Das Menu "Philosophie der Logik" ist auch als Buch erhältlich. Der Titel ist Natterer, Paul: Philosophie der Logik. Mit einem systematischen Abriss der Kant-Jäsche-Logik [= Edition novum studium generale 2], Norderstedt 2010, 328 Seiten. Mit einer Farbtafel. Verkaufspreis 29,50 € [ISBN 978-3-8423-3405-2].
Der Band bietet in fünf Kapiteln die fünf Untermenus des E-Buches "Philosophie der Logik". Im Anhang wird das Papier "Rekonstruktion und Diskussion von Jaakko Hintikkas Semantics for Propositional Attitudes" abgedruckt.
Gegenstand und Zielsetzung des E-Buches
Kantischer Ansatz der Philosophie der Logik
Von einer neuen Darstellung der Philosophie der Logik kann man verlangen, dass ein Gesichtspunkt angegeben wird, unter dem die Neubearbeitung des Stoffes zu rechtfertigen ist. Dieser Gesichtspunkt ist folgender. Die logische Grundlagenforschung der Gegenwart erschließt der Logik wieder ihr gesamtes traditionelles Gebiet als Prinzipientheorie oder Grundwissenschaft bzw. Theorie der Kognition überhaupt: Die nachklassische [intensionale/modale] formalisierte Logik beabsichtigt die logische Analyse und Einbeziehung aller Leistungen und Gegenstandsbereiche der Kognition in einem universellen Formalismus. Wegen des umgreifenden Anspruches wird auch die Bezeichnung 'Philosophische Logik' verwendet.
Gabbay/Guenthner: Handbook of Philosophical Logic, Bd. IV: Topics in the Philosophy of Language, Dordrecht/Boston/London 1989, und Gabbay (ed.) What is a Logical System?, Oxford 1994, informieren hier allgemein über die aktuelle Diskussion in der Logik. Die klassische Einführung ist Hughes / Cresswell: An Introduction to Modal Logic, London 1968 [dt: Einführung in die Modallogik, Berlin / New York 1978]. Neue Darstellungen bieten L. Goble (ed.): The Blackwell Guide to Philosophical Logic, New York 2001, und Stuhlmann-Laeisz: Philosophische Logik, Paderborn 2002. Auf Seiten der Wissenschaftstheorie finden sich entsprechende Orientierungen bei Popper: Logik der Forschung, 9. Aufl. Tübingen 1989, 31—46, 376—396; Carnap: Meaning and Necessity, 2. Aufl. Chikago 1956; Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, München 1991, Bd. I, 27—124. In der Linguistik ist zu vergleichen Dascal/Gerhardus et al. (Hrsg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung [= HSK (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft) 7.1 und 7.2], Berlin/New York 1996.
Im Blick auf eine philosophische Klärung und Einordnung [= Philosophie der Logik] der nachklassischen formalisierten Logik [= Philosophische Logik] ist immer noch grundlegend Thomas M. Seebohms Philosophie der Logik [Handbuch der Philosophie Bd. 5], Freiburg/München 1984. Der Sammelband von D. Jacquette / D. Gabbay / J. Woods / P. Thagard (eds.): Philosophy of Logic [Handbook of the Philosophy of Science series], Amsterdam 2007, kann derzeit quantitativ (1202 S.) und qualitativ als Standard gelten.
Zur Formalisierung des Denkens in der Logik gesellt sich in der Gegenwart die Simulation des Denkens in der Kognitionswissenschaft (KW) als angewandter Logik oder Semiotik. Die Kognitionswissenschaft ist so als technisches Pendant der logischen Theorie der Kognition anzusprechen.
Die hier auf allen Ebenen der Logik und/oder Kognitionswissenschaft anstehenden Herausforderungen sind insbesondere die Dimensionen der Pragmatik (epistemische Intentionalität und Temporalität) und der Begriffsanalytizität (Intensionalität: Bedeutungs- oder Sinnanalyse). Die nachklassische logische Grundlagenforschung der Gegenwart arbeitet daher seit den 60er Jahren des 20. Jh. systematisch an intentionalen und intensionalen Fragestellungen. Auch das aus Logik, KI, Linguistik, Kognitionspsychologie und Neurophysiologie zusammenwachsende Forschungsprogramm der Kognitionswissenschaft sieht in Wissensrepräsentation, Begriffsbildung, und der „Entwicklung einer Bedeutungstheorie ... ‘the most pressing task“ (vgl. Dascal/Gerhardus (Hrsg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung [= HSK 7.2], Berlin/New York 1996, 964).
Diese Neue Logik (New Logics) stellt sich den selben Herausforderungen und thematisiert denselben Gegenstandsbereich wie die kantische Kognitionstheorie als Synthese von transzendentaler kategorialer Grammatik und objektsprachlicher wie metasprachlicher Begriffslogik. An der Immanuel Kant-Universität in Kaliningrad (Königsberg) wurde ein eigenes Forschungsprogramm „Logische Kantforschung“ eingerichtet, dessen Zielsetzung „die Erschließung des heuristischen Potentials der Kantischen Philosophie für gegenwärtige Forschungen auf dem Gebiet der Logik, Linguistik und ‘künstlichen Intelligenz’“ ist. Die Tagung „Logische Kantforschung – 3“ (1991) betonte die „Perspektive der ... Verwendung der Kantischen Intelligenztheorie zum Aufbau von Systemen der künstlichen Intelligenz. Es wurde auch die enge Verbindung zwischen der von Kant ausgearbeiteten Methode der Analyse der Abhängigkeit von Wissenscharakteristiken von der Tätigkeit des erkennenden Subjekts und den gegenwärtigen Methoden der Berücksichtigung von Charakteristiken des Subjekts in epistemischen, dynamischen und programmatischen Logiken betont.“ (Bryushinkin: Kants Philosophie und moderne Logik. Eine Tagung in Swetlogorsk. In: Kant-Studien 85 (1994), 85—87, bes. 87) Claudio LaRocca, Präsident der italienischen Kant-Gesellschaft, hat analog in Kants Theorie das Zusammenspiel intensionaler, extensionaler, dynamischer und epistemischer Gesichtspunkte herausgearbeitet (Esistenza e giudizio. Linguaggio e ontologia in Kant, Pisa 1999). [Foto oben: N. Rescher (* 1928), University of Pittsburgh, führender Logiker, Wissenschaftstheoretiker und Vordenker der Kohärenztheorie der Wahrheit, der ebenfalls die kantische Theorie für die aktuelle Diskussion fruchtbar macht, z.B. in: Kant and the Reach of Reason, Cambridge 1999]
Formal lässt sich das Gesagte auch so formulieren, dass die nachklassische Modallogik (i.w.S.) eine Propositionale (Modal-)Logik ist, welche zur klassischen Aussagenlogik und Prädikatenlogik epistemische, zeitliche, intensionale, deontische Propositionen (nicht per se wahrheitswertfunktionale inhaltliche Aussagen) hinzufügt, und zwar in Form von dass-Klauseln: es ist notwendig, dass ...; x weiß, dass ...; es gilt in Zukunft immer, dass ...; es ist erlaubt, dass ... etc. Der Termbereich der Logik richtet sich demgemäß nach der formallogischen Möglichkeit und nach Zeit, Ort, Sprecher, Gegenstand. Faktisch wurden diese Gebiete freilich von Anfang der Logik an behandelt, so in der Antike die Modallogik i.e.S. in den Ersten Analytiken des Aristoteles. Im Mittelalter in der semantisch-grammatisch-pragmatischen Signifikations- und Suppositionslogik und in der modallogisch argumentierenden scotischen Transzendentalphilosophie. Duns Scotus wirkte über Suarez weiter auf Leibniz (und Wolff), von dem die nachklassische Semantik Name und Sache der Möglichen Welten entlehnte, sowie auf Peirce und Husserl.
