Willkommen auf der Netzpräsenz von Dr. phil. Paul Natterer
In Memoriam
Mit großer Trauer müssen wir mitteilen, dass Dr. Paul Natterer Ende 2019 von uns gegangen ist. Diese Webseite, sowie www.novstudgen.de werden in diesem Zustand eingefroren verfügbar bleiben. Die im Weiteren Verlauf genannte Firma 'Wissenschaftspublizistik novum studium generale — Liberal Education Publishing & Consulting' wurde aufgelöst. Alle Inhalte auf dieser Webseite und auf www.novstudgen.de werden als nicht-kommerzielle Inhalte zur Verfügung gestellt.
Kurzvorstellung
Gegenstand dieses Netzportals ist ein E-Portfolio zum Studium generale. Autor und Redakteur der Inhalte war Dr. Paul Natterer.
Die Motivation von novum studium generale und damit dieses E-Portfolios geht auf Erfahrungen und Diskussionen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre zurück. Die Inhalte sind seit 1994 in Kontakt mit den maßgeblichen Experten zu Geschichte, Theorie und Praxis des Studium generale entwickelt worden. Sie wurden 2000—2004 konzeptionell vereinheitlicht, systematisch strukturiert und weiter ausgebaut. Nach dem Urteil der Fachwelt bieten sie das — national wie international — mit Abstand reflektierteste Angebot zum Studium generale mit der umfassendsten interdisziplinären Datenbasis.
Auf den folgenden Seiten und dem ergänzenden Portal www.novstudgen.de finden Sie neben Texten, Präsentationen, Verknüpfungen und eingefügten PDF-Dateien auch Angaben zu CV, Veröffentlichungen, Lehrveranstaltungen und beruflichen Positionen.
E-Portfolio novum studium generale
Zum Begriff novum studium generale
Die Bezeichnung novum studium generale [= neues Allgemeinstudium] knüpft einerseits an den Begriff der scholastischen studia generalia an, d.h. der internationalen Universitäten als universitas litterarum oder universelle Bildungsstätte auf der Basis des seit der Antike verbindlichen Bildungsprogrammes der artes liberales. Andererseits ist der — damit durchaus verwandte — moderne Bedeutungsgehalt eines integrierten allgemeinbildenden Studiums für Studenten aller Fachbereiche angesprochen. Dieses wurde seit der Jahrtausendwende — im Zusammenhang der Debatte um Nachhaltigkeit, Gemeinwohlverantwortung, und Transdisziplinarität — zu einem erstrangigen Baustein des Leitbildes der Hochschulen, hinter welchem der politische Wille steht.
Als Rektor einer Philosophisch-theologischen Hochschule in Bayern (1986—1991) gewann ich die Überzeugung, dass sowohl im binnenreligiösen Raum als auch in der akademischen und sozialen Welt seit Beginn der Moderne, also seit etwa 200 Jahren, zwei Zerfallsformen immer stärker die Oberhand gewannen: einerseits Liberalismus, Subjektivismus, Agnostizismus, andererseits Autoritarismus, Traditionalismus, Fundamentalismus. Seit der 1968er Kulturrevolution beherrscht diese Spaltung und Lagerbildung zwischen Fundamentalismus und Liberalismus vollends das Bild. Nach den Maßstäben des prophetischen Theismus wie des klassischen europäischen Bildungssystems sind aber beides vernunft- und lebensfeindliche Fehlhaltungen. Deren Korrektur erfordert eine universelle Bildung (= Studium generale). Bei diesem Bildungswissen geht es v.a. um die Vermittlung einer kognitiven Architektur oder eines mentalen Koordinatensystems durch strukturiertes interdisziplinäres und ethisches Orientierungswissen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir unsere fragmentierte Welt durch Grundlagenforschung und spirituelle Weisheit neu synthetisieren müssen. Die Aufgabe eines Studium generale ist hier jene eines Weltbildlabors und einer Weltbildfabrik.
Zur Entwicklungsumgebung von novum studium generale
Die angeführten Texte zu den Fächern Erkenntnistheorie, Ontologie, Philosophie des Geistes, Kognitionswissenschaft, Negative Theologie, Handlungstheorie, Ethik, Ästhetik stehen im Horizont der kantischen kritischen Philosophie. Der Grund hierfür ist der folgenden einführenden Stellungnahme aus meinem Kantkommentar von 2003 zu entnehmen:
"Die Kritik der reinen Vernunft ist das Grundbuch der Philosophie der Moderne. Sie fokussiert als dessen Entwurf und zugleich Summe das kantische Denken, auch wenn wichtigen Themen des Werks von Kant weitere Untersuchungen gewidmet worden sind. Darüber hinaus ist die kantische Philosophie mit ihrem Fokus, der Kritik der reinen Vernunft, ihrerseits wieder der wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamste Brennpunkt der neuzeitlichen Philosophie: als Fluchtpunkt der Tradition und Ausgangspunkt der Moderne. Aufgrund der Globalisierung auch der philosophischen Forschung in den letzten Jahrzehnten kann diese Aussage heute internationale und interkulturelle Gültigkeit beanspruchen:
'Die Kritik der reinen Vernunft [...] hat Maßstäbe gesetzt für alle theoretischen wie praktischen Bereiche unseres Wissens, die bis heute bestimmend geblieben sind [...] Sie stellt und erörtert die Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik und führt sie zu einer Antwort, die im Prinzip bis heute Gültigkeit beanspruchen kann. Auch als neuer Entwurf in der Konzeption der sinnlichen Erkenntnis und in der Theorie der Erfahrungswissenschaften ist sie unüberholt [...] Kants philosophisches Gesamtkonzept erweist sich trotz vieler kritischer Gesichtspunkte, die an es heranzutragen sind ... als eine philosophische Leistung von kaum mehr erreichter Geschlossenheit und [...] ist auch für die heutige Generation Maßstab und Aufgabe des Denkens.' (Baumgartner: Kants „Kritik der reinen Vernunft”, Freiburg/München 1991, 11, 146)"
Die Leistungsfähigkeit der kantischen Theorie hinsichtlich begrifflicher Vereinheitlichung, Widerspruchsfreiheit und Erklärungskraft ist in Gegenüberstellung mit philosophischen Denkgebäuden zu erweisen, welche einen ähnlich umfassenden Anspruch erheben. Erstrangige Kandidaten hierfür sind etwa die Hermeneutik, Dialektik, Phänomenologie und die peircesche Pragmatik. Unsere These ist dabei nicht, dass das kantische Werk resp. die kantische Theorie nach Umfang und Gründlichkeit den genannten Ansätzen notwendig überlegen ist. Sie ist es oft im Einzelnen nicht, wie sie auch nicht die Logik, Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Tradition pauschal entwertet, die sie fortsetzt.
Das erhellt bereits daraus, dass Kant in einer deutschlandweiten Debatte um die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung seiner Kritiken diese als Verteidigung "für verschiedene ältere Philosophen" verstand; und ganz bewusst — trotz mancher Kritikpunkte — als "die eigentliche Apologie für Leibniz" und die Leibniz'sche Philosophie (AA VIII, 250—251). Leibnizens Spätphilosophie wiederum ist nichts anderes als eine moderne Rekonstruktion der Erkenntnistheorie und Metaphysik der platonisch-aristotelisch-scholastischen Tradition. Ganz explizit: Er hat diese in einem intensiven zehnjährigen Gedankenaustausch 1706—1716 mit dem Universalgelehrten und Jesuiten Des Bosses zur Reife gebracht, der jetzt in einer vorbildlichen Edition vorliegt: G. W. Leibniz: Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, Hamburg 2007.
Ludger Honnefelder und andere haben gezeigt, dass Kant wie die universitäre Philosophie des 18. Jh. auf dem Kontinent überhaupt einer Version der scotistischen Transzendentalphilosophie folgten. Siehe sein opus magnum: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus — Suárez — Wolff — Kant — Peirce), Hamburg 1990. Man kann sogar sagen, dass Kants kritische Wende und Philosophie ursprüngliche scotische Motive und Argumente erneuert, gegen deren rationalistische Überformung im 17./18. Jh. Gudrun Schulz zeigte, dass das in zentralen Punkten faktisch auch eine Annäherung an das gleichfalls rationalismuskritische thomistische Lager war: Veritas est adaequatio intellectus.et rei: zur Wahrheitslehre des Thomas von Aquin und zur Kritik Kants an einem überlieferten Wahrheitsbegriff, Leiden / New York / Köln 1993. Für Nichtphilosophen: Thomismus und Scotismus sind seit dem Hohen Mittelalter die weltweit bedeutendsten Schulen des Aristotelismus; eine dritte einflussreiche Schule, der Averroismus, bestand nur vom 13. bis 17. Jh.
Hierzu darf ich das Wort eines bekannten Wissenschaftstheoretikers und zeitweiligen Präsidenten der Kant-Gesellschaft einrücken, das er mir als Quintessenz seiner eigenen Überzeugungen mit auf den Weg gab: „Es gibt in der Philosophie viele Autoren, die man ohne Verlust vergessen kann. Und es gibt manche, bei denen man dies und jenes Richtige findet, wobei man an Kant oder Husserl denken mag. Aber es gibt nur einen, der immer und überall klar, widerspruchsfrei und gehaltvoll ist und von dem man stets profitiert: Thomas von Aquin.“
Man kann und sollte dieses Wort freilich ergänzen durch den Hinweis, dass sich in den letzten Jahrzehnten der wissenschaftsgeschichtliche Kontext der theoretischen und praktischen Philosophie Kants zu einem Schwerpunkt der Kantforschung entwickelte. Die gewonnenen Ergebnisse rechtfertigen wiederum die obige Behauptung, dass in ihr vor dem großen Traditionsbruch um 1800 noch einmal eine bis heute relevante Synthese der antiken, scholastischen und frühneuzeitlichen Tradition auf dem modernen Reflexionsniveau vorgenommen wird (siehe das Menu Erkenntnistheorie 'Immanuel Kant: Kritische Philosophie', Abschnitt und Verknüpfung: Forschungsschwerpunkte zur KrV 1995—2010). Wir haben gesehen, dass das auch genau Kants eigene Sicht auf seine Arbeit war.
Ein besonders sprechendes Zeugnis hierfür ist die Kritik Peter Miottis an der kantischen Philosophie. Der Wiener Philosoph und Theologe Miotti, bis zur Aufhebung 1773 Mitglied der Gesellschaft Jesu, war der Initiator für die 1827 erfolgte Indizierung der KrV durch die Römische Kirche. Er wandte sich dazu über den Nuntius an Papst Pius VII und setzte sich auch bei dem deutschen König und Römischen Kaiser Franz II. gegen Kant ein. Vgl. N. Fischer (Hrsg.): Kant und der Katholizismus, Freiburg / Basel / Wien 2005, 91—138. Miottis intellektuelle Leitfiguren sind v.a. die Empiristen Bacon, Newton und Locke. Sie haben die Philosophie als Metatheorie der mathematischen Naturwissenschaft gehandhabt und so "auf den blühenden Stand, auf den Gipfel" von heute gebracht: "Diese sind es, welche ... die ewigen Formen ... die willkürlichen Erklärungen, eingebildeten Hypothesen und angeborenen Begriffe der Aristoteliker, Platoniker, der Peripatetiker ... aus der Philosophie verbannt haben." (Über die Nichtigkeit der kantischen Grundsätze in der Philosophie, Wien 1798, 8—9) Auf dem Kontinent ist für Miotti der Aufklärer Christian Wolff der Maßstab wissenschaftlicher Philosophie inkl. der — von Aquinas, Scotus und Kant als unmöglich zurückgewiesenen — axiomatisch-deduktiven Mathematisierung der Metaphysik.
Sein Hauptvorwurf an Kant ist, dass er "denselben Philosophen den Krieg ankündigt, welche die Philosophie so glücklich emporgebracht haben und trachtet, was diese von den Alten ... verbannet ... haben, unter neuen Gestalten wiederum einzuführen." (a.a.O. 1798, 9) Die unverzeihliche Sünde Kants in den Augen Miottis ist also die Übertretung des Bannes Bacons und der neuzeitlichen empiristischen Philosophie über die Metaphysik Platons, Aristoteles' und der Scholastik. Kants moderne Aktualisierung der Motive und Lehrstücke dieser Metaphysik und Erkenntnistheorie ist ein Rückfall in die "unverständlichen Lehren" und die "unmöglichen, oder gar schädlichen Systeme" der Alten. Er hat den "von Baco von Verulam angezeigten ... Weg ... verlassen", um "einen neuen zu eröffnen, oder besser zu sagen, den uralten, und durch soviele Jahrhunderte ziellosen Weg der Platoniker, der Aristoteliker, der Peripatetiker neuerdings einzuschlagen." (a.a.O. 1798, 12)
Allerdings muss man sich im Klaren sein, dass diese für Kant selbstverständliche Kontinuität mit der Tradition bereits im ersten Augenblick der schulmäßigen Ausbildung des Kantianismus verlorengegangen zu sein scheint. Die Epigonen sahen paradoxerweise in Kant die Stunde Null der Philosophie. Damit ergibt sich als weiteres und zwar hermeneutisches Paradox, dass man für ein volles und nutzbringendes Verständnis Kants von der Tradition herkommen muss. Die besten Ergebnisse der Kantforschung zeigen das regelmäßig. Die sehr einflussreiche sogenannte metaphysische Kantforschung des 20. Jh. hat diese Einsicht zum Programm gemacht.
Unsere vorgenannte These besagt mithin in erster Linie, dass die kantische Theorie die leistungsfähigste kognitive Architektur der Neuzeit ist, die alle interessierenden Ebenen, Gegenstände und Gesichtspunkte unterscheidet und einbezieht: "Keine Grundlegungsschrift der modernen Philosophie verfügt über eine vergleichbare Komplexität", so "daß sich die Kritik [der reinen Vernunft] insgesamt wie eine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften liest" (Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 4. Aufl. 2004 [TB 2011], 18—19).
Das bedeutet noch einmal nicht, dass Kants Analysen und Sichtweisen im Einzelnen besonders exzellent wären und inhaltlich regelmäßig die differenziertesten und gründlichsten Lösungen böten. In aller Regel tun sie das nicht, wie auch z. B. Leibniiz in den meisten Gebieten Kant weit überlegen ist. Weiter zurück gilt dasselbe von Suarez, Thomas Aquinas und Aristoteteles Aber man kann sich das Werk Leibnizens, Suarez' usw. trotz deren Genialität und unerreichter Gelehrsamkeit dennoch nicht als die sich für uns hier und heute anbietende und unmittelbar zugängliche kognitive Architektur vorstellen. Selbst wenn man es versuchte, würde sich eine solche systematische Rekonstruktion nicht durchsetzen. (Gleiches gilt noch stärker für nachkantische Denker wie Fichte, Hegel, Husserl, Peirce, Carnap usw.) Bei Kant kann man sich das, wie Höffe zeigt, ohne weiteres vorstellen. Und die weltweite Wissenschaftsgemeinde hat ihn auch genau in dieser Perspektive rezipiert. Das hat sicher auch damit zu tun, dass das Systematische und Architektonische die besondere — und nach Meinung fast aller Kantforscher öfters auch überstrapazierte — Stärke Kants ist, während sich fast jede Einzelthese Kants bereits bei den näheren und entfernteren Vorgängern findet.
Deswegen bieten sich Kants Schriften an als Rahmen und Plattform einer vereinheitlichten Theorie der Kognition und Erfahrung. Analoges gilt von der kantischen Handlungstheorie und Ethik. Wie sich in vielen Situationen zeigen wird, erlauben sie insbesondere auch einen leicht nachvollziehbaren Zugang zur Tradition und eine zwanglose Aktualisierung derselben. Und sie sind eine bereits international und interkulturell eingeführte, aktive Diskussionsplattform für die systematische, fachübergreifende Behandlung von Sachfragen. Eine zusätzliche Erklärung für diese globale Präzenz der kantischen Kritiken und ihrer kognitiven Architektur mag auch in Folgendem liegen:
"Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt ein alter Anspruch der Philosophie eine neue Aktualität: Wo höchst unterschiedliche Kulturen dieselbe Welt nicht bloß wie bisher «im Prinzip», sondern für alle sichtbar miteinander teilen, dort braucht es eine auf ähnlich sichtbare Weise kulturunabhängige, nicht ethnozentrische, sondern inter- und transkulturell gültige Argumentation [...] Die Kritik [ist] als Versuch [zu verstehen], eine in theoretischer Hinsicht allen Kulturen gemeinsame Welt und eine ebenso allen gemeinsame Menschenvernunft auszuweisen. Der neuerdings beliebten Skepsis gegen die Möglichkeit eines kultur- und epochenunabhängigen Denkens, dem erkenntnistheoretischen Historismus, stellt Kant ein Wissen entgegen, das «für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat» (B 848). Er bündelt es im Begriff des synthetischen Apriori: einer nichtrelativierbaren, schlechthin kultur- und geschichtsunabhängig gültigen Erkenntnis. Mit ihm, dem Kern der einen epistemischen Welt, beginnt ein Programm, das für das Zeitalter der Globalisierung wichtiger als die sprachphilosophische Wende sein dürfte, weshalb diese zu Recht, etwa als formale Semantik, sich demselben Programm, der epistemisch einen Welt, anschließt." (Höffe a.a.O. 2011, 19—20)
Ich erinnnere bis heute den geradezu beschwörenden Appell einer chinesischen Professorin aus Hong Kong, welche Deutschland und die Kant-Forschungsstelle der Universität Mainz besuchte. Sie sah die Weltanschauung der besten chinesischen und menschlichen Tradition überhaupt in Ethos und Metaphysik der kantischen Philosophie gespiegelt. Es sei unsere Pflicht und Verantwortung, dies global stark zu machen gegen — realitätsfremde und schädliche — empiristische, physikalistische und utilitaristische Banalisierungen des westlichen Wissenschaftsbetriebes.
Umfassendes Weltbild als Interesse der Zeit
Otfried Höffe macht ferner auf den — für das Studium generale kaum zu überschätzenden — Punkt aufmerksam, dass in den Wissenschaften und im öffentlichen Bewusstsein gegenwärtig "das Interesse an wissenschaftsgestützten, umfassenden, ganzheitlichen Weltbildern in den Vordergrund tritt" (a.a.O. 2011, 22). Auch hier, so Höffe, "verspricht" Kants Alternative bzw. Lehre "deshalb Erfolg, weil sie die schwierige Gratwanderung zwischen einer Über- und einer Unterbewertung der Philosophie und zugleich die zwischen einem Über- und einem Unterschätzen der Naturwissenschaften vornimmt." (ebd. 20) Denn die bisherigen Anläufe der Wissenschaftsgemeinde, diesem neuen Schwerpunktinteresse 'Weltbild' gerecht zu werden, sind ernüchternd: "Weil die Philosophen dafür [= Entwicklung eines wissenschaftsgestützten umfassenden Weltbildes] aber seit längerem ausfallen, wird es vornehmlich von Naturwissenschaftlern übernommen, früher eher von Physikern, heute mit wachsendem Selbstbewußtsein von Lebenswissenschaftlern, etwa Gehirnforschern. Da sich die einschlägigen Philosophie-Debatten aber vom Alltagsverstand weit entfernt haben, droht die Gefahr, daß sich professionelle Fachkenntnisse mit philosophischem Dilettantismus verbinden und die ganzheitlichen Weltbilder naiv ausfallen. Die Alternative lautet, frei nach Platons Philosophenkönigssatz: Wenn nicht entweder die Naturforscher zu Philosophen werden oder die Philosophen sich gründlich mit der Naturforschung befassen und beides zusammenkommt, philosophische und naturwissenschaftliche Kompetenz, gibt es kein Ende des Unheils mit ganzheitlichen Weltbildern." (ebd. 22)
Nun, wenn man so will, hat man hier in nuce die ursprüngliche Einsicht von novum studium generale. Und auch die Motive, die dessen Gründer in den 1990er Jahren zur fachübergreifenden Grundlagenforschung in Philosophie — Logik & Wissenschaftstheorie — Psychologie — Neurowissenschaften unter Zugrundelegung der kantischen Architektur bewegten. Ein erstes Ergebnis derselben war mein Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. Interdisziplinäre Bilanz der Kantforschung seit 1945 [Kantstudien-Ergänzungsheft 141, hrsg. im Auftrag der Kant-Gesellschaft], Berlin/New York: Walter de Gruyter 2003. XX + 826 S. Es ist das seit ihrer Gründung 1904 umfangmäßig größte Werk der Kantstudien-Ergänzungshefte, der international erstrangigen Monographienreihe zur Kantforschung. Obwohl dementsprechend auch der hochpreisigste Band der Edition, wurde das Buch nach seinem Erscheinen sofort für ein Jahrzehnt das meistverkaufte Werk der Reihe. Das Buch kann als Keimzelle von novum studium generale betrachtet werden. Es ist auch und nicht zuletzt Interessenten "an wissenschaftsgestützten, umfassenden, ganzheitlichen Weltbildern" (Höffe) gewidmet. Und wenn Baumgartners, Höffes und meine Einschätzung richtig ist, dass bei allem Wenn und Aber die kantische Architektur die leistungsfähigste Entwicklungsumgebung für die Arbeit an einem wissenschaftlichen ganzheitlichen Weltbild ist, dann sprechen nicht wenige der seinerzeitigen Rezensionen dem Buch in dieser Hinsicht ein Alleinstellungsmerkmal zu:
"Der systematische Anspruch ist grundlegend [...] Eine außerordentlich anspruchvolle, ungemein detaillierte und auf fast alle Probleme, die in der einschlägigen Literatur behandelt sind, eingehende, imposante Neuinterpretation der KrV [...] die in der Orientierung an der gegenwärtigen empirischen Kognitionswissenschaft zu einer fast alle Aspekte der kantischen Theorie abdeckenden Stellungnahme geworden ist [...] Fortan für jede Beschäftigung mit der KrV unverzichtbar.” (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 52 [2004], 1015—1019 / H.-G. Hoppe) — "In der Tat ist seine Leistung phänomenal, sowohl betreffs der Fülle des beigezogenen und ... rezipierten Materials als auch hinsichtlich der Anforderungen, die an dessen Beherrschung gestellt werden. Dies wird von keinem anderen Kommentar erreicht. Natterer übertrifft dies aber noch einmal durch die Herausarbeitung von Kants Metatheorie der interdisziplinären Kognitionswissenschaft ... auf dem Hintergrund und im Rahmen der gegenwärtigen Kognitionsforschung."] (Tijdschrift voor Filosofie, Jg. 66 [2004], 356—357 / E. O. Onnasch) — "Für die Kognitionspsychologie ist Kants Kritik der reinen Vernunft die Metatheorie schlechthin. Es fehlt aber genau der Kommentar mit einer Verknüpfung zur Bio- und kognitiven Psychologie, den Sie geschrieben haben ... um Psychologiestudenten in dieses schwierige Gebiet einführen zu können." (Psychologisches Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 07.08.2003 / Prof. Dr. Jürgen Bredenkamp, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie)
Chronik von novum studium generale
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jh. habe ich darauf aufbauend den Begriff und die Inhalte der Denkfabrik und Wissenschaftspublizistik novum studium generale entwickelt. Dies geschah im Kontakt mit dem Studium generale der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Professor Andreas Cesana und Mitarbeiter), Prof. Dr. Mechtild Dreyer, Vizepräsidentin für Studium und Lehre der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Expertin zu Bildungstheorie und Studium generale des Mittelalters, Prof. Dr. Ludger Honnefelder (Universität Bonn), Experte der Bundesregierung, EU und der Kommission Science & Ethics von All European Academies [ALLEA] zur Entwicklung der modernen Wissenschaftskultur und deren ethischer Handhabung, Prof. Dr. Edward W. Zalta, Hrsg. der Stanford Encyclopedia of Philosophy (Stanford University), Prof. Dr. George Bealer, Vordenker der Intensionalen Logik und damit der logischen Formalisierung und Modellierung von Wissen (Yale University) sowie dem kognitionswissenschaftlichen Kantexperten Prof. Dr. Andrew Brook (Director of Institute of Cognitive Science, Carleton University, Ottawa). Bereits in den 1990er Jahren habe ich mich mit der Entstehungsgeschichte des europäischen Bildungssystems bei dem vielleicht besten Kenner und einflussreichsten Erneuerer des Studium generale der Antike und seiner Wirkungsgeschichte bis zur Gegenwart vertraut gemacht, Prof. Dr. Arbogast Schmitt (Universitäten Mainz und Marburg). Vgl. sein einschlägiges Grundbuch Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität (2008).
Vorteilhaft für das Vorhaben war ferner die institutionelle Einbindung in die Kant-Forschungsstellen der Universitäten Mainz und Trier. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang Herrn Professor Dr. Bernd Dörflinger (Universität Trier), Präsident der Kant-Gesellschaft, sowie Frau Dr. Margit Ruffing (Universität Mainz), Schriftleiterin der Kant-Studien. In einem Vortrag auf dem Forum Innovation der Frankfurter Buchmesse 2004 mit dem Titel 'Das Weltbild des 21. Jahrhunderts — Bildungsmanagement novum studium generale' habe ich die Idee von novum studium generale zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. An der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) habe ich im September 2009 eine weiterentwickelte Fassung im Rahmen der Organisation des „Hochschulzentrums für transdisziplinäres Wissen, Karriereplanung und Coaching” zur Diskussion gestellt.
Die Entwicklungsphase der Jahre 2005—2010 war dadurch gekennzeichnet, dass der Versuch unternommen wurde, die Konzeption des Studium generale in verschiedenen Variationen ausgehend von der kantischen Philosophie zu erörtern und zu verwirklichen. Die Kooperation mit der internationalen Kantforschergemeinschaft brachte dabei viele wertvolle Präzisierungen und Impulse, auch wenn diese Perspektive sich schlussendlich nicht durchsetzen konnte. Besonderer Dank gebührt in diesem Zusammenhang nicht zuletzt dem Interesse und Engagement Prof. Dr. Otfried Höffes, Eberhard Karls Universität Tübingen.
Im Jahre 2010 wurde 'Wissenschaftspublizistik novum studium generale — Liberal Education Publishing & Consulting' mit Beratung und Empfehlung der Bayerischen Industrie- und Handelskammer Aschaffenburg als eigenständige Firma und Denkfabrik etabliert.
Im Jahre 2019 ist Dr. Paul Natterer nach langer Krankheit von uns gegangen. Die Firma 'Wissenschaftspublizistik novum studium generale — Liberal Education Publishing & Consulting' wurde aufgelöst. Die auf diesem Portal sowie auf www.novstudgen.de veröffentlichten Inhalte bleiben weiterhin kostenfrei als nicht-kommerzielle Inhalte verfügbar.
Folgende Lesefrucht aus Hermann Hesses Glasperlenspiel (1943) erscheint geeignet, dem hier vorgestellten Material als verbindendes Motto vorangestellt zu werden [Foto links: Hesse-Denkmal in Calw]:
„Das feuilletonistische Zeitalter [...] hat ... dem Geist innerhalb der Ökonomie des Lebens und der Staaten nicht die ihm gemäße Stellung und Funktion anzuweisen gewußt [...] Man kämpfte sich ... durch eine Sintflut von vereinzelten, ihres Sinnes beraubten Bildungswerten und Wissensbruchstücken [...] Die Unsicherheit und Unechtheit des geistigen Lebens jener Zeit [19./20. Jh.] ... erklären wir Heutigen [21./22. Jh.] uns ... als ein ... Mißtrauen [des Geistes] gegen sich selbst, gegen seine eigene Kraft und Würde, ja gegen seine eigene Existenz [...] Es wurde ... die Erfahrung gemacht, daß wenige Generationen einer laxen und gewissenlosen Geisteszucht genügt hatten, auch das praktische Leben ganz empfindlich zu schädigen [...], daß auch die Außenseite der Zivilisation, die Technik, die Industrie, der Handel usw. der gemeinsamen Grundlage einer geistigen Moral ... bedürfen.” [Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel, Einleitung]
Hesse vertritt in diesem Zusammenhang eine These, die uns auf diesem E.Portal ebenfalls beschäftigen wird, wonach die Geschichte zeige, dass die römisch-katholische Orthodoxie der Garant Nr. 1 für die geistige Moral, Vernunft, Würde und Freiheit einer Zivilisation sei (vgl. Das Glasperlenspiel, Frankfurt am Main 1972, 185—186, 190). Und er macht eine doppelte prophetische Aussage, auf welche ebenfalls zurückzukommen sein wird. Einmal jene, dass im 20./21. Jh. die katholische Weltkirche eine Phase selbstzerstörerischen Niedergangs und tiefer Erniedrigung erfahren wird, was "die Unsicherheit und Unechtheit des geistigen Lebens" und die "laxe und gewissenslose Geisteszucht" dieser Zeit wesentlich bedingt und ermöglicht (ebd. 21, 23, 28). Dass die Kirche aber, dies die zweite Aussage, wieder erstarken und zusammen mit einer verantwortungsbewussten und institutionalisierten Bildungselite (Hesses Kastalien) "Ausgang einer neuen Selbstzucht und Würde des Geistes" werde, Basis und Wächterin des geistigen, moralischen, politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus.
Edition novum studium generale
Die Mehrzahl der Aufsätze und E-Books in den Menus des Netzportals ist inzwischen zusätzlich in Buchform und auf dem Buchmarkt erhältlich. Es ist beabsichtigt, alle Titel in gedruckter Form herauszugeben und zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht in der Hauptsache durch eine hierfür eingerichtete Edition novum studium generale. Der führende Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter Berlin / Boston hätte die 10-bändige 'Edition novum studium generale' gerne verlegerisch betreut. Dem standen jedoch unterschiedliche Vertriebskonzepte entgegen, so dass für diese Edition nun das ergänzende Portal Wissenschaftspublizistik novum studium generale aufgebaut wurde: www.novstudgen.de.
Die Buchreihe novum studium generale
Die Produktlinie novum studium generale ist konzipiert als interdisziplinäre Handbuchreihe in 10 Einzelbänden: Bausteine der Erkenntnistheorie — Philosophie der Logik — Philosophie der Physik — Philosophie der Biologie — Philosophie des Geistes — Philosophie der Transzendenz — Handlungstheorie und Ethik — Klassische und moderne Rhetorik — Religionsphilosophie der Frühgeschichte — Religionsphilosophie seit der Zeitenwende. Dazu treten Sonderdrucke und sonstige zugeordnete Medien. Damit ergibt sich folgendes Profil, welches ein wissenschaftspolitisches Desiderat beantwortet:
Leitmotiv von novum studium generale
Im letzten Jahrzehnt wurde das Studium generale zur strategischen Zielvorgabe der Hochschulen. So fordert das 'Rahmenprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) für eine zukunftsfähige innovative Gesellschaft 2006' "einen ganzheitlichen Ansatz [...] sowie die Fähigkeit zur inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit“.
Vision von novum studium generale
„Das Studium generale erfüllt in besonderer Weise den Bildungsauftrag der Hochschulen […] Dabei zielt es vor allem auf (i) die Erweiterung des Fachwissens durch Vernetzung und Grenzüberschreitung von Wissensgebieten, (ii) die Vermittlung historischer und zukunftsbezogener Sichtweisen, (iii) die Vermittlung reflektierender und intellektueller Analysen, (iv) die Entwicklung … von sozialer, kultureller und ethischer Kompetenz“ (Gemeinsame Präambel der Sächsischen Hochschulen für das Studium generale).
Kernkompetenz von novum studium generale
Inhaltliche Schlüsselqualifikationen (Prinzipienkompetenz) alias strukturiertes Orientierungswissen in einem mentalen Koordinatensystem als zweites Standbein der Persönlichkeitskompetenz neben den formalen Schlüsselqualifikationen.
Zielgruppe von novum studium generale
Zielgruppe des Netzportals sind Studierende, Postgraduierte und Dozenten sowie Bildungsinteressierte mit entsprechenden Vorkenntnissen. Aus der Ausgangslage und Aufgabenstellung von novum studium generale folgt, dass dasselbe soweit möglich allgemeinverständlich sein sollte, aber namentlich in der Anfangsphase diesem Ziel keine oberste Priorität einräumen kann. Innovative Ideen und Inhalte des Bildungs- und Wissenschaftssektors sind sinnvollerweise erst auf der obersten Ebene von Forschung und Lehre in Stellung und zur Geltung zu bringen, um auf nachgeordneten Ebenen Ernst genommen zu werden.
Hintergrund von novum studium generale
Die Produktlinie der Edition novum studium generale trägt der Beobachtung Rechnung, dass die bestehenden Angebote zum Studium generale der pluralistischen Aufsplitterung der universitären Disziplinen kein schlüssiges inter- und transdisziplinäres Konzept entgegensetzen, sondern diese eher wie in einem Kaleidoskop spiegeln. Ich habe während Jahrzehnten das sehr gut ausgebaute Studium generale an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beobachten können, dem in Deutschland eine Vorbild- und Leitfunktion zugesprochen wird. Auch hier beschränkt sich der systematische Anspruch auf eine lockere Schwerpunktbildung je Semester. Methodisch verbleibt man auf diese Weise — wenn auch auf hohem Niveau — in isoliertem Fachwissen und unzusammenhängendem Allgemeinwissen. Die hier vorgelegte Produktlinie entwickelt Materialien und Plan eines alternatives Studium generale, das auf ein mentales Koordinatensystem und damit eine Architektur des Wissens für strukturiertes Bildungswissen (Orientierungswissen) abzweckt.
Inzwischen wird das Studium generale an manchen Orten wie der angesehenen Bucerius Law School (Hamburg) durchaus schwerpunktmäßig und verpflichtend auf ein solches Bildungswissen gleich inhaltliche Schlüsselqualifikationen ausgerichtet. Es wird bestimmt als "ein breites Kontext- und Orientierungswissen, mit dem generalistisches Denken geschult und Reflexionsvermögen sowie interdisziplinäre Diskursfähigkeit und Problemlösungskompetenz gefördert werden [...] Der Philosophie als derjenigen Wissenschaft, die grundlegende Fragen über die Welt und die menschliche Existenz stellt und diese Fragen grundlegend zu beantworten sucht, kommt im Studium generale der Bucerius Law School besondere Bedeutung zu". Die dort Studium personale genannten formalen Schlüsselqualifikationen besetzen den zweiten Rang und sind nicht verpflichtend. Allerdings machen die eingesetzten Ressourcen, Programme und Methoden eher den Eindruck eines Baustoffhandels mit unterschiedlichstem Baumaterial zu einer Architektur des Wissens und nicht den einer Bildungsarchitektur im strengen Sinn. Ohne eine solche ist es unseres Erachtens jedoch nicht möglich, den anstehenden Herausforderungen überzeugend und wirksam zu begegnen.
Vieles spricht dafür, dass die weltweite Anziehungskraft und überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit sowohl des deutschen humboldtschen Bildungswesens im 19. und frühen 20. Jh. als auch der angelsächsischen Studienkultur seit Mitte des 20. Jh. auf weiterbestehenden Traditionen des studium generale beruht[e], die ansonsten in den kontinentalen Traditionsbrüchen von der napoleonischen Epoche bis zur 68er Ära mehrheitlich aufgegeben wurde:
„Deutsche Bildungspolitiker berufen sich gerne auf das anglo-amerikanische Universitätssystem als großes Vorbild. Es lohnt sich daher, einen näheren Blick darauf zu werfen. In anspruchsvollen anglo-amerikanischen Bachelor-Studiengängen geht es darum, intellektuelle Disziplin zu fördern, nicht, zumindest nicht in erster Linie, auf eine spätere berufliche oder fachliche Karriere vorzubereiten [...] An den ‚Elite-Universitäten‘ in den USA steht im Undergraduate-Bereich [...] nicht praktisch verwertbares Wissen ..., sondern ‚freies‘ Wissen und formale Bildung [im Vordergrund]. Die ‚liberal education‘, historische Nachfolgerin der mittelalterlichen ‚artes liberales‘, der ‚freien Künste‘, ist in einem dreifachen Sinne eine ‚freie‘ Erziehung: frei von vorgeschriebenem Standardwissen, frei vom Marktdruck unmittelbarer Verwendbarkeit und frei für die Bedürfnisse des Individuums. Es ist nachgerade die Distanz der Zielsetzung gegenüber kurzfristigen ‚Markterfordernissen‘ seitens der englischen und US-amerikanischen Ausbildungsziele auf der Undergraduate Ebene, welche einer der Gründe für den Erfolg dieser Universitäten ist. [Es] wird die seit der Antike bestehende Einsicht verwirklicht, dass der Terminus ‚wissenschaftlich‘ in erster Linie ... das Können meint, sich selbständig und anspruchsvoll mit Fragen und Problemen zu befassen.“ (Professor Jan Beckmann: Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen Universitätssystems. Vortrag 13.12.2007, Fernuniversität Hagen, auch unter www.information-philosophie.de)
Beckmann macht allerdings ebenfalls klar, dass diese Tradition der liberal education anspruchsvolle Voraussetzungen hat, die auch in früheren Epochen in der Regel nur an erstrangigen Hochschulen und wissenschaftlichen Akademien erarbeitet wurden. Wichtig ist nur, dass sie im Bildungssystem überhaupt durch eine Elite angemessen erarbeitet, repräsentiert und an die breite Masse der Hochschulen weitergegeben wird. Die Streitschrift des Marburger Philosophen und Kantforschers Reinhard Brandt: Wozu noch Universitäten?, Hamburg 2011, stellt dies für Europa in Frage. Anlass der großen Widerhall findenden Veröffentlichung war die "durch kein Parlament je gebilligte Bologna-Reform" der Hochschulen nach 1999, die Brandt als "Vorwand für eine bürokratische Betonierung des Studiums auf Provinzniveau" sieht. Bildungspolitischen Vorrang hat seitdem die politische Theologie der westlichen Zivilreligion und deren Normensystem der politischen Korrektheit.
Letzteres gilt noch stärker für die USA, weshalb der angesehene Moralphilosoph Alasdair MacIntyre urteilt, dass auch dort inzwischen "even the best of ... universities" die liberal education aufgegeben haben und deswegen streng genommen die Idee der Universität nicht mehr verwirklichen:
"Whatever pattern of courses is taken by an individual, it is unlikely to be more than a collection of bits and pieces, a specialist’s grasp of this, a semispecialist’s partial understanding of that, an introductory survey of something else. The question of how these bits and pieces might be related to one another, of whether they are or are not parts that contribute to some whole [...] not merely commonly goes unanswered, it almost always goes unasked [...] Ours is a culture in which there is the sharpest of contrasts between the rigor and integrity with which issues of detail are discussed within each specialized discipline and the self-indulgent shoddiness of so much of public debate on large and general issues of great import [...] One reason for this contrast is the absence of a large educated public, a public with shared standards of argument and inquiry and some shared conception of the central questions that we need to address." (The End of Education: The Fragmentation of the American University. In: Metanexus, 20.03.2007)
MacIntyre schlug deswegen eine Reform des universitären Lehrplans vor, unter der Leitidee eines dreijährigen integrierten Studium generale vor einer ev. wissenschaftlichen Spezialisierung. Seine Skepsis hinsichtlich der Umsetzung hat sich allerdings bewahrheitet: Wer die Studien-Curricula am MIT, in Harvard, Yale etc. ansieht, wird sie in weltbildrelevanten Fächern unverändert als eine "collection of bits and pieces" wahrnehmen. Das alles bestätigt, dass die Eigengesetzlichkeit und systemimmanente Trägheit eines durch langjährige Defizite gezeichneten institutionellen Umfeldes erfahrungsgemäß weder von innen heraus noch von außen her wesentlich beeinflusst werden können, sondern nur durch neue aktive Entwicklungszentren an den Rändern des betreffenden Sozialsystems: novum studium generale. Brandts o.g. Schrift diskutiert deswegen als mögliches Extremszenario gar "die Auflösung der Universitäten und die Rückkehr in den freien Zustand der Antike mit Lehr- und Lerngebilden allen Zuschnitts".
Persönlichkeitskompetenz und Schlüsselqualifikationen
Zu Idee, Zweck und Plan eines Studium generale überhaupt siehe über das hier Gesagte hinaus das weiterführende Menu Studium generale. Hier nur soviel: Man unterscheidet in Bildung und Beruf drei große Kompetenzfelder: Persönlichkeitskompetenz — Fachkompetenz — Berufskompetenz. Im Zusammenhang des Studium generale interessiert nun besonders die Persönlichkeitskompetenz, welche sowohl inhaltliche Schlüsselqualifikationen umfasst: Prinzipienkompetenz, und andererseits formale Schlüsselqualifikationen: Methodenkompetenz i.w.S.
Letztere, formale Schlüsselqualifikationen sind:
(i) Methodenkompetenz i.e.S., d.h. Logisch-analytisches Denken — Wissenschaftliches Arbeiten — Rhetorik & Argumentation;
(ii) Selbstkompetenz, d.h. Motivation — Leistungsbereitschaft — Zeitmanagement — Zuverlässigkeit;
(iii) Sozialkompetenz, d.h. Kooperations- & Kommunikationsfähigkeit — Emotionale Intelligenz — Führungskompetenz;
(iv) Organisations- und Managementkompetenz, d.h. Grundlagen BWL — Businessplan / Projektplanung / Qualitätskontrolle — Nachhaltigkeitsmanagement.
Das Studium generale zielt nun andererseits nach unserem Ansatz genau auf die ersteren inhaltlichen Schlüsselqualifikationen ab oder auf Prinzipienkompetenz. Dazu zählt
(i) Bildungswissen, d.h. die Vermittlung eines mentalen Koordinatensystems durch strukturiertes interdisziplinäres Orientierungswissen;
(ii) Philosophie, d.h. ganzheitlich reflektiertes Orientierungswissen als Bedingung von Sinn;
(iii) Ethik und Spiritualität, d.h. Prinzipien, Faktoren und Ebenen der praktischen Philosophie und moralischen Handelns sowie der Transzendenz und Religion;
(iv) Unternehmerische Gemeinwohlverantwortung, d.h. einmal — in institutioneller Hinsicht — die so genannte Corporate social responsibility (CSR) plus — in individueller Hinsicht — das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns. Beides definiert die ethische Basis von BWL/VWL als Ausrichtung an sozialer/wirtschaftlicher/ökologischer Nachhaltigkeit.
Das folgende Schaubild fasst diese grundlegenden Begriffe und Zusammenhänge zusammen. Es wurde ursprünglich für eine Präsentation entwickelt, welche ich 2009 an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) — im Rahmen der Organisation des „Hochschulzentrums für transdisziplinäres Wissen, Karriereplanung und Coaching” — vorgetragen habe: