungen bezeichen, oder sie nennen ihn einfach 'Eigentümer des Himmels', 'Himmelsbewohner'" (69).

Die Dominanz und Prägnanz des so existentiell empfundenen höchsten Himmelsgottes ist allgemein: "Auch in den Religionen kulturell höherentwickelter Völker ... finden wir diese Bezeichnungen. Der mongolische Name des höchsten Gottes ist tengri, 'Himmel'. Das chinesiche t'ien bezeichent zugleich 'Himmel' und 'Himmelsgott'. Der sumerische Terminus für Gottheit, dingir [...] das babylonische Anu drückt auch den Begriff 'Himmel' aus. Der indogermanische höchste Gott, Diêus, bezeichnet zugleich die Himmelserscheinung und das Heilige [...] Es handelt sich hier nicht um 'Naturismus'. Der Himmelsgott wird nicht mit dem Himmel identifiziert, denn als Schöpfer des Kosmos hat er ja auch den Himmel geschaffen. Deshalb heißt er 'Schöpfer', 'Allmächtiger', 'Herr', Oberhaupt', 'Vater' usw. Der Himmelsgott ist eine Person und nicht eine Himmelserscheinung. Aber er wohnt im Himmel und manifestiert sich in Wettererscheinungen, in Donner, Blitzschlag, Sturm, Meteoren." (1957, 70) Für eine ausführliche Dokumention mit Bibliographie vgl. Eliade: Die Religionen und das Heilige. Elemente einer Religionsgeschichte, Salzburg 1954, 61—70 und überhaupt 61—146 (jetzt: Frankfurt a. M. 1998).

Dabei lässt sich Folgendes beobachten: "Die höchsten Wesen uranischer [transzendent-himmlischer] Struktur haben die Tendenz, aus dem Kult zu verschwinden. Sie 'entfernen' sich von den Menschen, ziehen sich in den Himmel zurück und werden dei otiosi [...] Nach und nach nehmen andere göttliche Gestalten ihren Platz ein, die mythischen Ahnen, die Muttergottheiten, die Fruchtbarkeitsgötter usw. [...] Das höchste Wesen uranischer Struktur bewahrt seinen ursprünglichen Rang nur bei den Hirtenvölkern. Eine Sonderstellung erreicht es in Religionen, die eine monotheistische Tendenz haben (Ahura-Mazda) oder ausgesprochen monotheistisch sind (Jahwe, Allah)" (1957, 71). Doch auch ansonsten gilt trotzdem: "Man erinnert sich noch seiner und ruft es als letzte Instanz, wenn alle Schritte bei den anderen Göttern und Göttinen, den Ahnen und Dämonen vergeblich waren." (73)

Eliade erhebt diesen Befund auch aus den Geschichts- und Prophetenbüchern der Bibel: "Dies gilt nicht nur für die primitiven Völker. So oft die alten Hebräer eine Epoche relativen Friedens und Wohlstandes erlebten, entfernten sie sich von Jahwe und näherten sich den Baalen und Astarten. Nur historische Katastrophen vermochten sie wieder zu Jahwe zu bekehren. 'Sie aber schrien zum Herrn und sprachen: 'Wir haben gesündigt, denn wir haben den Herrn verlassen und den Baalen und Astarten gedient. Nun aber errette uns aus der Hand unser Feinde, so wollen wir dir dienen'" (1 Samuel 12, 10) (74).

Artemis [WikiCommons]Zum Hintergrund: „Die Entdeckung des Ackerbaus bedeutet für den primitiven Menschen einen radikalen Wandel nicht nur in seiner Wirtschaft, sondern vor allem in seiner Sakralordnung. Neue religiöse Mächte treten ins Spiel, Sexualität, Fruchtbarkeit, Mythologie der Frau und der Erde. Das religiöse Erlebnis wird ... auf intimere Weise mit dem Leben verbunden [...] Die Gottheiten, die ... an die Stelle der Himmelsgötter traten, waren (wie die Baale und Astarten der Hebräer) Götter der Fruchtbarkeit, des Reichtums und der Fülle [...] Und doch hatten ihre Verehrer, die Primitiven ebenso wie die Hebräer, das Gefühl, daß keine Große Göttin, kein Ackerbaugott imstande war, sie zu retten, ihnen in wirklich kritischen Momenten die Existenz zu sichern [...] Auch, als das religiöse Leben nicht mehr von den Himmelsgöttern beherrscht wurde [...] bleibt der Himmel durch seine Symbolik immer noch gegenwärtig.“ (73—74) [Bild rechts: Das mit Brüsten oder Stierhoden bedeckte Kultbild der Artemis im Tempel von Ephesus, der größten Kult- und Wallfahrtsstätte der antiken heidnischen Zivilisation]

Wasser als Symbol von Virtualität, Chaos und Erneuerung

Vor der Besprechung weiterer besonders wichtiger Symbolismen noch einmal zur grundsätzlichen Bedeutung von Symbolen: „Das Symbol spielt eine wichtige Rolle im religiösen Leben ...; durch die Symbole wird die Welt 'transparent', fähig die Transzendenz zu 'zeigen'.“ (76)

„Das Wasser symbolisiert die Summe der Möglichkeiten, es ist fons et origo, es geht jeder Form voraus und trägt jede Schöpfung. Ein Urbild der Schöpfung ist die Insel, die sich plötzlich inmitten der Fluten 'manifestiert'. Umgekehrt versinnbildlicht das Eintauchen in das Wasser die Rückkehr ins Ungeformte [...] Das Auftauchen wiederholt den kosmogonischen Akt der Formwerdung [...] Deshalb umfasst der Symbolismus des Wassers sowohl Tod als auch Wiedergeburt.“ (76)

„Der aquatischen Kosmogonie entsprechen auf anthropologischer Ebene die Hylogenesen, ... nach denen das Menschengeschlecht aus den Wassern geboren ist. Der Sintflut ... entspricht auf menschlicher Ebene der 'zweite Tod' des Menschen ... oder der Initiationstod durch die Taufe [...] Das Wasser ... desintegiert, ... reinigt und regeneriert zugleich.“ (76-77)

Eliade verweist auf die Fortsetzung des Wassersymbolismus bei Schriftstellern des prophetischen Theismus wie Tertullian (2./3. Jh. n. Chr.): „Das Wasser war der erste 'Sitz des göttlichen Geistes, der es damals allen anderen Elementen vorzog [...] Das Wasser brachte als erstes Lebendiges hervor, damit man sich nicht wundere, wenn später das Wasser in der Taufe Leben zu schenken vermag. [Tertullian: De baptismo, III—IV)“ (77) Oder Johannes Chrysostomus (4./5. Jh.) „Durch das Eintauchen ins Wasser stirbt der 'alte Mensch', und aus ihm wird ein neues, regeneriertes Wesen geboren [... Die Taufe ]' stellt den Tod und die Bestattung dar, das Leben und die Auferstehung' [Johannes Chrysostomus: Homil. in Joh. XXV, 2] — „Dazu kommt die Wertung der Taufe als Wiederholung der Sintflut. Nach Justinus [2. Jh.] ging Christus als neuer Noah siegreich aus den Wassern hervor [anlässlich der Taufe im Jordan] und wurde zum Begründer eines neuen Geschlechts.“ (78)

„Auch der Nacktheit des Täuflings haftet eine zugleich rituelle und metaphysische Bedeutung an, nämlich das Ablegen des alten Kleides des Verderbens und der Sünde, ... mit dem Adam nach dem Sündenfall bekleidet wurde, und zugleich die Rückkehr zur ursprünglichen Unschuld, zu der Verfassung Adams vor dem Fall. 'O Wunder', schreibt Kyrill, 'ihr wart vor aller Augen nackt, ohne daß ihr euch geschämt habt, denn ihr tragt in euch das Bild des ersten Adam, der im Paradies nackt war, ohne sich zu schämen.'“ (79)

Gilgameschepos [WikiCommons]„Der Symbolismus der Taufnacktheit ist keine Besonderheit der jüdisch-christlichen Überlieferung. Die rituelle Nacktheit bedeutet Unversehrtheit und Fülle [...] Alle rituelle Nacktheit weist auf ein zeitloses Modell, ein paradiesisches Bild.“ (79)

Auch „Noah und die Sintflut haben in unzähligen Überlieferungen ihr Gegenstück in der Wasserflut, die eine 'Menschheit' ('Gesellschaft') vernichtete bis auf einen einzigen Menschen, den mythischen Ahnen einer neuen Menschheit. Die 'Wasser des Todes' sind ein Leitmotiv der altorientalischen, asiatischen und ozeanischen Mythologie.“ (79) [Bild links: Keilschrifttafel mit dem babylonischen Sintflutbericht im Gilgameschepos]

Es war nicht notwendig, dass „das Judentum diese Mythen und Symbole den Religionen der Nachbarvölker entlehnt habe [...] denn das Judentum war Erbe einer religiösen Prähistorie und einer langen religiösen Geschichte, in der das alles bereits existierte.“ (80)

„Der allgemeine Wassersymbolismus wurde durch die historische (= jüdisch-christliche) Interpretation des Taufsymbolismus weder aufgehoben noch verstümmelt. Anders ausgedrückt: die Geschichte vermag die Struktur eines archaischen Symbolismus nicht von Grund auf umzuwandeln. Die Geschichte fügt dauernd neue Bedeutungen hinzu, doch diese zerstören nicht die Struktur des Symbols. All das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß für den religiösen Menschen [...] jedes Stück Kosmos ... 'transparent' [ist]; die ihm eigene Seinsweise zeigt eine besondere Struktur des Seins und damit auch des Heiligen.“ (81)

Erde als Symbol von Fruchtbarkeit und Mutterschaft

„Das Urbild der Mutter Erde [...] begegnet uns überall auf der Welt in unzähligen Formen und Varianten. So die allbekannte Terra Mater oder Tellus Mater der Mittelmeer-Religionen, die allen Wesen das Leben gibt [...] Indianische Mythen Amerikas sprechen von der alten Zeit, wo die Mutter Erde die Menschen hervorbrachte, so wie sie heute noch Sträucher und Rohr hervorbringt. Es ist ein allgemein verbreiteter Glaube, daß die Menschen aus der Erde geboren sind. In vielen Sprachen heißt der Mensch 'aus der Erde Geborener' [...] Im Tode wünscht man zur Mutter Erde zurückzufinden, in der Heimaterde begraben zu werden.“ (83) So in den indischen Veden und den chinesischen und römischen Bestattungszeremonien.

Das „Grunderlebnis, daß die menschliche Mutter nur die große tellurische Mutter repräsentiert, hat zu zahllosen Bräuchen Anlaß gegeben. Denken wir zum Beispiel an die Niederkunft auf der Erde (die humi positio [Geburt im Knien auf der Erde]), ein Ritual, das fast überall auf der Erde zu finden ist, von Australien bis China, von Afrika bis Südamerika [...] Noch weiter verbreitet ist das Niederlegen des Neugeborenen auf die Erde [...] So legt man Kinder und Erwachsene auch im Fall der Krankheit auf die Erde, sofern man sie nicht in die Erde eingräbt. Dieser Ritus bedeutet eine Neugeburt [und ...] hat dieselbe ... Geltung wie das Eintauchen ins Wasser. [...] Die Inititation enthält eine rituelles Sterben und Auferstehen,. Deshalb wird bei vielen primitiven Völkern der Neophyt symbolisch 'getötet', in einer Grube beerdigt und mit Laub bedeckt. Wenn er sich erhebt, gilt er als ein neuer Mensch“ (84).

"Die Frau ist also auf mystische Weise mit der Erde verbunden, und das Gebären ist auf menschlicher Stufe eine Variante der tellurischen Fruchtbarkeit [...] Das magisch-religiöse Prestige der Frau und ihre damit [in matriarchalischen Bauernkulturen] verbundene soziale Vorrangstellung haben ein kosmologisches Modell: die Gestalt der Mutter Erde.“ (85)

In vielen „Religionen ist die Schöpfung des Kosmos ... das Ergebnis einer Hierogamie [heilige Hochzeit] zwischen dem Himmelsgott und der Mutter Erde [...] Deshalb betrachtet man die menschliche Hochzeit als eine Nachahmung der kosmischen Hierogamie. 'Ich bin der Himmel', erklärt der Gatte in der Brhadâranyaka Upanishad (VI, 4, 20), 'du bist die Erde!' (85—86)

„Die rituelle Orgie zugunsten der Ernte hat ebenfalls ein ... Modell, die Hierogamie des Fruchtbarkeitsgottes mit der Mutter Erde. Durch eine schrankenlose geschlechtliche Raserei wird die Fruchtbarkeit der Äcker angereizt (Deshalb enthalten bestimmte Neujahrszeremoniale auch orgiastische Riten).“ (86)

Der Baum als Symbol des kosmischen Organismus

„Für den religiösen Menschen [ist] das Erscheinen des Lebens das tiefste Mysterium der Welt. Dieses Leben 'kommt' von irgendwo außerhalb dieser Welt und zieht sich schließlich wieder zurück [...] Das menschliche Leben wird nicht als kurze Erscheinung in der Zeit — zwischen zwei Nichts — empfunden; es geht ihm eine Präexistenz voraus, und es folgt ihm eine Postexistenz [...] Das alles ist in den kosmischen Rhythmen 'chiffriert' [insofern...] der Kosmos ein lebendiger Organismus ist" (88), in welchem im Wechsel der Jahreszeiten das Leben keimt, aufblüht und wieder verwelkt und abstirbt, um im nächsten Jahr neu zu erwachen." Deshalb stellt man sich den Kosmos in Gestalt eines riesigen Baumes vor [...] Das Bild des Baumes diente nicht nur zur Symbolisierung des Kosmos, sondern war auch ein Sinnbild für Leben, Jugend, Unsterblichkeit und Weisheit. Neben kosmischen Bäumen wie die Esche Yggdrasil der germanischen Mythologie kennt die Religionsgeschichte Lebensbäume (Mesopotamien), Bäume der Unsterblichkeit (Asien, Altes Testament), der Weisheit ([Erkenntnis] Altes Testament) [...] Das Mysterium der periodischen Regeneration des Kosmos hat [auch und ferner] dem Frühling religiöse Bedeutung verliehen“ (88).

Mond und Sonne als Symbol von Lebenszyklen und -energie

„Durch den Mondsymbolismus [...] wurden die Vorstellungen des Zyklus, des Dualismus, ..., der Versöhnung der Gegensätze entdeckt oder doch präzisiert [...] Denn die Botschaft des Mondes ... besagt nicht nur, daß der Tod unlösbar mit dem Leben verbunden ist, sondern auch und vor allem, daß der Tod nicht endgültig, sondern immer von einer neuen Geburt gefolgt ist“ (92—93).

„In den Sonnenhierophanien erscheinen die religiösen Werte der Autonomie und Kraft, der Souveränität und Intelligenz. Deshalb läßt sich in bestimmten Kulturen eine Solarisation der Höchsten Wesen beobachten. Die Himmelsgötter haben, wie wir sahen, die Neigung, aus der religiösen Aktualität zu verschwinden; in bestimmten Fällen leben Struktur und Kräfte dieser Götter in den Sonnengöttern weiter, so besonders in hochentwickelten Kulturen mit bedeutender Geschichte (Ägypten, hellenistischer Orient, Mexiko). Viele Heroenmythologien sind von solarer Struktur. Der Heros [kämpft ...] wie die Sonne ... mit der Finsternis, steigt ins Reich des Todes hinab und als Sieger wieder empor.“ (93)

Lebensfunktionen als sakramentale Symbole

„Wer das geistige Universum des homo religiosus erkennen will, wird sich vor allem mit den Menschen [...] primitiver Gesellschaften zu befassen haben [= „der nomadisierenden Hirten, der totemistischen Jäger, der Völker auf der Stufe des Sammelns und Jagens“ ...] Für den religiösen Menschen der archaischen Gesellschaften [ist ...] die Welt ... weder stumm noch undurchsichtig, sie ist kein lebloses Etwas ohne Ziel und Bedeutung [sondern] 'lebt' und 'spricht' [...] Für ihn ist das Leben in seiner Ganzheit der Heiligung fähig [... Er] ist also einer unendlichen Reihe 'kosmischer' Erlebnisse zugänglich. Solche Erlebnisse sind immer religiös, denn die Welt ist heilig. Um sie verstehen zu können, müssen wir daran denken, daß die wichtigsten physiologischen Funktionen zu Sakramenten werden können [...] Auch das sexuelle Leben wird ... ritualisiert und dadurch sowohl kosmischen Erscheinungen (Regen, Besäen) als auch göttlichen Akten (Hierogamie Himmel-Erde) gleichgesetzt [...]

Im Tantrismus verkörpert die Frau ... die Prakriti (Natur) und die kosmische Göttin Shakti, während der Mann sich mit Shiva, dem reinen, unbewegten, heiteren Geist identifiziert. Die sexuelle Vereinigung (maithuna) ist vor allem eine Integration dieser beiden Prinzipien, der kosmischen Naturenergie und des Geistes. Ein tantrischer Text drückt dies so aus: 'Die wirkliche geschlechtliche Vereinigung ist die Vereinigung der obersten Shakti mit dem Geist (âtman); die anderen sind nur fleischliche Beziehungen zur Frau' (Kûlârnava Tantra V, 111—112) [...] Die tantrischen Texte betonen immer wieder, daß es sich um eine Verwandlung des fleischlichen Erlebnisses handelt. 'Durch dieselben Akte, die andere Menschen Millionen Jahre in der Hölle brennen lassen, erlangt der Yogin sein ewiges Heil' [...] Mit anderen Worten: der 'Wissende' verfügt über ein ganz anderes Erleben als der Profane [...] Die Umwertung der Sexualität zum Mittel der Teilnahme am Heiligen ... ist nicht gefahrlos. So führte in Indien der Tantrismus auch zu abwegigen, gräßlichen Zeremonien [...] Trotzdem ... offenbart es uns ein der desakralisierten Gesellschaft nicht mehr zugängliches Erlebnis, ein geheiligtes sexuelles Leben.“ (96—101)

Die hier liegenden und von Eliade angesprochenen Gefahren sind im prophetischen Theismus Thema des Heiligkeitsgesetzes der Tora (Levitikus 17—26). Dessen beiden wichtigste Themen sind das Verbot des Blutgenusses (Levitikus 17) als Anerkennung des (mit dem Blut verbundenen) Lebens als einer göttlichen Gabe und zur Hemmung von Mordlust und animalischer Brutalität sowie das Verbot des in Ägypten und Kanaan nach den Informationen nicht seltenen Inzestes, der Homosexualität und Bestialität (Levitikus 18 und 20):

Ihr sollt nicht tun, was man in Ägypten tut, wo ihr gewohnt habt; ihr sollt nicht tun, was man in Kanaan tut, wohin ich euch führe [...] Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern, um mit ihr geschlechtlich zu verkehren [...] Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel. Keinem Vieh darfst du beiwohnen; du würdest dadurch unrein. Keine Frau darf vor ein Vieh hintreten, um sich mit ihm zu begatten; das wäre eine schandbare Tat. Ihr sollt euch nicht durch all das verunreinigen; denn durch all das haben sich die Völker verunreinigt, die ich vor euch vertrieben habe [...] Alle nämlich, die irgendeine dieser Gräueltaten begehen, werden aus der Mitte ihres Volkes ausgemerzt.“ (Levitikus 18, 3, 6, 22—24, 29)

Weitere zentrale Themen des Heiligkeitsgesetzes der Tora (Pentateuch) sind einmal die Ächtung der in Kanaan wie auch sonst sehr verbreiteten sakralen Prostitution, welche als systematischer, ritueller sexueller Missbrauch von Frauen und Mädchen durch Baalspriester und deren Anhänger beschrieben wird (Levitikus 19, 29): „Entweih nicht deine Tochter, indem du sie der Unzucht preisgibst, damit das Land nicht der Unzucht verfällt und voller Schandtat wird.“ Und zum anderen die Ächtung des für Kanaan, Phönizien und das phönizische Karthago typischen rituellen Kindermordes ebenfalls in sakralem Zusammenhang, nach den Nachrichten durch Verbrennen vor oder in einer heißglühenden Statue des Baal oder Moloch: praktisch jede Stadt hatte ein Tofet oder einen Kultplatz für Kinderopfer (Levitikus 20, 1—5; 2 Könige 17,17, Jeremia 7, 31—32; 19, 3-13). Man darf anhand entsprechender Erlebnisberichte überhaupt die Frage stellen, ob in östlichen Religionen wie dem Tantrismus oder dem tibetischen alias Vajrayana-Buddhismus die von Eliade angesprochene spiritualisierte Erotik in der Praxis sich nicht eher als gewöhnliche sakrale Prostitution speziell Minderjähriger, verbunden mit Frauenverachtung und Brutalität darstellt. 

Angesichts dieser Vorbehalte wäre die Behandlung des Themas im prophetischen Theismus das überzeugendere Modell. Denn auch die maßgeblichen Propheten Hosea (Kap. 1—3), Jeremia (Kap. 3) und Ezechiel (Kap. 16 und 23) definieren den Bund zwischen Gott und seinem Volk als Liebesbeziehung und als spirituelle Ehe zwischen Eheherr und Braut resp. Gattin. Im Neuen Testament (Epheserbrief Kap. 5) ist die Liebe zwischen Mann und Frau Abbild der Liebe zwischen Gott / Messias / Geist und Gottesvolk / Kirche / Kosmos: "Der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist [...] Ihr Männer liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt hat" (5, 23.25). Die geschlechtliche Vereinigung kann auch hier angesprochen werden als "die Integration dieser beiden Prinzipien, der kosmischen Naturenergie und des Geistes" und als "Umwertung der Sexualität zum Mittel der Teilnahme am Heiligen" (Eliade). Bräutigam und Braut vollziehen einen sakralen Akt: Sie spenden sich ein Sakrament, das sie bei entsprechender spiritueller Einstellung zugleich mit dem messianischen Gottmenschen (Christus) und dem mystischen Leib Christi verschmilzt und Geist und Leben schenkt.

Eliades abschließende Bemerkung zum Kosmos als Symbol der transzendenten Realität ist: „Der religiöse Mensch lebt in einem 'offenen' Kosmos und ist selbst der Welt gegenüber 'offen'. Damit ist gesagt, daß er in Verbindung mit den Göttern steht und daß er an der Heiligkeit der Welt teilhat [...] Seine Wohnung ist ein Mikrokosmos, und sein Körper ist ebenfalls ein Mikrokosmos.“ (101) Diese "Heiligkeit der Welt" muss allerdings - wie immer wieder selbst bei Eliade deutlich wurde - differenziert werden, da die faktische Welt zwar qua Schöpfung Gottes ontologisch durchaus als heilig gelten kann, aber geschichtlich keine heile und heilige, sondern eine ethisch gebrochene und verderbte ist, was eine weitere Herausforderung und ein weiteres zentrales Thema von Religion ist. Diesem wendet sich Eliade im nächsten Abschnitt zu.   

Initiation: Geistige Neugeburt und sittliche Reife

In allen religiösen Zivilisationen sind die „Rituale ... des 'Übergangs'“ wichtig aufgrund folgender „Auffassung der menschlichen Existenz ...: mit seiner Geburt ist der Mensch noch nicht fertig; er muß ein zweites Mal, und zwar geistig geboren werden. Er wird erst ganz Mensch durch den Übergang von einem unvollkommenen, embryonalen in einen vollkommenen, erwachsenen Zustand [... Hierfür] verwenden die verschiedenen religiösen Überlieferungen sehr oft den Symbolismus der gefährlichen Brücke und der engen Pforte. In der iranischen Mythologie überschreiten die Abgeschiedenen auf ihrer Reise ins Jenseits die Brücke Cinvat. Sie ist für die Gerechten neun Lanzenlängen breit, für die Gottlosen aber wird sie schmal 'wie die Schneide eines Rasiermessers' (Dînkart IX, 20, 3) [...] Im Christentum [...]: 'Die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden' (Matth. 7, 14).“ (106—107)

Initiation [WikiCommons]„Der Übergangsritus par excellence ist natürlich die Pubertätsinitiation [...] Doch auch bei der Geburt, bei der Hochzeit und beim Tod gibt es Übergangsriten [...] Die Initiation besteht vor allem in einem paradoxen, übernatürlichen Erlebnis des Todes, der Auferstehung oder der Wiedergeburt [...] Es zeigt uns ..., daß der religiöse Mensch sich anders will, als er sich auf 'natürlicher' Ebene vorfindet, daß er sich selbst nach dem idealen, in den Mythen geoffenbarten Bild machen will. Der primitive Mensch strebt nach einem religiösen Menschenideal, und dieses Streben trägt bereits die Keime für alle späteren Ethiken der entwickelten Gesellschaften in sich.“ (108—110) [Foto links: Pubertäts-Initiation in Papua-Neuguinea am Sepikfluss]

„Zur Initiation gehört im allgemeinen eine dreifache Offenbarung: die Offenbarung des Heiligen, des Todes und der Sexualität [...] Die Initiation bedeutet ein geistiges Reifwerden [...] Der Initiierte ... ist der Wissende.“ (110—111)

„Die Zeremonie beginnt überall damit, daß der Neophyt sich von seiner Familie trennt und sich in die Buscheinsamkeit zurückzieht. Schon hierin liegt ein Todessymbol: Wald, Dschungel, Finsternis symbolisieren das Jenseits, die 'Unterwelt' [...] An manchen Orten gibt es im Busch eine Initiationshütte. Dort legen die jungen Kandidaten einen Teil der Proben ab und werden in der Geheimüberlieferung des Stammes unterwiesen [...] Bei gewissen Völkern werden die Kandidaten in frisch gegrabene Gräber gelegt ... oder sie werden mit weißem Staub eingerieben, damit sie wie Gespenster aussehen [...] Auch die Verstümmelungen (Ausreißen der Zähne, Amputation von Fingern usw.) sind Todessymbole [... Neben] den spezifischen Operationen wie Beschneidung und Subinszision, außer den Initiationsverstümmelungen [...] erhalten [die Kandidaten] andere Namen [...] Das Mysterium der Initiation entdeckt dem Neophyten ... die wahren Dimensionen der Existenz [...] führt ihn in das Sakrale ein und verpflichtet ihn dadurch, seine Verantwortung als Mensch auf sich zu nehmen [...]: Der Zugang zum geistigen Leben ist bei allen archaischen Gesellschaften durch einen Symbolismus von Tod und Neugeburt ausgedrückt.“ (111—113)

Auch „die Riten des Eintritts in einen Geheimbund (Männerbünde und Frauen- oder Weibergesellschaften) entsprechen ... Punkt für Punkt denen der Pubertätsinitiationen: Einsperrung, Foltern und Initationsproben, Tod und Auferstehung, Zuweisung eines neuen Namens, Unterricht in einer Geheimsprache usw.“ (113)

„Der Inititationstod wiederholt die exemplarische Rückkehr ins Chaos, um die Wiederholung der Kosmologie zu ermöglichen, die Neugeburt vorzubereiten. Manchmal kommt es zu einer nicht nur symbolischen, sondern tatsächlichen Rückkehr ins Chaos, wie z. B. bei den Initiationskrankheiten der künftigen Schamanen, die oft als richtige Geisteskrankheiten angesehen wurden. Es handelt sich dabei im eine totale Krise, die zuweilen bis zur Auflösung der Persönlichkeit führt [Vgl. Eliade: Le Chamanisme, Paris 1951, 36 ff]. Das 'psychische Chaos' zeigt an, daß der profane Mensch im Begriff ist, sich 'aufzulösen' und daß eine neue Person geboren werden soll.“ (115—116)

Auch der Weg der Aszese und Mystik ist hier einzuordnen: „Jede legale und dauernde Situation bedingt die Einfügung in einen Kosmos, in ein wohlgeordnetes Universum [...] Doch [...] auf die eine oder andere Weise steht der Kosmos, den man bewohnt – Körper, Haus, Stammesgebiet, diese Welt in ihrer Totalität – nach oben mit einer anderen, jenseitigen Ebene in Verbindung [...] Das Überschreiten der menschlichen Seinsform findet seinen bildlichen Ausdruck in der Vernichtung des 'Hauses' [...] Das Bild des Zersplitterns des Daches [im sog. Geistesflug der indischen Mystik] bedeutet, daß man ... statt der Einrichtung in der Welt die absolute Freiheit gewählt hat“ (103—104) —  „Wenn der Besitz eines 'Hauses' die Wahl eines festen Standorts in der Welt bedeutet, drücken die Pilger und Asketen, die auf ein Haus verzichten ... aus [dass ...] sie sich einzig der 'Wanderung' zur höchsten Wahrheit weihen“ (107—108)

Im Fazit: „Das sakrale Wissen und die Weisheit werden als Frucht einer Initiation begriffen, und es ist bezeichnend, daß der Entbindungssymbolismus sowohl im alten Indien als auch in Griechenland mit dem Erwachen des höchsten Bewußtseins verknüpft ist. Nicht ohne Grund verglich Sokrates sich mit einer Hebamme: ... er entband den 'neuen Menschen'. Derselbe Symbolismus begegnet uns in der buddhistischen Überlieferung“ (117).

„Der Symbolismus der zweiten Geburt wurde vom alexandrinischen Judentum und vom Christentum aufgenommen und umgewertet. Philo [20 v. — 40 n. Chr., bedeutender Denker des hellenistischen Judentums] gebraucht häufig das Motiv der Zeugung, wenn er von der Geburt zu einem höheren Leben, dem Leben des Geistes spricht [...] Der heilige Paulus spricht von 'geistigen Söhnen', Söhnen, die er durch den Glauben gezeugt hat (Titusbrief 1, 4 ... Philemonbrief 10) [...] Das uralte Thema der zweiten Geburt [hat ...] immer ein gemeinsames Element, eine unveränderliche Größe, die man auf folgende Art definieren kann: wer Zugang zum geistigen Leben erlangen will, muß der profanen Seinsweise absterben und neu geboren werden.“ (118—119) Vgl. hierzu zuletzt C. D. Bergmann: Childbirth as a Metapher for Crisis in the Hebrew Bible and in 1 QH 11: 1-18, Berlin / New York 2009.

Menschliche Psyche als Produkt von Religion

„Die Situationen des religiösen Menschen und sein geistiges Universum ... sind nicht spurlos verschwunden; sie haben dazu beigetragen, uns zu dem zu machen, was wir sind, und sie bilden deshalb einen Teil unserer eigenen Geschichte.“ (119)

Nichtreligiöse Menschen und Sozialsysteme sind im geschichtlichen und interkulturellen Vergleich ein Minderheitenphänomen und hier noch einmal v.a. eines winzigen Zeitfensters vom 19. Jh. bis heute. Religionslose Mehrheiten gibt es selbst heute nur in einigen Ländern wie z.B. Ostdeutschland, Tschechien, und faktisch in England, Schweden, Niederlande und Frankreich. Auch heute sind nach aktuellen Statistiken 90 % der Weltbevölkerung religiös bis sehr religiös. Und geschichtlich gesehen gehören 99 % der bisherigen menschlichen Generationen konsequent religiösen, sakralen Kulturen an. Das bedeutet für einen Religionslosen, dass er "eine neue existentielle Situation auf sich" nimmt: "Er betrachtet sich nur als Subjekt und Agens der Geschichte, und er verweigert sich dem Transzendenten [...] Das aber besagt, daß der areligiöse Mensch sich aus der Opposition zu seinen Vorfahren gebildet hat, indem er danach strebte, sich aller Religiosität, aller übermenschlichen Bedeutung zu 'entleeren' [...] Er setzt sich aus einer Reihe von Verneinungen und Absagen zusammen, aber er ist immer noch verfolgt von den Realitäten, die er zurückgewiesen und verneint hat" (120—121).

Eliade meint nun, dass dieser Versuch nicht wirklich gelingt. Zu viele Beobachtungen sprächen dagegen: "Die meisten 'religionslosen' Menschen verhalten sich immer noch religiös, wenn sie sich desen auch nicht bewußt werden. Wir meinen hier nicht nur die Fülle von 'Aberglauben' und 'Tabus' des modernen Menschen, die alle religiös-magischer Struktur und Herkunft sind [sondern auch ...] die getarnten Mythologien in den Schauspielen ... Büchern ... Kino [...] die zahllosen 'Kleinreligionen' [...] die pseudo-okkulten, neo-spiritualistischen ... Schulen [...] die verschiedenen politischen Bewegungen und sozialen Prophetien, deren mythologische Struktur und religiöser Fanatismus leicht zu erkennen sind: man denke nur an die mythologische Struktur des Kommunismus und seinen eschatologischen Gehalt [...] die Nacktkultur oder ... Bewegungen für absolute sexuelle Freiheit, Ideologien, in denen sich die Spuren des 'Heimwehs nach dem Paradies' erkennen lassen [...] Sogar spezifisch moderne Techniken wie die Psychoanalyse bewahren noch das Initiations-'pattern'. Der Patient wird aufgefordert, tief in sich hinabzusteigen ..., seinen Traumata von neuem entgegenzutreten. Formal gleicht dieses gefährliche Vorgehen dem Hinabsteigen in die 'Hölle' zu den Gespenstern und den Kämpfen mit den 'Untieren', die bei der Initiation eine Rolle spielen [...] So muß der analysierte ... Mensch seinem eigenen 'Unbewußten' die Stirn bieten, in dem Gespenster und Untiere umgehen, um dort psychische Gesundheit und Integrität ... zu finden.“ (121—123)

Jung 1910 public NetzDen Grund für diese allgegenwärtigen, verdeckten Formen von Religiosität sieht Eliade darin: „Der profane Mensch [ist] der Abkömmling des homo religiosus und außerstande ..., seine eigene Geschichte zu annullieren, das Verhalten seiner religiösen Vorfahren, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist, ganz und gar auszulöschen. Dies umso weniger, als seine Existenz zum großen Teil sich von Impulsen nährt, die aus ... jener Zone [kommen], die man das Unbewußte nennt [...] Nun weisen Inhalt und Struktur des Unbewußten erstaunliche Ähnlichkeiten mit den Bildern und Gestalten der Mythologien auf als [...] Resultat unvordenklicher existentieller Situationen, insbesondere kritischer Situationen, und aus diesem Grund ist dem Unbewußten eine religiöse Aura eigen [...]

Das Unterbewußte liefert dem modernen Menschen unaufhörlich zahllose Symbole, und jedes Symbol hat eine bestimmte Botschaft zu übermitteln, eine bestimmte Mission zu erfüllen, die dazu dient, das seelische Gleichgewicht zu wahren oder wiederherzustellen [...] Mit Hilfe des Symbols verläßt der Mensch seine private Situation und 'öffnet' sich dem Allgemeingültigen und Universellen [...] Von einem bestimmten Gesichtspunkt aus ließe sich beinahe sagen, daß bei den modernen Menschen, die sich areligiös nennen, Religion und Mythologie sich im Dunkeln ihres Unbewußten 'okkultiert' haben.“ (124—126) [Foto oben: Carl G. Jung ca. 1910, 1875—1961, neben S. Freud und A. Adler Begründer der Psychoanalyse und einflussreicher Religionspsychologe in Zusammenarbeit mit M. Eliade]