Vgl. zur Logikgeschichte Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus –Suárez – Wolff – Kant – Peirce), Hamburg 1990, sowie ders.: Die „Transzendentalphilosophie der Alten“: Zur mittelalterlichen Vorgeschichte von Kants Begriff der Transzendentalphilosophie. In: Proceedings of the Eigth International Kant Congress, Memphis 1995, I, Milwaukee 1995, 393—407; Knuuttila: Modal Logic in the Middle Ages, London 1993; Boh: Epistemic Logic in the Middle Ages, London 1993; Schulthess: Die Bedeutung von Bedeutung. Ein Annäherungsversuch aus frühscholastischen Quellen. In: Freiburger Zs. f. Philos. u. Theol. 46 (1999), 388—418; Perler: Theorien der Intentionalität im MIttelalter, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2004; Lu Jiang: Ockhams Theorie der Modalitäten: Metaphysische, natürliche und historische Notwendigkeit, Berlin 2016.
Kognitionswissenschaft als Pendant der Logik
Entsprechendes gilt von der Kognitionswissenschaft. Brook: Kant and the Mind, Cambridge 1994, arbeitet die Konvergenz zwischen der kantischen Kognitionstheorie und der aktuellen Kognitionswissenschaft heraus. Kants Kognitionstheorie als „abstract conceptual map of the mind“ sei nicht nur nicht überholt, sondern umfassender und tiefer als zeitgenösssiche Theorien des Geistes (1994, 258). Kant sei der intellektuelle Übervater der Kognitionswissenschaft (1994, 12), die drei zentrale Einsichten Kants adoptiert habe, auch wenn aufgrund materialistischer Vorurteilsstrukturen die praktische Integration nachhinke. Es sind (1) die epistemologische Unterscheidung und Relation zwischen Begriff und Anschauung; (2) die methodologische Integration der transzendentalen Argumentation; (3) das Modell des Geistes als System begriffsverwendender Funktionen zur Manipulation von Repräsentationen (1994, 14—15).
Vgl. ansonsten Gabbay / Hogger / Robinson (eds.): Handbook of Logic in Artificial Intelligence and Logic Programming, 4 Bde., 2. Aufl. Oxford 1996; Churchland, P. M.: A Neurocomputational Perspective. The Nature of Mind and the Structure of Science, Cambridge (Mass.) / London (Engl.) 1992; Waxman: Kant’s Model of the Mind, New York/Oxford 1991; Müller: Logik, Zeit und Erkennen. Zum Problem der formalen Darstellung der Dynamik und der Temporalität des Erkennens bei Charles S. Peirce, in zeitgenössischen Logiken und in der Kognitionswissenschaft, Diss. Mainz [zugleich: (1999) Die dynamische Logik des Erkennens von Charles S. Peirce, Würzburg].
Es wurde jedoch bis heute kein Versuch vorgelegt, die kantische kognitive Architektur vollständig und systematisch auf die Grundlagenforschung der Gegenwart in Logik und Kognitionswissenschaft anzuwenden. Das Ergebnis wäre als eine kantische Philosophie der Logik i.w.S. anzusprechen. Dies ist nun genau der Gesichtspunkt, unter dem vorliegende Philosophie der Logik unternommen wird.
Voraussetzungen und Vorarbeiten
Die Möglichkeit hierzu bot sich durch die Vorarbeiten im Zusammenhang meiner Forschungsmonographien Identität und Systemstelle der Psychologie und Formalen Logik in der kantischen Theorie der Erfahrung, Mainz 1999, und Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin / New York 2003. Methodisches Prinzip des Systematischen Kommentars war die schrittweise Rekonstruktion der Genese der Kognition in einer vereinheitlichten Theorie. Eine fundamentale Herausforderung, der in den Kapiteln 13—16 zur Begriffsbildung und in den Kapiteln 17—22 zur Metaphysik Kants nachzugehen und die systematisch aufzuarbeiten war, war die Bestimmung der Aufgaben und der Systemstellen der formalen Begriffslogik im realen Verstandesgebrauch, d.h. des mittelbaren Gegenstandsbezugs – nach inhaltlichem Ursprung und Anwendung – der kantischen formalen Logik. Erst nach dieser Aufarbeitung war auch genau und umfassend die Bestimmung der Aufgabe der formalen Begriffslogik in der transzendentalen Topik der kantischen Theorie der Erfahrung möglich – mit anderen Worten: die Verhältnisbestimmung von formaler und transzendentaler Logik.
Die dabei zu Tage tretende kantische kognitive Architektur zeigte sich als ein leistungsfähiger Rahmen der aktuellen Philosophie des Geistes und Kognitionswissenschaft. Insbesondere wurde die These der spezifischen Kompetenz der kantischen intensionalen Begriffslogik als nicht delegierbarer Prämisse für die klassische und nachklassische formalisierte Logik formuliert und begründet. Hier kann nur informell darauf hingewiesen werden, dass folgende kognitiven Leistungen ohne Inanspruchnahme der Begriffslogik kantischen Typs nicht möglich sind.
(i) Abstraktive Gewinnung der elementaren Grundbegriffe (Prädikatoren) durch begriffliche Diskriminierung und Identifizierung von qualitativen Variablen: qualitative Prädikate, und qualitativen Merkmalsträgern: referentielle Objektbegriffe (= empirisches Begriffsbildungsverfahren und semantische objektive Einheit der Apperzeption); (ii) Synthese und Analyse zusammengesetzter Begriffe (= Definitionsregeln); (iii) Logisch-semantische Grammatik (= syntaktische Formungsregeln); (iv) Abduktiv-induktive Bestimmung der realen strukturellen und prozessualen Begriffsrelationen (= Prädikatorenregeln); (v) Identifizierung und Systematisierung von Transzendentalien, Abstraktoren und Reflexionsbegriffen (= transzendentale, formale und pragmatische Metakategorien)
Sprachlogik und kantische Philosophie
Logik und Sprache
Für eine Philosophie der Logik von kantischen Grundlagen aus ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Sprache in der kantischen Theorie von besonderer Bedeutung. Dies einmal deswegen, weil dieses Verhältnis in der stark lingualistisch geprägten Gegenwart besondere Aufmerksamkeit beansprucht. Hierauf ist einzugehen. Dann wird die nachklassische formalisierte Logik der Gegenwart nicht zu Unrecht als Sprachlogik bezeichnet. Als solche will sie alle in der Sprache vorfindlichen kognitiven und semiotischen Leistungen und Ebenen logisch bewältigen und formalisieren. Die klassische formalisierte Logik der Frege-Russell-Tarski-Tradition ist dagegen mathematische Logik. Sie beansprucht lediglich die Formalisierung und logische Behandlung mathematischen (und mathematisch-naturwissenschaftlichen) Denkens und Beweisens.
Vorwurf der 'Sprachlosigkeit'
Hier findet sich nun in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der kantischen Philosophie von Anfang an der sehr massive Vorwurf, Kant habe die Sprache und ihre Logik in fast einzigartiger und unseriöser Weise vernachlässigt. Dieser Vorwurf wurde sogar besonders nachdrücklich aus dem Schüler- (Herder) und Freundeskreis (Hamann) Kants heraus formuliert. Hamanns postume Metakritik über den Purism der Vernunft klagt Kant eines dreifachen „Purismus“ an: Des Purismus bzw. der Austreibung (1) der Erfahrung, (2) der Tradition, (3) der Sprache. Vgl. ähnlich Strawson: The Bounds of Sense, London 1966, 151; Schönrich: Kategorien und transzendentale Argumentation. Kant und die Idee einer transzendentalen Semiotik, Frankfurt/M. 1981, 73—77, 279; und Dascal: The dispute on the primacy of thinking or speaking. In: Dascal, M./Gerhardus, D. et al. (Hrsg.) (1996) Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung [= HSK (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft) 7.1], Berlin/New York, 1032. Die aktuelle Diskussion zu Hamann und Herder bei Villers ist besonders aufschlussreich: Kant und das Problem der Sprache. Die historischen und systematischen Gründe für die Sprachlosigkeit der Transzendentalphilosophie, Konstanz 1997, 233—246, 267—274. Villers sieht in Kant sogar den „End- und Höhepunkt des ... Ausweichens der abendländischen Philosophie vor dem Problem der Sprache“ (1997, 370).
Die antisophistische Sprachkritik der griechischen Philosophie hatte bekanntlich als problematische Nebenwirkung das z.B. von Cicero heftig bedauerte „discidium cordis et linguae“ zur Folge, d.h. den Gegensatz von Philosophie und Philologie, von Logik und Rhetorik. Villers versteht sich als engagierten zeitgenössischen Vertreter der Rhetorik als Gegentradition zur Philosophie – in der Nachfolge Ciceros, der Humanisten und Vicos sowie der Romantiker (Hamann, Herder, Fr. Schlegel, W. v. Humboldt). Villers meint nun, das Grundproblem der Philosophie Kants, die Verbindung von Anschauung und Begriff, sei ein „Scheinproblem“ (1997, 401) und in der Sprache bereits aufgehoben (1997, 378). Villers erneuert so die dreifache Anklage Kants durch Hamann und Herder gegen das Programm der reinen Vernunft: Der Mensch ist Produkt von Natur und Kultur und in letzterer Hinsicht ein Produkt der Sprache, der Sozialität und der Tradition (Geschichte).
Nun, Kant kann die Frage nicht mit der empörenden intellektuellen Unbedarftheit angegangen sein, die ihm viele Kritiker unterstellen. Dies ergibt sich schlicht aus seiner Biographie. Denn nicht nur ist seine besondere Begabung, andauernde Neigung und große Liebe zu Sprache und Philologie bekannt, sondern er schwankte sogar bis in die Jahre seiner universitären Ausbildung zwischen dem Berufsziel der Philosophie und der Klassischen Philologie. In seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen handhabte er routiniert Form und Ausdruck klassischer sprachlicher Bildung. Belege sind z.B. die von Kant professionell und wirkungsvoll eingesetzten literarischen Stilmittel wie Metaphern und Allegorien sowie Gedankenfiguren (vgl. z. B. in der Kritik der reinen Vernunft die Vorrede der 1. Auflage (A IX); die Einleitung des Kapitels Phaenomena und Noumena (A 235—236 / B 294—295, oder den Beginn der Methodenlehre (A 707 / B 735). Siehe für weitere Belege Otfried Höffes Kants Kritik der reinen Vernunft, München 52011, 319—330. Dazu tritt die regelmäßige Behandlung der Zeichenlehre oder Semiotik mit der linguistischen facultas characteristica in den kantischen Metaphysikvorlesungen, und Kants vorherrschende Beschreibung der transzendentalen Logik als transzendentale Grammatik, die den Natürlichen Sprachen als deren logische Syntax zugrundeliegt.
Sprachlogik bei Kant
Doch die hier zu formulierende und zu begründende These ist noch viel stärker. Wir meinen: Entgegen o.g. Vorurteilsstrukturen bedenkt die kantische Theorie die Dimension der Sprache sehr wohl und bietet sogar einen leistungsfähigeren Rahmen als lingualistische Standpunkte. Dies wird ohne weiteres deutlich, wenn die Sachfragen zur Erörterung kommen, um die es Kant vor allem geht, etwa die Natur mentaler Repräsentationen, die als eine der wichtigsten, bis heute ungelösten Fragen in der Sprachlogik angesehen wird (vgl. Dascal a.a.O. 1996, 1032), als das vielleicht in allen Wissenschaften am schwierigsten zu lösende Problem (so Eysenck/Keane: Cognitive Psychology. 5. Aufl. Hove and London-Hillsdale 1992, 201). Es ist bezeichnend, dass bei dem schärfsten zeitgenössischen Kritiker Kants von sprachphilosophischer Seite, J. G. Herder, die Theorie der Entstehung und Struktur der Sprache der Sache nach praktisch zusammenfällt mit der kantischen Theorie des Begriffs als Merkmals, und der Theorie des empirischen Begriffsbildungsverfahrens (vgl. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (hrsg. v. E. Heintel), Hamburg 1960, 3—26). Dass und wie dieses Zusammenfallen sachlogisch begründet ist, zeigt Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl. Tübingen 1990, 432—442).
Außerdem ist es historisch schlicht falsch, Kant hätte sich mit Sprachphilosophie und mit den in deren Namen gegen ihn vorgetragenen Kritiken Hamanns (Metakritik über den Purism der Vernunft) und Herders (Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft) nicht beschäftigt. Kants bewusste Auseinandersetzung mit Hamann dokumentiert Butts: Kant and the double Government. Methodology – Supersensibility and Method in Kant’s Philosophy of Science, Dordrecht/Boston/Lancaster 1984, v.a. 282—318. Zammito: „Method“ versus „Manner“? Kant’s Critique of Herder’s Ideen in the Light of the Epoche of Science, 1790—1820. In: Herder-Jahrbuch 1998, 1—27, dokumentiert Kants Auseinandersetzung mit Herder. Butts zeigt beispielsweise, wie Kant die Kritik der reinen Vernunft als Diätetik der Vernunft gegen schwärmerische und psychopathologische Disziplinlosigkeit, Inkohärenz und Verwirrung verstand. Diese Erscheinungen sah er als unmittelbare Gefahren eines sich an sprachliche Metaphorik, Analogiebildung und kreative poetische Phantasie unkontrolliert hingebenden Bewusstseins, wie es für ihn Hamann verkörperte. Bei aller Anerkennung der Rolle von Sprache, Tradition und Autorität war sich Kant in der Nachfolge Bacons bewusst, dass sie bei unkritischer Einstellung zu „idola“ degenerieren, zu blinden, irrationalen Vorurteilen und Idolen.
Es gibt nun aber nicht nur den Vorwurf der Sprachvergessenheit Kants. Auch den umgekehrten Versuch gab und gibt es, nämlich den, Kant als Sprachphilosoph avant la lettre anzusprechen. Wolff (Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel: mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt/M. 1995, 21—25, 65, 115) macht sich in diesem Sinn für die These stark, Kant lehne eine mentale Sprache ab, Denken sei bei ihm immer sprachlich, symbolisch, Urteile seien Sprechhandlungen. Ähnlich Schönrichs These, Kant vollziehe tendenziell den Paradigmenwechsel vom Mentalismus zum semiotischen Regelbegriff (a.a.O. 1981, 73—77). Auch dieser Versuch ist bereits angesichts der vielschichtigen traditionellen und modernen Theorien der Zuordnung von Sprache und Denken mit Vorsicht zu behandeln (vgl. Ros: Kants Begriff der synthetischen Urteile a priori. In: Kant-Studien 82 (1991), 146—172). Denn zum Verhältnis Sprache-Denken wurden und werden alleine oder in Verbindung diese Ansätze diskutiert: Unabhängigkeitsthese (independence thesis) – Interdependenzthese (interdependence thesis) – Analogiethese (analogy thesis) – Instrumentalitätsthese (instrumentality thesis) – Interaktionistische These (interactionistic thesis). Kant scheint sich nach Allgemeine Metaphysik Dohna (AA XXVIII, 685) zur Analogiethese zu bekennen.
Es ist mithin große Vorsicht bei dem Versuch angebracht, Kant lingualistisch auszulegen. Dieser wirkt meist wie ein Zwangskorsett. So rückt bei Schönrichs sprachphilosophischer Kantinterpretation (vgl. a.a.O. 1981, 279) die semiotische und mentalistische Terminologie immer mehr zusammen – trotz gegenteiliger Überzeugung und Absicht. Umgekehrt gilt das auch von dem Versuch, Kant vom Lingualismus her zu kritisieren: Villers etwa geht wie erwähnt (a.a.O. 1997, 283) davon aus, dass Kant die Sprache und „den Begriff von Zeichen stets vermeidet“ und wirft Kant eine ideologisch motivierte Verdrängung der Sprache und des historischen Apriori vor. Trotzdem zitiert er ausdrücklich kantische Texte zum Zeichenbegriff (1997, 296—297, 363—364) und zur Sprachvermitteltheit und zur kommunikativen Dimension des Denkens (1997, 296, 323).
Der wichtigste Vorbehalt ist jedoch grundsätzlicher Natur. Die Entgegensetzung: Mentalismus hie – semiotischer Regelbegriff da, ist in dieser Form hoffnungslos vereinfachend und bruchstückhaft. Es ist hierzu an Bochenski (Die zeitgenössischen Denkmethoden, 10. Aufl. Tübingen/Basel 1993, 138) und dessen Beschreibung der hier tatsächlich anstehenden Herausforderungen für die „Philosophie des menschlichen Denkens und Wissens“ zu erinnern, „daß die Ausdrücke ‘Erkennen’, ‘Denken’, ‘Wissen’ ... nicht eindeutig, sondern im Gegenteil sehr vieldeutig ... sind [...] daß angesichts davon jede einfache Lösung der Erkenntnisfrage als unzulänglich abzulehnen ist.“
Die vorliegende Philosophie der Logik auf der Grundlage der kantischen Theorie der Kognition in ihrer Gesamtheit sollte deutlich machen können, dass dieselbe tatsächlich eine Architektur bietet, die sowohl vertikal, nach Reflexionstiefe, als auch horizontal, dem Umfang nach, den Ansprüchen gerecht wird. Wie sehr gerade die Kritik der reinen Vernunft kommunikationstheoretisch und sprachpragmatisch motiviert und gegründet ist, zeigen Gerhardt (Die Disziplin der reinen Vernunft, 1. Abschnitt (A738/B766—A794/B822). In: Mohr, G./Willaschek, M. (Hrsg.) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 571—595), Rescher (a.a.O. 1999), und Dörflinger ( Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und praktische Aspekte der Erfahrungstheorie Kants, Berlin/New York 2000). Somit ist unsere begründete Arbeitshypothese, dass dieses Paradigma die möglicherweise leistungsfähigste Metatheorie der Logik und Kognitionswissenschaft bereitstellt, und deswegen nicht historisierend abgehandelt werden kann. [Foto links: L. Wittgenstein, 1889—1951, dessen Philosophische Untersuchungen von 1953 das Grundbuch der Analytischen Sprachphilosophie wurden, welcher er aber auch bewusstseinsphilosophische Themen kantischen Typs nahebrachte; zu Letzterem vgl. Stevenson: Wittgenstein’s Transcendental Deduction and Kant’s Private Language Argument. In: Kant-Studien 73 (1982), 321—337, und Westphal: Kant, Wittgenstein, and Transcendental Chaos. In: Philosophical Investigations 28 (2005), 303—323]
Sprachwissenschaft, Kognitionspsychologie und Neurowissenschaft bieten zwar zunehmend nichtspekulative Entscheidungshilfen hinsichtlich der menschlichen Kognition, und auch speziell hinsichtlich des Umfanges einer universalen logischen Grammatik und Semantik. Besonders ab der sog. kognitiven Wende seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jh. steht, nach dem Scheitern der Totalerklärungsansprüche von logischem Positivismus und Behaviorismus, die gesamte Bandbreite der kantischen Kognitionstheorie im Mittelpunkt der Forschung. Ebenso gilt aber, dass die experimentelle Forschung und Theoriebildung ohne philosophische Analyse und Evaluation entweder eine orientierungslose theoretische Technik bleibt oder unausdrücklichen und damit nicht reflektierten philosophischen Vorurteilsstrukturen folgt, wobei tatsächlich meist beides vorliegt.
Die Kant-Jäsche Logik
Textgrundlage und Referenzwerk für Kants Logik i.e.S. ist das von Gottlob Benjamin Jäsche im Auftrag I. Kants herausgegebene Werk: Immanuel Kant's Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen (AA IX). Die folgende Verknüpfung enthält einen komprimierten, aber substantiell vollständigen Überblick des Werkes nach dem Text in Band IX von "Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften". Sinn und Motivation dieser systematisierten Dokumentation der kantischen Logik für die vorliegende Philosophie der Logik liegen zu Tage.
Dabei steht die gleichfalls in der folgenden Verknüpfung begründete Überzeugung Pate, dass die nähere Beschäftigung mit der heute umfassender denn je dokumentierten Quellenlage die z.T. heftigen, aber in der Regel pauschalen Diskussionen der Vergangenheit um die Authentizität der Jäsche-Logik im Großen und Ganzen gegenstandslos werden läßt. Dass mithin das Urteil bzw. die Begründung des seinerzeitigen verantwortlichen Herausgebers (Max Heinze) für die Aufnahme der Jäsche-Logik in die Abteilung der Werke der Akademieausgabe stichhaltig ist: "es ist ... anzuerkennen, daß Jäsche im ganzen die Gedanken Kants unverfälscht mit der erforderlichen Klarheit dargestellt hat" (AA IX, 505). Unverkennbar verbleibende Unklarheiten in Grundlagenfragen der Logik und besonders hinsichtlich der immanenten Konsistenz verschiedener Theoreme des Logikkorpus sind daher nicht unwesentlich auf den Kantischen Vortrag selbst zurückzuführen.
Diese hier applizierten Authentizitätskriterien decken sich mit dem Resultat der einschlägigen Untersuchung von Elfriede Conrad: Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft: die Ausarbeitung der Gliederungsentwürfe in den Logikvorlesungen als Auseinandersetzung mit der Tradition, Stuttgart - Bad Cannstatt 1994. Über das quantitative Verhältnis der der Jäsche-Logik zugrundeliegenden Quellen informiert Terry Boswell: Quellenkritische Untersuchungen zum Kantischen Logikhandbuch, Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1991: "Jäsche hat die beiden verfügbaren Quellentypen, Reflexionen und Nachschriften, ineinander verwoben: Er wechselt immer wieder zwischen dem Gebrauch der Reflexionen und der Nachschriften, sogar innerhalb eines Paragraphen [...] Der Gebrauch der Reflexionen und der Gebrauch der Nachschriften fällt anteilmäßig etwa gleich aus. Eine Zählung der Zeilen, die mit einem der beiden Quellentypen parallel sind, ergibt, daß der Jäsche-Text, in beiden analysierten Textteilen [= AA IX, 58—65; 120—131], zu etwa zwei Fünfteln den Reflexionen und zu etwa zwei Fünfteln der Pölitz-Nachschrift parallel ist. Der restliche Anteil, etwa ein Fünftel, besteht größtenteils aus editorischen Eingriffen Jäsches". (Boswell 1991, 43)
Hier kann eine vollständige schematische Übersicht zu Kants Logik eingesehen werden: