- 1. Vorbemerkungen zum Menu Ästhetik
- 2. Platons Ästhetik
- 3. Die Poetik des Aristoteles
- 3.1. Aristoteles' Kunsttheorie
- 3.2. Psychologischer und geschichtlicher Ursprung der Dichtung
- 3.3. Begriffsbestimmung der Tragödie
- 3.4. Handlung (I) — Organische Einheit
- 3.5. Handlung (II) — Wahrscheinlichkeit
- 3.6. Handlung (III) — Dramaturgie
- 3.7. Handlung (IV) — Handlungsmodell
- 3.8. Der Charakter (ethos)
- 3.9. Theorie des Epos
- 3.10. Theorie der Komödie
- 4. Horaz: Ars poetica
- 5. Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft
- 5.1. Analytik des Schönen
- 5.2. Analytik des Erhabenen
- 5.3. Transzendentale Deduktion der reinen ästhetischen Urteile
- 5.4. Exkurs zur Begriffsgeschichte des Terms sensus communis
- 5.4.1. Zwei Bedeutungen von Gemeinsinn (sensus communis)
- 5.4.2. Gemeinsame Wurzel resp. Schnittmenge beider Bedeutungen
- 5.4.3. Universell-abstrakte und partikulär-konkrete Vernunft
- 5.4.4. Systemstellen der empirisch eingebetteten Vernunft
- 5.4.5. Wahrnehmungspsychologischer Gemeinsinn bei Aristoteles
- 5.4.6. Humanistische Bedeutung von Gemeinsinn bei Cicero
- 5.4.7. Vorstellungskraft
- 5.4.8. Instinkt — Partikulärer Verstand — Gedächtnis
- 5.4.9. Noetischer Intellekt
- 5.4.10. Moralisches Erkennen
- 5.4.11. Anmerkungen zur aktuellen Sekundärliteratur
- 5.5. Dialektik der ästhetischen Urteilskraft
- 5.6. Methodenlehre der ästhetischen Urteilskraft
- 5.7. Zur Interpretation der kantischen Ästhetik
- 6. Überzeitliche Geltung der Klassiker
- 7. Erkenntnismedium Schönheit
- 8. Erkenntnismedium Sprache
Das Menu 'Klassische Ästhetik' ist in einer älteren Version in Buchform erhältlich. Der Buchtitel ist Natterer, Paul: Philosophie der Transzendenz. Mit einem systematischen Abriss der kantischen philosophischen Theologie, Norderstedt 2011, 248 S. Das Menu 'Klassische Ästhetik' bildet dort Teil III (Kap. 15 bis 18).
Weitere Bestandteile des Buches sind die Menus "Aktuelle Theismus-Atheismus-Debatte' (Teil I) und 'Negative Theologie' (Teil II).
Vorbemerkungen zum Menu Ästhetik
Die Ästhetik ist die Theorie des Naturschönen und Kunstschönen — sowohl in der Hervorbringung wie in der Beurteilung. Besonders einflussreiche und klassische Entwürfe der Ästhetik im europäisch-westlichen Kulturkreis stammen von Platon: Dialoge Politeia [Staat], Ion, Phaidros und Symposion (4. Jh. v. C.); Aristoteles: Poetik (335 v. C.), Horaz: Ars poetica (13 v. C.), und Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft (1790). Dieses Menu stellt die Leitideen und den Gedankengang dieser Klassiker vor. [Bild rechts: Publius Vergilius Maro, 70—19 v.C., Verfasser des Römischen Nationalepos Aeneis und in der spätantiken, scholastischen und humanistischen Tradition der Dichter schlechthin. Römisches Mosaik]
Dass bei den genannten Klassikern die Dichtkunst oder Poetik im Vordergrund steht, ist kein Zufall. Sie alle halten die Poetik für die vorzügliche Disziplin der Ästhetik. Das deswegen, weil die Sprache die machtvollste Ausdrucksdimension und hochstehendste Handlungsdimension des Menschen ist und damit unserer Natur und Kultur überhaupt. Und weil die anderen ästhetischen Formen in Malerei, Musik, Tanz und Architektur ebenfalls als symbolische Formen oder Sprachen der Natur angesprochen werden können, die in Beziehung zur Sprache im Normalsinn stehen. Beide: Ästhetische Formen wie sprachliche Symbole haben "die wichtigste ontologische Funktion, die es geben kann, nämlich die der Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung" (Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, 486). Beide, Schönheit wie Sprache, sind Licht, das die Dinge deutlich werden lässt: "Wenn wir einen Text verstehen, so nimmt das Sinnvolle desselben genau so ein, wie das Schöne für sich einnimmt." (ebd. 494)
Deswegen erlaubt auch diese Sprache der Dinge oder der Natur eine transzendentalbegriffliche und mathematische Formulierung, wie der Platonismus mit sehr guten Gründen plausibel macht — in dem Lehrstück der Mathesis universalis zur Zahltheorie und Erkenntnistheorie: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." (Gadamer a.a.O. 478). Klassische Darstellungen hierzu in ästhetischer Perspektive sind die wirkungsgeschichtlich nicht zu überschätzenden Abhandlungen zur Musiktheorie der intellektuellen Überväter der messianischen Zivilisation des Westens Augustinus (354—430 n. C.) und Boethius (ca. 475—526 n. C.) Der wissenschaftlich und politisch auf Augenhöhe mit Cicero stehende Römische Konsul und Ministerpräsident Theoderich des Großen Boethius ist Verfasser der 1000 Jahre lang maßgeblichen Textbücher zur Logik, Mathematik und Musikwissenschaft. Siehe die aktuelle Aufbereitung des Themas bei Anja Heilmann: Boethius' Musiktheorie und das Quadrivium. Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von "De institutione musica", Göttingen 2007. Wir werden sehen, dass dieser Gedanke heute neuerdings für die geisteswissenschaftliche Hermeneutik zentrale Bedeutung gewonnen hat.
Diese klassische antike Kunstheorie wird bruchlos in der Scholastik weitergeführt und mit neuen Akzenten versehen, die für die Zukunft wichtig werden, worauf Hans-Georg Gadamer in seiner Hermeneutik Wahrheit und Methode, 6. Aufl. Tübingen 1990, 423—442; 482—494, hingewiesen hat. In lebendiger Fortsetzung und Auseinandersetzung mit den antiken Klassikern stehen ferner die neuzeitlichen Beiträge von Shaftesbury A Letter concerning Enthusiasm (1708), Burke Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) und Baumgarten Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) und Aesthetica (1750—58). Bei den genannten englischen Moralisten wie auch schon früher bei den Renaissancedichtern und später in der deutschen und englischen Romantik rückt die Ästhetik dabei ins Zentrum des Erkennens und Handelns.Typisch ist etwa der Schluss von Schellings Grundbuch der Philosophie der Romantik System des transzendentalen Idealismus (1800). Er drückt die Überzeugung aus, "dass die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen." Die einflussreichen Analysen von Schiller Über Anmut und Würde (1793), Über das Erhabene (1793), Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794/95), Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96), Herder Kalligone (1800) und Schopenhauer Welt als Wille und Vorstellung, Drittes Buch (1819) sind sowohl der antiken Tradition (Platon, Aristoteles, Horaz) verpflichtet als sie auch kritische Auseinandersetzungen mit Kants Ästhetik sind. Letztere steht freilich selbst ebenso in der Wirkungsgeschichte der antiken Tradition und ihrer neuzeitlichen Rekonstruktionen.
Wichtige moderne Ausarbeitungen sind im Übrigen in der kontinentalen hermeneutischen Philosophie Adornos Ästhetische Theorie, 17. Aufl. Frankfurt 2005 [1970], im (post)modernen Strukturalismus Lyotards Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, [dt.] München 1994, in der Analytischen Philosophie Goodmans Sprachen der Kunst [dt.] 5. Aufl. Frankfurt 1997, und Kutscheras Ästhetik, 2. Aufl. Berlin / New York 1998. Sie alle setzen sich intensiv mit den hier vorgestellten Klassikern auseinander. Selbstverständlich stehen moderne Ästhetiken ebenso in der Wirkungsgeschichte der nachkantischen Ansätze des 19. und 20. Jh.: Symbolismus, Ästhetizismus, (Post)Strukturalismus (Lyotard), Kritische Theorie (Adorno), Konstruktivismus, Intertextualität und Rezeptionsästhetik (Gadamer).
Eine stärkere Behandlung der Ästhetik findet sich darüber hinaus in der fernöstlichen chinesischen Tradition, angefangen bei Konfuzius und Laotse (6. Jh. v.C.), über Wang Chong (1. Jh. n.C.) bis zu Cao Pi (187—226) und Xie He (479—502). Wer einen ganz knappen, aber verlässlichen Zugang zum Selbstverständnis und den Grundsätzen der Ästhetik Chinas sucht, findet einen solchen in dem Papier Chinesische Ästhetik und Kant (In: Mitteilungsblatt der Deutschen Chinagesellschaft, 2013, 43—52) aus der Feder des Sinologen und Japanologen Karl-Heinz Pohl (Universität Trier). Englisch in International Yearbook of Aesthetics 1996, 14—25, und chinesisch in Aesthetics & Arts Science Study 1996, 13—23. Pohl ist einer der besten Kenner der chinesischen Ästhetik im Westen und Verfasser des derzeitgen Standardwerkes Ästhetik und Literaturtheorie in China. Von der Tradition bis zur Moderne, München 2007 [chinesisch 2010]. Als Wegbereiter des Yoshinkan Aikido in Deutschland (3. Dan Aikido) ist er zugleich Lehrer der gelebten Ästhetik des Fernen Ostens — als ganzheitlicher Disziplinierung und Vervollkommnung des Geistes und des Körpers.
Der Text bietet auch eine Zuordnung von chinesischer Ästhetik und der kantischen Ästhetik, die wir in Folge vorstellen. Dabei zeigen sich in der Sache grundlegende Berührungspunkte, in der Methode jedoch eine sehr andere Herangehensweise. Noch weitgehender sind die sachlichen Übereinstimmungen mit der antik-scholastisch-humanistischen Ästhetik Europas, wobei mindestens im Falle von Horazens Ars poetica (siehe ebenfalls in Folge) auch die Methode — als Dichtung über die Dichtung — den chinesischen Beifall unbedingt und spontan findet. Noch eines macht der Text Pohls unmissverständlich deutlich: Die in den letzten drei Abschnitten dieses Menus verhandelten Thesen zur überzeitlichen Geltung der Klassiker und den Erkenntnismedien Schönheit und Sprache sind praktisch tel quel auch chinesisches Gedankengut. Hingegen: "Stellt man sich [... den] Trend moderner westlicher Ästhetik in einer Diskussion im Chinesischen vor", dann erschiene sie "wie ein Widerspruch in sich." (Pohl),
Platons Ästhetik
Kunst als Nachahmung (mimesis)
Die Konzeption von Poetik und Kunst überhaupt als Nachahmung (mimesis) geht mindestens für das Drama und Epos auf Platon zurück: "Wie du sagst, besteht nämlich die eine Form der Dichtung (poiesis) und Märchenerzählung (mythologia) ganz in Nachahmung (mimesis), die Tragödie nämlich, und die Komödie, die andere aber ganz in der persönlichen Kundgebung des Dichters; man trifft sie vorzugsweise in den Dithyramben an; eine dritte Form aber, aus beiden vereinigt, findet sich in der epischen Dichtung" (Staat, III, 394 b 9—c 5 St.). Für Platon gilt freilich, "daß wir sie durchaus abweisen, so weit sie nachahmender (mimetike) Art ist." (Staat, X, 595 a 5 St.). Der Grund liegt in Platons Theorie des Schönen und seiner Erkenntnistheorie überhaupt.
Nachahmung und die Theorie des Schönen
Platon erörtert und bewertet die Kunst als Nachahmung im Horizont seiner Theorie des Schönen. Wichtigste Referenz ist hierzu die Sokratesrede des platonischen Dialoges des Gastmahls (symposion). Das Schöne als verwirklichtes Optimum, als Seinsfülle ist Mittler zwischen den sinnlichen Erscheinungen und den geistigen Ideen bis zum absolut Guten und Schönen (Göttlichen) in Form einer sukzessiv zu durchschreitenden Stufenleiter ausgehend von der leiblichen Schönheit über die seelische Schönheit zu den schönen Tätigkeiten (aktives Tun), weiter zu den schönen Erkenntnissen (Wissenschaft) bis zum Schönen an sich (vgl. Krüger: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt 1983 [1939], v.a. 177—283). [Bild links: Büste Homers, Verfasser von Ilias und Odysee. Platons in Folge vorzustellende Dichterkritik gilt in erster Linie und ganz besonders Homers Dichtungen]
Gadamers klassische Interpretation erläutert diese Sokratesrede wie folgt: "Die Ordnung des Seienden, die in der Hinordnung auf das eine Gute besteht, stimmt also mit der Ordnung des Schönen überein [...] Plato meint offenbar, daß die teleologische Seinsordnung auch eine Schönheitsordnung ist [...] Die Basis der engen Verknüpfung der Idee des Schönen mit der teleologischen Seinsordnung ist der pythagoräisch-platonische Maßbegriff. Plato bestimmt das Schöne durch Maß, Angemessenheit und Proportioniertheit, Aristoteles nennt als die Momente (eide) des Schönen Ordnung (taxis), Wohlproportioniertheit (symmetria) und Bestimmtheit (horismenon) und findet dieselben in der Mathematik in exemplarischer Weise gegeben [...] Maßangemessenheit, Symmetrie ist die entscheidende Bedingung alles Schönseins." (Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, 481—483; Hervorhebungen durch mich, PN). In der Scholastik wird diese platonisch-aristotelische Theorie des Schönen weiter tradiert, so dass etwa Thomas Aquinas Schönheit durch die Merkmale Klarheit (claritas), Vollkommenheit (perfectio) und Symmetrie oder Proportioniertheit (proportio) definiert. Diese Verbindung von Ästhetik und Teleologie ist auch für Kant zentral und findet sich als oberste Gliederungsebene der Kritik der Urteilskraft, deren beide großen Teile die (I) Kritik der ästhetischen Urteilskraft und (II) Kritik der teleologischen Urteilskraft sind.
Das Schöne steht aber nicht nur in Beziehung zur Teleologie oder organismischen Zweckbestimmtheit und Ganzheit. Sondern wir finden ferner "in der platonischen Philosophie eine enge Verknüpfung ... der Idee des Guten mit der Idee des Schönen. Beide sind über alles Bedingte und Viele hinaus [...] Plato ... hat ... doch auch einen Unterschied zwischen beiden im Auge, und dieser Unterschied enthält einen eigentümlichen Vorzug des Schönen [...] Das Schöne unterscheidet sich ... dadurch von dem schlechthin ungreifbaren Guten, daß es eher zu ergreifen ist. Es hat in seinem eigenen Wesen, Erscheinendes zu sein. In der Suche nach dem Guten zeigt sich das Schöne [...]: 'Der Schönheit allein ist dies zuteil geworden, daß sie das am meisten Hervorleuchtende (ekphanestaton) und Liebenswerte ist' [Phaidr 250 d 7]" (Gadamer, ebd. 482—485). Auch diese Beziehung zwischen Schönheit und dem Guten bzw. dem guten Leben und Handeln (Sittlichkeit) ist grundlegend in Kants Ästhetik. Siehe in Folge den Abriss zu Kants ästhetischer Theorie.
Weiter Gadamer mit einem Argument, das wir bereits in den Vorbemerkungen zur Ästhetik gestreift haben: "In dieser anagogischen Funktion des Schönen [...] wird nun ein ontologisches Strukturmoment des Schönen [...] sichtbar [... Es hat] die wichtigste ontologische Funktion, die es geben kann, nämlich die der Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung [...] Es ist die Maßhaftigkeit des Seienden, die es nicht allein sein läßt, was es ist, sondern es auch als ein in sich bemessenes, harmonisches Ganzes hervortreten läßt [...] Schönheit hat die Seinsweise des Lichtes. Das meint nicht nur, daß ohne Licht nichts Schönes erscheinen ... kann. Es meint auch, daß die Schönheit des Schönen als Licht, als Glanz an ihm erscheint [...] Es ist ... die Erscheinungsweise des Guten überhaupt, des Seienden, wie es sein soll." (ebd. 486, Hervorhebungen in Fettdruck von mir, PN).
Gadamers Grundlegung der modernen Hermeneutik gipfelt im Übrigen schließlich in der Herausarbeitung der Parallele von Schönheit und Sprache — beide sind Licht, das die Dinge deutlich werden läßt: "Das Licht, das alles so hervortreten läßt, daß es in sich selbst einleuchtend und in sich verständlich ist, ist das Licht des Wortes [...] Wenn wir einen Text verstehen, so nimmt das Sinnvolle desselben genau so ein, wie das Schöne für sich einnimmt." (ebd. 487, 494) Diese Parallele ist besonders interessant angesichts der Tatsache, dass Theoretiker der Ästhetik (wie z.B. Kant) der Redekunst oder Literatur den ersten Rang unter den schönen Künsten zusprechen.
Es fällt daher umso mehr auf, dass in der oben referierten Rede des symposions die Literatur und Kunst — als nachahmende! — nicht erwähnt wird. Der Grund ist, dass Platon in ihren Produkten kein verwirklichtes Optimum sieht, sondern defizitäre Kopien defizitärer Kopien, d.h. sinnlicher Erscheinungen der Ideen: Kunst ist Schein des Scheins, Abbildung von Abbildungen (= sinnlichen Erscheinungen), Nachahmung 2. Stufe von Nachahmungen 1. Stufe. Schönheit ist nur approximativ bei den ästhetischen, mentalen, technischen, ethischen, intellektuellen Maxima im Bereich der Nachahmungen 1. Stufe anzutreffen. Platons diesbezügliche Kritik findet sich erstrangig in den Büchern II, III (376 St. — 403 St.) und X (595 St. — 608 St.) des Staates.
Platons Urteil ist im Fazit: (i) Die Dichter lügen — wegen ihrer Inkompetenz auf allen genannten Stufen, die sich auf der obersten Stufe dazu versteigt, mythologische Märchen über Gott und Welt zu verbreiten: "Wir dürfen ... behaupten: alle Dichter ... sind bloße Nachahmer (mimetai) von Nachbildungen (eidola) der Tugend und der übrigen Dinge" (Staat, X, 600 e 3—6 St.) und haben "von der wirklichen Sache (to on) keine Kenntnis, sondern nur von der Art, wie sie erscheint." (ebd., 601 b 9—10 St.)
Und: (ii) Die Dichter bessern nicht, sondern zerstören, indem sie niedere Triebe und Leidenschaften schildern, nachahmen und fördern: "Denn sie [= "die dichterische Nachahmung"] nährt und tränkt diese Triebe ... und macht sie zu Herren in uns" (Staat, X, 606 d 4—5 St.). Die nachahmende Dichtung verkörpert m.a.W. keine approximativen Maxima, sondern Minima (ästhetisch — seelisch — technisch — ethisch — intellektuell). Sie wird daher in Platons theoretischem und praktischen Läuterungsprogramm für die Poetik negativ belegt und verbannt.
Aristoteles hält gegen (i) dafür, dass bei den Mythen, die den Dramen zugrundegelegt werden, nicht der faktische Stoff (als Geschichte verstanden) zählt, sondern dieser in kritischer entmythologisierender Distanz lediglich als tradiertes und somit vertrautes Material für Handlungsmodelle verwendet wird, die eine symbolhafte Bedeutung haben. Im weiteren sieht Aristoteles in der Dichtung nach der subjektiven Seite hin kein defizitäres und inkompetentes Nachmachen anderer Leistungen, Wissenschaften und Berufe, sondern eine Leistung und Kompetenz sui generis. Nach der objektiven Seite schafft die aristotelische Erkenntnistheorie eine andere Ausgangslage, insofern die platonische Kluft (chorismos) zwischen transzendenten Ideen und immanenten Erscheinungen einer Konzeption der Ideen weicht, die diese als immanente Strukturprinzipien und dynamische Entwicklungsgesetze oder Entelechien der Sinnesdinge / Erscheinungen versteht. Damit hat es die nachahmende Dichtung nicht mehr mit Scheingebilden zu tun, sondern mit der definitiven Realität, v. a. wenn es ihrer spezifischen Kompetenz gelingt, die faktischen Realitäten zu allgemeingültigen Modellen und Symbolen der Ideen und Entelechien zu verdichten: "Da der Dichter ein Nachahmer ist, ... so muß man immer eines von den drei Dingen nachahmen, die es gibt: man soll die Wirklichkeit nachahmen, entweder so wie sie war oder ist, oder so wie man sagt, daß sie sei, und wie man meint, oder so wie sie sein soll." (Poetik, 1460 b 8ff)
Gadamers Kunsttheorie bzw. Hermeneutik der Ästhetik argumentiert hier dafür, dass der ästhetische Schlüsselbegriff der Mimesis nur sehr schlecht und unzutreffend mit 'Nachahmung' übersetzt wird. Viel richtiger sei die Übersetzung mit 'Darstellung'. Denn Kunst sei nicht eine schwächliche oder nachträgliche Nachmachung der Realität, sondern idealerweise die Verdichtung der Erfahrungswelt zu einem Plus und Optimum an Realität. Sie könne, wenigstens in vielen Fällen, das Wesen der Dinge identifizieren und bringe so gewissermaßen die Sachen auf den Punkt. Kunst drücke das Wesen in intensiver Konzentriertheit und Vollständigkeit aus. Kunst zielt auf Schönheit und Schönheit ist "die Erscheinungsweise des Guten überhaupt, des Seienden, wie es sein soll" (s.o.). Die Schönheit der Kunst ist die Epiphanie, die Erscheinung der ultimativen Realität. Zu dieser Einsicht sei Platon nicht durchgedrungen. In analoger Weise gilt dies alles, so Gadamer, auch von der Naturschönheit: Die Schönheit der Naturdinge ist die Darstellung oder Epiphanie ihres Wesens. Und diese Darstellung gehört sowohl in der Kunst wie in der Natur notwendig und substantiell zur Realität der Sachen. Die Sachen sind bis zu einem gewissen Punkt ihre Darstellung. Die Darstellung alias mimetische Verdichtung und Veranschaulichung ist nicht sekundär und nebensächlich, sondern ist die Form der phänomenalen Existenz der Sache. Siehe hierzu Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, Erster Teil, Abschnitt II: Die Ontologie des Kunstwerks und ihre hermeneutische Bedeutung, 107—174. Es ist interessant, dass der sehr bekannte Zoologe und Anatom Adolf Portmann ganz im Sinne Gadamers von der "Selbstdarstellung der Lebewesen" spricht und der "Prägnanz der äußeren Erscheinung", mit denen der Biologe beim Studium der Lebewesen konfrontiert ist (Einführung in die vergleichnde Morphologie der Wirbeltiere, Basel 51976, 314).
Ein Zitat des legendären Weltkrieg I-Generals in Ostafrika Paul von Lettow-Vorbeck über den auch als Illustrator von Brehms Tierleben bekannten Maler Wilhelm Kuhnert (1865—1926) zeigt besonders lebensnah, worauf Gadamer hinauswill. Es soll daher hier eingerückt werden. Der aus Oberschlesien gebürtige und in Berlin wirkende Kuhnert gilt als innovativster und bedeutendster Tiermaler des 20. Jh., der die Tierwelt Eurasiens und v.a. Afrikas auf zahlreichen Expeditionen erstmals in freier Wildbahn skizzierte und malte (und dabei Lettow-Vorbecks Bekanntschaft machte): "Es ist mir nicht gegeben, ein Urteil über Wilhelm Kuhnert als Künstler abzugeben. Aber ich kann den Eindruck schildern, den seine Werke auf mich gemacht haben. Ich hatte Ostafrika in monatelangern Reisen durchzogen, hatte am Kilimandscharo den Urwaldgürtel durchklettert und hatte weiter aufwärts im Schnee die Fährten des Löwen und der Elenantilope gesehen. In den Papyrussümpfen am Fuß des Berges hatte ich Marabus und Kronenkraniche beobachtet, in der Steppe allerlei Antilopen- und Gazellenarten und hatte in der weiten Ebene des Nachts oft den Jagdruf des Löwen gehört [...] Die gewaltige Natur Afrikas und seine Tierwelt beeindruckten mich tief, und kaum konnte ich alles innerlich verarbeiten. Da kam ich nach [dem Fort und Verwaltungszentrum in Tansania] Iringa und sah [in den dort ausgestellten Bildern Kuhnerts] auf den Wänden der alten Feste das, was mir begegnet war. Aber es war schöner, edler und zugleich echter, als es sich mir dargestellt hatte. Es war geschaut mit den Augen eines ganz großen Künstlers, erfaßt mit tiefster Seele und dargestellt mit unglaublichem Können. Der Künstler, der hier am Werke gewesen war, war Wilhelm Kuhnert. Man muß seine Werke sehen, erschöpfend beschreiben lassen sie sich nicht."
Gegen die Position (ii) Platons setzt Aristoteles die Katharsistheorie, die in der poetischen Darstellung menschlicher Leidenschaften nicht eine Ansteckung sieht, sondern eine Art Impfung, in der Art, wie die Medizin dosierte Gifte als Arznei einsetzt; oder auch: ein Ventil, eine psychische Entlastung und Reinigung, eine unschädliche Abfuhr überschüssiger Affekte, in der Art der medizinischen Purgierung. Dazu mehr im Abschnitt zur Ästhetik des Aristoteles. Aber auch im Neuplatonismus, der nicht zuletzt eine Synthese von Platon und Aristoteles anstrebt, wird Platons Kritik der abbildenden Kunst und Dichtung neu bewertet — mit einem anerkennenden Fazit. Siehe dazu Judith Omtzigt: Die Beziehung zwischen dem Schönen und dem Guten in der Philosophie Plotins, Göttingen 2012, und Jens Halfwassen: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Kap. XIV: Schönheit und Bild im Neuplatonismus, Tübingen 2015, 265—278.
Kunst als Inspiration und Ekstase
Sehr viel anders sieht die Sachlage für Platon bei der nicht nachahmenden Dichtung aus. Dieser kann es nämlich in der künstlerischen Ekstase, in der dichterischen Inspiration gelingen, mehr und überzeugender als die rationale Dialektik, die besonnene praktische Überlegung und planmäßige Technik der ursprünglichen, eigentlichen Wirklichkeit der Ideen und Gottes nahezukommen, d.h. den ästhetischen, ethischen, intellektuellen etc. Maxima im Vorhergehenden. Platons Theorie der Inspiration und Begabung/Begnadung steht ihrerseits in einer langen Tradition, deren Hauptzeugen Homer, Pindar, und Demokrit sind. [Bild links: Pindar, 522—445 v.C., Urbild eines inspirierten Dichters. Für Horaz und viele andere wie Hölderlin der Höhepunkt der Lyrik]. Pindar hat zu Begabung und Inspiration selbst so Stellung genommen: "Was von Natur kommt, ist voller Kraft [...] Doch alles, was ohne Gottheit geschieht, wird durch das Verschweigen nicht schlechter [...] Angeborener Wert ist's, der hohes Gewicht leiht. Wer nur Gelerntes kann, ein dunkeler Mann, denkt auf dieses, auf jenes er bald, geht nie sichren Fußes, versucht sich an tausend Leistungen nur mit ziellosem Sinn" [Ol, IV 100ff; Nem III 40 ff; Hervorhebungen durch mich, PN].
Maßgeblich sind hierzu die Dialoge Ion und Phaidros. In Ersterem heißt es: "Da es also nicht der überlegende Kunstverstand ist, durch den die Dichter ihre Werke schaffen und vieles Schöne über die Dinge vortragen, [...], sondern göttliche Eingebung, so ist ein jeder nur imstande dasjenige wirklich schön zu dichten, wozu die Muse ihn antrieb ... Denn nicht aus überlegendem Kunstverstand, sondern aus göttlicher Kraft stammen ihre Offenbarungen." (Ion, 534 St.) Im Phaidros: "In demselben Maße nun ... ist nach dem Zeugnis der Alten der Wahnsinn, manía, herrlicher als die besonnene Verständigkeit: sofern jener gottgewirkt ist, diese menschlich bedingt." (Kap. XXII, 245 St.) Platon präzisiert, "von Wahnsinn gebe es zwei Arten, deren eine in menschlichen Krankheiten ihre Ursache habe, während die andere eine Folge sei gottbewirkten Heraustretens aus dem gewohnten herkömmlichen Zustand. [...] Von dem göttlichen Wahnsinn unterschieden wir ... vier Arten, ... die Begeisterung des Sehers ..., die des Weihepriesters ..., die des Dichters ...; die vierte endlich, die der Verliebten ... haben wir als die vornehmste bezeichnet" (Phaidros, Kap. XLVIII, 265 St.).
Dies relativiert nicht den o.g. normalen Aufstieg zum absoluten Schönen durch rationale und aktive Kompetenz in allen Lebensdimensionen: "Und für die Leute, die das vermögen, habe ich einen Namen ... 'Dialektiker'"; hiervon ist Sokrates/Platon "selbst ein leidenschaftlicher Verehrer" und jeder der diesen Weg geht, ist ebenfalls "wandelnd in göttlicher Spur." (Phaidros, Kap. L, 266 St.) Platoninterpreten wie Kurt Schilling sehen darüber hinaus eine innere Entwicklung Platons dergestalt, dass seine Anerkennung und Wertschätzung von Inspiration und "göttlichen Wahnsinns" das Zugeständnis einer noch jugendlichen Frühphase sei: Später sei diese selbstkritisch und ironisch zurückgestuft worden zugunsten der nun im Vordergrund stehenden nüchternen Dialektik. Zur andersgelagerten Akzentsetzung bei Aristoteles mit Schwerpunkt auf Talent und technischer Kompetenz vgl. den Beitrag über Aristoteles. Aber auch Aristoteles bekräftigt, z.B. in der Rhetorik, unzweideutig die grundlegende Bedeutung der Inspiration. Es gibt sogar Hinweise auf eine weitergehende Behandlung dieser Dimension der Inspiration bei Aristoteles in einem verlorenen Dialog über die Dichter.
Kunst als Pädagogik und Therapie
Seit dem Anfang der Poetik steht der Einsatz und die Kultur der Emotionen Jammer (eleos) und Schauder (phobos) im Mittelpunkt. Fuhrmann (Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 90—94) zeigt zu diesem Begriffspaar als poetischen Wirkungsqualitäten eine plausible wirkungsgeschichtliche Filiation von der Literaturtheorie des Sophisten Gorgias unter dem Titel Helena (etwa 410 v. C.) zu den platonischen Dialogen, v.a. Jon und Phaidros (40 Jahre später, um 370 v. C.), und von da zur aristotelischen Poetik (wieder 40 Jahre später, etwa 330 v. C.). Nach Platons Darstellung — im Dialog Gorgias — stehen diese Wirkungsqualitäten bei Gorgias im Dienst und Horizont einer sensualistischen und relativistischen Weltanschauung und Psychagogie. Cicero spricht dagegen — im Dialog de oratore — mit erheblicher Achtung von Gorgias. Bei Platon fällt die Kultivierung dieser Gefühle jedenfalls und überhaupt unter die Dichterkritik: "Von jenem Drang dagegen, der uns zur Erinnerung an das Leiden und zum Jammern darüber führt und nicht genug davon bekommen kann, werden wir doch sagen, es stehe im Widerspruch mit der Vernunft, begünstige die Trägheit und stehe mit der Feigheit im Freundschaftsbund." (Staat, X, 604 St.) [Bild oben: Euripides, 480—406 v. C., Vollender der griechischen Tragödie und der am häufigsten aufgeführte und gelesene Tragiker der Antike]
Bei Platon wie später v.a. bei Aristoteles kommt hier der Begriff Katharsis (Läuterung) ins Spiel. Er ist ursprünglich als sowohl kultischer wie medizinischer Begriff zu betrachten. In ersterer Bedeutung meint er die Purifikation von einer Befleckung. In den hippokratischen Schriften bedeutet er die Ausscheidung schädlicher Substanzen, vorzugsweise in Form der Purgierung. Bereits bei Plato findet sich die Übertragung auf die Psyche, in dem Sinn, dass die Vernunft als Katharsis der Lüste und Ängste interpretiert wird (Phaidon, Sophistes), aber auch die ursprüngliche (medizinische) Bedeutung, etwa in der Überzeugung, dass das physiologische Optimum aktiver Betätigungen (etwa in Gymnastik, Sport) und Reinigungen bedarf (Timaios): Platon verweist hier auch auf das beruhigende Wiegen von Kindern und die Musik- und Tanztherapie bei Geistesstörungen, Epilepsie und spastischen Phänomenen. Dabei steht stark der Gedanke der Homöopathie Pate, d.h. durch kontrollierten und dosierten Einsatz der selben Mittel bzw. Aktivitäten deren schädlichem Übermaß entgegenzuwirken (vgl. Fuhrmann a.a.O. 1973, 95—96).
Aristoteles behandelt das Thema am systematischsten im 8. Buch der Politik, dessen 5.—7. Kapitel von der pädagogischen Verwendung der Musik handelt. Er spricht der Musik drei potenzielle Funktionen zu: (i) Orgiastische Unterhaltung, Erholung, Katharsis, insofern orgiastische Musik enthousiastische, exaltierte Menschen durch das unschädliche Vergnügen der Affektentladung zu Beruhigung und Heilung führt; Gleiches gelte von sonstigen seelischen Verkrampfungen und überstarken Affekten wie Rührung und Angst. (ii) Ethische Erziehung, Charakterbildung. (iii) Musische, zweckfreie Lebensqualität.
Cessi (Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt/M. 1987, 266) unternimmt am Beispiel der dramatischen Kunst der Tragödie eine Analyse dieser Funktionen aus der aristotelischen Handlungstheorie heraus: "Die Tragödie lehrt in negativer Form an Hand der Darstellung eines vorhersehbaren, von magelhafter Erkenntnis verursachten Sturzes ins Unglück, wie allgemeine Ansichten und Prinzipien richtig auf konkrete Einzelfälle zu applizieren sind, d.h. wie das Vorstellungsvermögen betätigt werden soll." Dies meint genau die beim tragischen Helden meist zu spät kommende Entdeckung (anagnorisis). Die sowohl Abstand und dadurch auch an unerfreulichen Dingen Freude und Lust vermittelnde mimesis (Poetik, 4. Kap.) erlaubt das intensive intellektuelle und emotionale (Jammer und Schauder) Engagement und damit einen intensiven Lernprozess. "Die Tragödie hat daher ihre Hauptfunktion in der Bildung und Vervollkommnung des Vorstellungsvermögens, dessen richtige Betätigung auf die Vermeidung von Fehlhandlungen (hamartíai) im praktischen Leben hinzielt." (Cessi a.a.O. 1987, 267)
Dazu abschließend O. Gigon (Aristoteles.Vom Himmel. Von der Seele. (übers.) Von der Dichtkunst, 2. Aufl. München 1987, 369): "Sachlich könnte man diese Auffassung als einen Mittelweg zwischen der psychagogischen und der pädagogischen Funktion der Kunst bezeichnen. Die Dichtung soll nicht im Sinne Platons unmittelbar pädagogisch wirken. Ihr nächster Zweck ist durchaus die Darstellung packender Leidenschaften. Aber es darf nicht dabei bleiben. Durch das Übermaß dargestellter Leidenschaft wird die wirkliche Leidenschaft im Hörer überwunden. So wird das letzte Ziel doch das platonische, der Sieg der Einsicht über die Leidenschaft. Nur der Weg ist der entgegengesetzte."
Die Poetik des Aristoteles
Aristoteles' Kunsttheorie
Zentrum der aristotelischen Poetik ist die Analyse der Tragödienstruktur, da Aristoteles in der Tragödie das dichterische Maximum verkörpert sieht. Quantitativer und qualitativer Hauptbestandteil der Tragödie wiederum ist aber die menschliche Handlung (praxis) als ethische: "... er [= Aristoteles] will ... nur solche Handlungen dargestellt wissen, die in ethischer Hinsicht von Belang sind." (Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 7) Das bedeutet konkret: "Aristoteles erklärt, Ethos und Dianoia seien die beiden Ursachen des Handelns; von ihnen hänge alles Gelingen und Scheitern ab. Die beiden Kategorien — sie entsprechen den ethischen und dianoetischen Tugenden der Nikomachischen Ethik" — bedingen, "in welchem Maße eine Tragödie die für sie spezifischen Wirkungen zu erzielen vermag." (Fuhrmann a.a.O. 1973, 18) Die Poetik hat den ausgesprochen technischen Charakter eines wissenschaftlichen Vorlesungsskriptes, was verschiedentlich unter Hinweis auf einen verlorengegangenen Dialog über die Dichter erklärt wird, der dann die philosophische Grundlegung in anziehender literarischer Gestaltung geboten hätte. Eine zweite Vorbemerkung betrifft die Tatsache, dass innere und äußere Kriterien die gut begründete Hypothese eines verlorengegangenen 2. Buches zur Komödientheorie nahelegen. Das erhaltene 1. Buch gliedert sich in einen Allgemeinen Teil (Kap. 1—5), in die Tragödientheorie (Kap. 6—22) und die Epostheorie (Kap. 23—26).
Im allgemeinen Teil geht es in Kap. 1 bis 3 zunächst um die Definition und die Unterscheidungs- bzw. Einteilungskriterien der Dichtung. Definitorisch grundlegend ist für Aristoteles nicht die Metrik, sondern die Nachahmung (mimesis): "Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung, ferner der größere Teil der Flötenkunst und Kitharakunst sind alle insgesamt Nachahmungen." (Kap. 1, 1447 a 13—16) Die Mimesis ist die Grundkonzeption von Kunst überhaupt, also auch der Malerei und der Plastik. Zu Bedeutung und Geschichte des Begriffs siehe oben unter Platon.
Gegen zähe Missverständnisse seit der Renaissance ist im Blick auf Aristoteles allerdings zusätzlich zu verdeutlichen, was hier wie nachgeahmt wird: Aristoteles meint mit Nachahmung (i) nicht eine mehr oder minder rezeptive Abbildung faktischer Taten und Vorgänge wie in der Geschichtsschreibung. Auch nicht (ii) die Abbildung einer vorgegebenen und durchgängig vernünftigen und perfekten empirischen Natur- bzw. Weltordnung im Sinne der Stoa (siehe dazu die Einleitung zu Kants Ästhetik in Folge). Und auch nicht (iii) eine formale poetologische Abbildungstechnik im Sinne eines dichtungstechnischen Regelwerkes. Der heute maßgebliche monumentale Kommentar zur Poetik von Arbogast Schmitt lässt unzweideutig ins Relief treten, dass die poetische Nachahmung auf der Ebene der Handlungstheorie spielt und "Mimesis einer Handlungseinheit ist." (A. Schmitt: Aristoteles: Poetik, Berlin 2011, 120). Sie bringt menschliches Handeln zur Darstellung und zwar als selbstständiges Handeln eines konsistenten Charakters: "Erst ein Charakter mit Erfahrung und einer gewissen Reife handelt." (Schmitt a.a.O. 2011, 105, vgl. 118—119). Ausführlicher:
"Aristoteles gewinnt den Begriff von Dichtung aus einer Reflexion auf die Vermögen und Fähigkeiten des Menschen. Zu diesen spezifisch menschlichen Fähigkeiten gehört für ihn das Handeln. Handeln ist ... nicht alles, was jemand irgendwie tut oder was mit ihm geschieht, sondern nur eine selbstständige Aktivität. Und auch nicht jede selbstständige Aktivität, sondern nur die, in der jemand in einer einzelnen Situation etwas, was ihm für sich gut zu sein scheint, erreichen möchte. Legt man diesen Begriff des Handelns zugrunde, dann ist klar, dass es ein Handeln erst bei einem Menschen geben kann, der seine Vermögen zumindest so weit ausgebildet hat, dass er selbstständig über sie verfügen kann - so wie jemand erst sprechen kann, wenn er das bloße Vermögen zu sprechen in ein habituelles Können überführt hat. Handeln ist also die Verwirklichung eines habituellen Könnens, und zwar des Könnens eines Charakters mit festen, nicht beliebig sich ändernden Neigungen und Abneigungen [...] Wer das Handeln für sich zum Gegenstand macht, konzentriert sich auf ein selbstbestimmtes Tun und macht es eben dadurch als Ausdruck eines über sich selbst verfügenden Charakters erkennbar [...] Daher ist für ihn [= Aristoteles] der Mythos [in sich abgeschlossene selbstbestimmte Tat mit durchformtem notwendigem oder plausiblem Zusammenhang der Teile von Anfang / Handlungsursachen bis Ende / Handlungsfolgen, s.u.] der zentrale Begriff, von dem her er erklärt, was Dichtung ist. In einem Mythos als vollständig und konsequent durchgeführter Ordnung aller Teile einer Handlung ist für ihn in optimaler und paradigmatischer Weise verwirklicht, was Dichtung sein kann." (A. Schmitt: Aristoteles: Poetik, Berlin 2011, 126, vgl. 104)
Dabei ist das Handeln zwar Ausdruck ontologischer und kultureller Universalien, aber diese werden nicht in irgendeiner Form begrifflich gefasst oder argumentativ hergeleitet, sondern nur und genau deren Wirkungen werden konkret, anschaulich, individualisiert vorgestellt. Schmitt sieht hier eine Nähe zu Bildern und Gleichnissen bzw. Metaphern, welche ebenfalls begriffliche Einsichten oder Sachgehalte anschaulich darstellen: "Die Metapher und in Analogie dazu die dichterische Handlungsdarstellung ist also eine prägnante, vieles in sich enthaltende Redeweise, die einen intelligeneten Rezipienten braucht, der ihre verschiedenen Momente aufschließt und in richtiger Weise zur Einheit einer Aussage verbindet." (a.a.O. 2011, 100)
Schmitt: "In diesem Sinn lehrt die Tragödie [und Dichtung überhaupt], das Allgemeine im Einzelnen zu erkennen und in seinem emotionalen und voluntativen Wert richtig, d.h. sachentsprechend, zu erfahren. Aristoteles hat für diese Fähigkeit die Metapher vom 'Auge der Seele' (Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, 11, 1143b14) geprägt." (Die Moderne und Platon, 2. Aufl. Stuttgart 2008, 374)
Damit haben Dichtung und Kunst große Bedeutung für die Bildung: "Die eigentlich menschliche Bildung der Gefühle, und zwar sowohl was die Entwicklung der Jugend, die Heilung krankhafter Fehlformen als auch die Entwicklung großer, kultivierter Gefühle betrifft, ist für Platon wie Aristoteles eine Sache des 'Musischen', d.h. eines verstehenden Sich-Einübens und begreifenden Nachempfindens von künstlerischer Gestaltung. [Daher] die bedeutende ethische und politische Rolle, die sie der Kunst zuerkennen" (Schmitt a.a.O. 2008, 361). Es liegt auf der Hand, dass genau diese Fähigkeit "staatstheoretisch[e] und auch ... anthropologisch[e] ... von großer Bedeutung [ist], eine Situation, einen Mitmenschen, eine gesellschaftliche Gruppe usw. in allen Aspekten, die sich auf das praktische Handeln in der Gemeinschaft beziehen, in ihrem spezifischen Charakter und Wert zu beurteilen." (ebd. 2008, 379)
Diese Kultur der Gefühle "kann ... als ein Übergang von abstrakten zu konkreten Gefühlen beschrieben werden. Das abstrakte Gefühl ist nach Aristoteles das Gefühl, das zu einer oberflächlichen, meist an die Wahrnehmung gebundenen, eher pauschalen Unterscheidungsform gehört. Wer im Gesamtkomplex einer Situation einen Zug von Bedrohlichkeit entdeckt und deshalb auf die ganze Situation mit Angst reagiert, ... hat abstrakte Gefühle. Diese Abstraktheit ist es, die durch die Erziehung durch die Kunst, Furcht und Mitleid dort zu empfinden, wo es angemessen ist, wie es angemessen ist, in welchem Ausmaß es angemessen ist (usw.) 'gereinigt' und zu einer konkreten Empfindungsfähigkeit verwandelt wird. Diese Konkretheit besteht nicht zuletzt darin, daß solche Gefühle dem 'Werk' des Menschen, dem sie gelten, gerecht werden." (ebd. 2008, 379)
Die Einteilungskriterien von Dichtung folgen den Unterschieden der (i) Mittel, der (ii) Gegenstände und (iii) der Art und Weise der Nachahmung. Die (i) Mittel der poetischen Mimesis sind Wort (logos), Rhythmus (rhythmos) und Melodie (melos). Versmaß (metron) oder Versdichtung (metrike) ist ferner definiert als Verbindung von logos und rhythmos. Die (ii) Gegenstände der poetischen Mimesis sind hochwertige (idealisierendes Epos, Tragödie) oder gewöhnliche, gemeine (karikierendes Spottgedicht, Komödie) Handlungen. Die (iii) Art und Weise der poetischen Mimesis betrifft die Wiedergabe im Bericht (Erzählung der 1. oder 3. Person) oder in der handelnden Darstellung (Drama).
Psychologischer und geschichtlicher Ursprung der Dichtung
Fuhrmann (a.a.O. 1973, 9) spricht von einem vorrangig rezeptionsästhetischen Ansatz bei Aristoteles, im Kontrast zu dem so genannten produktionsästhetischen Ansatz bei Plato. Dem entspricht die aristotelische Analyse des Vergnügens an Nachahmung oder Mimesis seitens des Publikums als einer der beiden naturgegebenen Ursachen der Poetik. Ursachen des Vergnügens sind (i) die intellektuelle Erkenntnis durch Erschließung der ursprünglichen nachgeahmten Realität; (ii) die technisch-ästhetische Perfektion und (iii) die affektive Wirkung (Jammer und Schaudern bzw. Lachen). Auch hier ist o.g. Präzisierung der Mimesis durch Arbogast Schmitt im Auge zu behalten. [Bild links: Kopf eines Satyr. Satyrn sind den Weingott Dionysos begleitende Waldgeister und Verkörperer animalischer Lüsternheit, siehe unten zum Satyrspiel]
Die zweite natürliche Ursache der Poetik ist der Nachahmungstrieb, der den Künstler motiviert. Aristoteles thematisiert kaum — wie etwa Plato — das künstlerische Genie und den dichterischen Enthusiasmus, betont aber die Kongenialität des literarischen Produzenten zu seinem Stoff, insofern Hochgesinnte für hochwertige Handlungen, für tragische Gegenstände disponiert sind und umgekehrt Leichtfertige für geringerwertige Handlungen, Komödien. Nur Kap. 17 geht kurz auf den Unterschied zwischen formgewandter mimetischer Technik (lat.: ars) und erlebnishaftem Engagement (lat.: ingenium) ein.
Hinsichtlich der historischen Wurzeln und der Geschichte der Poetik vertritt Aristoteles eine konsequente Fortschrittstheorie, die zwei Entwicklungslinien unterscheidet: (i) (vorhomerisches) Preislied — (Homerisches) Heldenepos ("Ilias", "Odysee") — (Attische) Tragödie (Kap. 4, 1448 b 24—33) ; (ii) vorhomerisches Rügelied/Jambos — (Homerisches) Spottgedicht ("Margites") — Komödie (Kap. 4, 1448 b 34—1449 a 1). Innerhalb der einzelnen Stadien geht der Weg jeweils noch einmal von der künstlerischen Improvisation zur fixierten Technik — bei der Tragödie (Kap. 4, 1449 a 2—30) wie bei der Komödie (Kap. 5, 1449 a 31—1449 b 8).
Zum Ursprung der Tragödie im engeren Sinn bietet Aristoteles selbst zwei unterschiedliche Auffassungen bzw. Erklärungen, und diese Widersprüchlichkeit bzw. Unsicherheit kennzeichnet bis heute die Forschungslage. In Kap. 4, 1449 a 9 führt Aristoteles die Tragödie auf den Dithyrambos zurück, in Kap. 4, 1449 a 19 auf das Satyrspiel. Beiden Erklärungen ist gemeinsam der dionysische Herkunftsbereich. Bei Herodot 1, 23 findet sich ein Hinweis auf eine mit dem Namen Arion verbundene dorische Vorform des Schauspiels Anfang des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, in welchem wie bei Aristoteles Dithyrambos und Satyrikon ebenfalls gemeinsam genannt sind und Pate stehen.
Der Dithyrambos ist bekanntlich Chorlyrik im Umfeld des ursprünglich nicht hellenischen Dionysoskultes. Die öffentliche Aufführung der Tragödie ist nun erstmals im Athen der Peisistradiden Mitte/Ende des 6. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Großen Dionysien im Frühjahr bezeugt; es findet sich sogar die erstmalige Nennung für die Jahre 536/535—533/32 in Verbindung mit dem Namen des Thespis als entscheidendem Promotor. Es folgte dann eine parallele Weiterentwicklung von dramatischer Tragödie und der gesungenen und getanzten dithyrambischen Chorlyrik mit 50 Sängern.
Das Satyrspiel ist — wie hier gleichfalls vorauszusetzen — ebenfalls ein Chor aus Satyrn und dem alten Silen, der heroische Stoffe und Märchen ins Komische und Burleske zog. Die Satyrn waren dabei nackt bis auf ein Bocksfell mit Phallos und Pferde- bzw. Bocksschweif sowie Maske mit Bart, Glatze und langen spitzen Ohren. Kennzeichen der Gestalt des Silen waren: alt, weißhaarig, behaart, mit Pantherfell und Efeukranz.
Das Argument aus dem streng disjunktiven Genoszwang der hellenischen Dichtung (d.h. entweder muss der Dichter ein Tragiker oder ein Komödienverfasser sein), gibt der Herleitung aus dem Satyrspiel ein Übergewicht, insofern Tragiker und nur Tragiker die Kompetenz und Verpflichtung zu Satyrspielen hatten, denn die klassische dramatische Vorführung (die sog. Tetralogie) bestand aus drei Tragödien mit anschließendem Satyrspiel. Die communis opinio der Forschung ist heute, dass am Ursprung der Tragödie Lieder aus der Heldensage, Totenklagen und Tänze des Heroenkultes stehen, die später in den Dienst des Dionysoskultes genommen wurden. Einflussreiche Gegenpositionen vertreten die Entwicklungslinie Dithyrambos - Satyrspiel - Urtragödie oder eine direkte Filiation von der rhapsodischen Homerrezitation zu Thespis als historischen Schöpfer der Tragödie.
Begriffsbestimmung der Tragödie
Aristoteles' Definition der Tragödie ist: "Die Tragödie ist die Nachahmung (mimesis) einer edlen (spoudaios) und abgeschlossenen (teleios) Handlung (praxis) von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, daß jede Form der Rede in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet (apangeleia) wird und daß mit Hilfe von Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) eine Reinigung (katharsis) von eben diesen Affekten bewerkstelligt wird." (Kap. 6, 1449 b 24—28)
Ihre Bestandteile: "Es muß also jede Tragödie sechs Teile haben, in denen sie ihre jeweilige Qualität besitzt: Mythos, Charakter, Rede, Absicht, Szenerie und Musik." (Kap. 6, 1450 a 8—10) Der Mythos, d.h. das Handlungskonzept ist bei weitem das wichtigste Element: "Das wichtigste davon ist der Aufbau der Handlungen." (Kap. 6, 1450 a 15) Dementsprechend nimmt dessen Analyse umfangmäßig den größten Teil der Poetik ein (Kap. 7—14, 16—18). Die Handlung ist zwar meist der mythischen Tradition entnommen, aber als Handlungsmodell typischer sittlich zu verantwortender menschlicher Verhaltensweisen, nicht als mythischer Glaube mit Schicksalswalten und Theomachie. Der Charakter (ethos) wird in Kap. 15 besprochen. Die Absicht bzw. besser: das Denken oder die Gedankenführung (dianoia) ist in Kap. 19 nur kurz thematisch: Aristoteles verweist hier auf die Analysen der Rhetorik. Die Rede (lexis) nimmt Kap. 19—22 ein und stellt einen äußerst kompakten Grundriss einer wissenschaftlichen Grammatik dar, sowie eine Diskussion der optimalen Mischung der Sprachebenen in der Poetik: Alltagssprache (Grundlegende Sprachebene zwecks Klarheit) — Metaphorik (hauptsächliches poetisches Stilmittel) — Neologismen — Glossen (Lokale, professionelle oder soziale Idiome). Szenerie (opsis) und Musik (melopoiia) werden in der aristotelischen Poetik nicht näher thematisiert.
Handlung (I) — Organische Einheit
Die Handlung oder der mythos ist mit Abstand der wichtigste dramatische Bestandteil und unterliegt diesen formalen Prinzipien der dramatischen mimesis: Ganzheit (holon) — Einheit (hen) — begrenzte Ausdehnung (horos) (Kap. 7— 8) Diese Prinzipien bestimmen die Mimesis des Dramas — wie Aristoteles selbst ebd. betont — in Analogie zur systemischen Einheit der biologischen Organismen: "Mythos bezeichnet in der Poetik also nicht eine überlieferte, sagenhafte Geschichte, sondern den funktionalen Zusammenhang mehrerer Handlungsschritte zu einer Einheit." (Schmitt a.a.O. 2008, 120) Zur Ganzheit: "Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt. Anfang ist, was selbst nicht notwendig auf ein anderes folgt, aus dem aber ein anderes wird oder entsteht. Ende umgekehrt ist, was selbst aus anderem folgt, aus Notwendigkeit oder in der Regel, ohne daß aus ihm etwas weiters entsteht. Mitte endlich, was nach anderem und vor anderem ist." (Kap. 7, 1450 b 26—31) Zur Einheit: Gemeint ist die Identität der Handlung, nicht des Handelnden. Zur begrenzten Ausdehnung: Die richtige, schöne Größe erfordert Überschaubarkeit, Fasslichkeit und resultiert aus einer nicht mechanisch, sondern wiederum nur je organisch zu bestimmenden richtigen, schönen Anordnung der Episoden in einer dramatischen Verlaufskurve.
Handlung (II) — Wahrscheinlichkeit
Diesen formalen Prinzipien ist sachlich, inhaltlich koordiniert das Prinzip der Wahrscheinlichkeit (eikos, Kap. 9): Es ist "nicht die Aufgabe des Dichters", sagt Aristoteles, "zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit." (Kap. 9, 1451 a 36—38). Es geht also bei der poetischen Mimesis um symbolische Allgemeingültigkeit und Handlungsmodelle, nicht um einmalige Figuren und wirkliche Fakten. Letzteres ist, so Aristoteles, das Objekt der Geschichtsschreibung. Und: "Darum ist die Dichtung auch philosohischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen." (Kap. 9, 1451 b 5—7)
Handlung (III) — Dramaturgie
Dramaturgische Prinzipien der handelnden Mimesis sind diese: Verknüpfung (desis) — Lösung (lysis) — Umschwung (metabasis): pragmatisch (peripateia) und/oder kognitiv (anagnorisis) (Kap.10-11) — Leid (pathos).
Der tragische Aufbau und Effekt der dramatischen Handlung folgt der Zweiteilung in (i) tragische Verknüpfung bzw. Konfiguration (desis) in konsequenter Handlungsführung bis zum Überraschungs- und Schockeffekt der paradoxen Wende gegen die beabsichtigte und erwartete Wirkung (Umschwung, metabasis bzw. metabole), die zur (ii) Lösung (lysis) führt.
Der Umschwung kann eine Handlungs-metabolé (peripateia) oder eine Erkenntnis-metabolé bzw. Entdeckung oder Wiedererkennung (anagnorisis) sein. Erstere betrifft die Handlungsabsicht: die Handlung schlägt in das Gegenteil, gegen die erwartete Wirkung, um; Letztere betrifft das Vorurteil, den Schein, die Illusion des Handelnden, welche zerstört und so die unrichtige Vorstellung korrigiert wird. Beides betrifft v.a. Beziehungen zwischen Personen, und zwar vorrangig zwischen Nahestehenden, d.h. Freunden oder Verwandten, da Konflikte mit Feinden oder indifferenten Fremden des tragischen emotionalen Engagements entbehren. Folge der Peripetie infolge der Irrung oder der zu späten Entdeckung der Irrung ist Verderben und Leid (pathos). Allerdings hält Aristoteles die Entdeckung der Irrung im letzten Augenblick vor der Katastrophe für die vollkommenste Handlungsführung: Tragisch meint also nicht pessimistisch.
Handlung (IV) — Handlungsmodell
Handlungstheoretische Bedingung der dramatischen Mimesis ist eine überzeugende Psychologie des tragischen Handlungsmodells (Kap. 13). Aristoteles diskutiert vier mögliche Handlungsmodelle:
(i) Der sittlich Hochwertige (epieikes), der die richtigen Grundsätze in konkreten Situationen angemessen verwirklicht, gerät von Glück in Unglück, was nicht tragisch, sondern absurd und abscheuerregend sei. [Büste links: Scipio africanus maior, 236—183 v.C., der spirituelle und willensstarke Gegenspieler und Besieger Hannibals, Befreier Roms und Italiens, Eroberer des karthagischen Imperiums in Nordafrika und Spanien sowie Sieger über das vorderasiatische Seleukidenreich Antiochos III.; in der Römischen Antike (z.B. in Ciceros Dialog über den Staat de re publica) wie sein Sohn und sein Enkel Prototyp des gebildeten und sittlich hochwertigen Mannes: vir prudens et honestus]
(ii) Der sittlich Schlechte (mochtheros) gerät von Unglück ins Glück, was nicht Jammer (eleos) und Schauder (phobos) erzeuge, sondern Abneigung.
(iii) Der sittlich Schlechte (mochtheros) gerät von Glück ins Unglück, was nicht tragisch sei und auch keine Identifizierungsmöglichkeit biete.
(iv) Der sittlich Durchschnittliche mit gutem Charakter (chrestos) des gehobenen sozialen Status, der durch eine Irrung (hamartia) der praktischen Vernunft (dianoia praktike) vom Glück ins Unglück gerät. Dies ist die tragische Konfiguration.
Die hamartia ist genauer sittliche Unbeherrschtheit und Überstürzung (akrasia). Das zu Grunde liegende Handlungsdefizit ist das Fehlen der aretè dianoetiké (praktische Einsicht oder phronesis) wegen irrationalem Übergewicht von Begehren (epithymia) und Eifer oder Aggression (thymos) bei vorhandener durchschnittlich guter Grundhaltung bzw. Charakter (arete ethike) (vgl. Cessi a.a.O. 1987, 194, 246). Cessi (1987, 262) weist in ihrem "Versuch einer Definition" aber auf die wichtige Tatsache hin, dass die hamartia indirekt in charakterlichen Defiziten gründet: "Die hamartia läßt sich ohne Widersprüche als ein charakterbedingter und sittlich relevanter Denkfehler verstehen." Die sehr umfangreiche Forschungsliteratur zur Hamartia-Interpretation wird ebenfalls bei Cessi (1987, 1—48) dokumentiert und diskutiert. Die beiden extremen Ansätze: hamartia als (i) intellektueller Fehler oder als (ii) moralische Schuld sind simplistisch und werden den Texten nur selektiv gerecht. Cessis Analysen ist zuzustimmen, wonach die Hamartia folgende Qualifikationen aufweist:
(1) Praktischer schädlicher Irrtum in Abgrenzung zur Zufallsschädigung (atychema) und zur boshaften absichtlichen Schädigung (adikema) (1987, 6—7).
(2) Vermeidbarkeit des Irrtums: Der Betreffende kennt die Folgen und handelt willentlich, aber überhört und übersieht die entsprechenden Hinweise (1987, 10, 261).
(3) Der Irrtum ist "Unwissenheit als Ausdruck einer charakterlichen Schwäche" (1987, 244).
(4) Die charakterliche Schwäche betrifft: (i) Überstürzung, (ii) Leichtsinn, (iii) Blinde Starrheit bzw. beschränkte Sturheit (1987, 261, 281).
(5) Der Irrtum beinhaltet ethisch, d.h. in der Dimension des Strebens, ein ungeordnetes Übergewicht von Aggression (thymós) und Begehren (epithymía) (1987, 245—247).
(6) Der Irrtum beinhaltet kognitiv eine perspektivische Verzerrung und Verengung auf die aktuelle, punktuelle Wahrnehmung und ihre praxisrelevante Bewertung bei Nichtberücksichtigung der (Erfahrung der) Vergangenheit und der (Konsequenzen für die) Zukunft. Diese perspektivische Verzerrung ist somit charakterisiert durch das einseitige Übergewicht der sinnlichen Phantasie (phantasia aisthetike) gegenüber der intellektiven Phantasie (phantasia logistike resp. bouleutike) (1987, 272).
(7) Der Irrtum beinhaltet affektiv eine unbeherrschte Affektbesetzung der punktuellen Wahrnehmung, insofern eine aktuelle Leidenschaft (pathos) die habituelle richtige Einstellung (hexis) paralysiert.
(8) Der Irrtum beinhaltet resultativ (in der Dimension der Lust/Trauer) eine sittlich schuldhafte Diskrepanz zwischen schlechthin Angenehmem oder Gutem (agathon on) und nur relativ Angenehmem (phainomenon on).
Auch Aubenque (La Prudence chez Aristote, Paris 1963 [4. Aufl. 2004; dt.: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2. Aufl. 2013], Teil III "La Source tragique", insbes. 160—165) benennt zwei grundsätzliche Ursachen der hamartia: (i) Verfehlen des geduldigen Ernstes der Erfahrung und Reflexion der phronesis durch vermessene Überheblichkeit (hybris) aus Mangel an intellektueller Zucht und Anerkenntnis der Begrenztheit des menschlichen Wissens. (ii) Verfehlen der Besonnenheit (sophrosyne), des vernünftigen Maßes im Genuss durch Übertreibung (hyperbole). Von grundlegender Bedeutung ist hier ein Sachverhalt, auf den Aubenque (1963, 97ff) hinweist: Moral umfasst Wollen und gelingendes Handeln: eine moralische Tat ist eine gelungene Tat (eupraxia, vgl Cessi 1987, 286). Aristoteles' Handlungs- und Dichtungstheorie ist eine Synthese von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Die phronesis umfasst die gute Intention, das vernünftige Ziel und die umsichtige, erfolgreiche Meisterung der Umstände (kairoi).
Der Charakter (ethos)
Aristoteles nennt vier Bedingungen des tragischen Charakters: tüchtig (chrestós) — angemessen (nach Alter, Geschlecht, sozialer Stellung) — ähnlich (dem Zuschauer (?) oder dem tradierten Mythos (?) — gleichmäßig.
Theorie des Epos
Die Epostheorie in Kap. 23—26 der Poetik ist als Diskussion der Unterschiede und
Gemeinsamkeiten unter durchgängigem Bezug auf die Tragödientheorie aufgebaut, und umfaßt nur etwa ein Drittel von deren Umfang: "Denn alles, was das Epos besitzt, besitzt auch die Tragödie; was aber die Tragödie hat, ist nicht alles im Epos." (Kap. 5, 1449 b 18—20)
Die Bestandteile von Epos und Tragödie sind gleich, außer: (1) Fehlen von Musik und Inszenierung beim Epos, (2) Größere Zahl und Ausdehnung der Episoden (episodia) im Epos, (3) Anderes Versmaß: feierliche Großartigkeit (megaloprepeia) des Hexámeter statt Jambus und Trochaeus.
Gute Epik hat somit einen Handlungskern von dramatischer Kürze wie die Tragödie mit 1 Hauptfigur, 1 Handlung und straffem kausalem Zusammenhang, nur dass die Darstellung von epischer Breite ist.
Auch hier der rezeptionsästhetische Primat: Unmögliches, aber Glaubwürdiges ist u.U. dem Möglichen, aber Unglaubwürdigen vorzuziehen, d.h. die mimetische Illusion, der überzeugende Eindruck auf den Rezipienten ist der Logik und dem Realismus vorzuziehen, aber nur wenn unbedingt nötig für den angestrebten und anders nicht zu erreichenden künstlerischen Effekt. Abschließend erörtert und begründet Aristoteles seine Auffassung vom poetischen Primat der Tragödie als absolutem Maßstab wegen ihrer quantitativen Kompaktheit und qualitativen Handlungseinheit.
Theorie der Komödie
Aus einer Ankündigung des 6. Kapitels und zwei Hinweisen in der Rhetorik (1, 11; 3, 16) erhellt die Existenz eines zweiten, verlorengegangenen Buches der Poetik insbesondere zur Komödientheorie. Im Gegensatz zur Tragödie ist die Komödie jedoch z. Zt. des Aristoteles noch in der Entwicklung: die sog. Neue Komödie (Menander) steht noch aus, sodass die Rekonstruktion der Komödientheorie aus den allgemeinen Angaben des 1. Buches der Poetik (Kap. 4 und 5) sowie aus späteren Exzerpten und Kompilationen (v.a. des byzantinischen Tractatus Coislinianus) nur mit Zurückhaltung möglich ist.
Soviel scheint sicher gesagt werden zu können, dass — wie schon erwähnt — auch die Komödie in einer Höherentwicklung begriffen gedacht wird, ausgehend von der persönlichen Maßregelung Einzelner im Spottgedicht, dem Jambos, über die politische Satire realer Personen und Zustände (Aristophanes) zur dramatischen Darstellung typischer, allgemeiner Fehler in der Komödie als bürgerlichem Typenstück, wobei der sizilischen Komödie (Posse, mimus) möglicherweise ein Einfluss zugesprochen wird. Kap. 4, 1449 a 11—12 führt als zusätzlichen Hintergrund der Komödie Phallische Umzüge bzw. Gesänge in vielen Städten an, die teilweise in der Linie des Satyrspiels zu liegen scheinen. Nacharistotelisch ist das Dreiphasenschema: Alte Komödie (persönliche Maßregelung) — Mittlere Komödie (versteckte Rüge) — Neue Komödie (ohne aktuellen persönlichen Bezug). Ein besonderes Fest der Komödie waren die gemeinionischen sog. Lenäischen Spiele (Januar / Februar), seit 440 mit einem staatlich organisierten Wettbewerb von zwei Dichtern mit je zwei Stücken.
Der für die Komödie maßgebliche Affekt ist das Lachen und ihr Gegenstand ist das Lächerliche (geloion), das weder leidvoll noch verderblich ist, wie auch die Handlungsstruktur in der Regel vom Unglück ins Glück führt. Die aristotelische Analyse des Lächerlichen scheint dasselbe in der Dimension der Charaktere (ethos), des Sprachlichen (lexis) und der Handlungen (pragmata) aufgesucht und identifiziert zu haben. Die Formen des Lächerlichen in der Dimension der Charaktere etwa sind der ironische Typ, der Witzemacher und der Aufschneider; beim Sprachlichen scheint Aristoteles sieben Formen unterschieden zu haben und bei den Handlungen neun Formen.
Horaz: Ars poetica
Die Ars poetica (ca. 13 v. C.) des Quintus Horatius Flaccus (65—8 v.C.) ist Teil der sogenannten Epistulae II, welche theoretische Erörterungen zur Literatur und Ästhetik in gebundener Rede bieten. Horaz gilt als bedeutendster Lyriker Roms. Er erhielt seine Ausbildung in Rom und Athen und war nach kurzer militärischer Laufbahn in der Römischen Verwaltung tätig, bis sein literarischer Erfolg ihn unabhängig und schließlich zum geschätzten Freund des Augustus machte. Aristoteles' Poetik und die griechische Literaturtheorie überhaupt erfuhr durch Horaz eine schöpferische Rezeption in den lateinischen Sprachraum und Kulturkreis, welche bis zum Ende des 18. Jh. maßgeblich blieb. In Folge eine Skizze der Thesen der 476 Verse umfassenden ars poetica, Horazens Dichtung über die Dichtung.
Ars I — Grundsätze
Verse 1—13: Einleitung: Unregelmäßige, chaotische Willkür ist weder in der Malerei noch in der Prosa noch in der Poesie statthaft. Horaz untermalt dies durch die Eingangsgroteske eines widersinnigen surrealistischen Gemäldes. Die künstlerische Freiheit ist zwar eine richtige und notwendige potestas und venia poetarum, aber sie spielt auf dem Boden der natürlichen Vorgaben (mimesis, imitatio, Nachahmung der Natur) und der kulturellen Vorgaben (zelos, aemulatio, Wetteifern mit den klassischen Vorbildern der Alten in Form kreativer Aneignung und Überbietung). [Bild links: Denkmal des Horaz in seiner Vaterstadt Venusia (heute: Venosa), Süditalien]
V. 14—38: Es darf keine Diskrepanz zwischen Anspruch und Werk geben. Das Kunstwerk muss erstens Harmonie des Ganzen verkörpern und ausstrahlen. Diese Harmonie hängt ab von der Einheit (unitas, hen) und der Einfachheit, Klarheit und und Gleichmäßigkeit des Werkes (simplicitas). Das Werk muss zweitens durch Angemessenheit (aptitudo) der Einzelheiten ausgezeichnet sein. Einseitigkeiten, Übertreibungen und Leerstellen sind zu vermeiden. Damit dies gelingt, muss die gewählte Aufgabe und Herausforderung dem Können und der Schaffenskraft (potentia) des Dichters entsprechen und diese nicht überfordern.
V. 39—72: Thematische Ordnung und Ökonomie (ordo) sind unverzichtbar. Die Geschichtlichkeit der Sprache und Kultur ist insofern zu achten, als der Sprachgebrauch (usus) die Norm ist. Konkret bedeutet das eine vernünftige und vorsichtige Offenheit für Neuprägungen (Neologismen) und Fremdwörter. — V. 73—98: Der Stil und das Versmaß muss geziehmend sein (decentia).
V. 99—113: Das Werk muss emotional bewegend und rührend sein, 'Süße' (dulcitas) haben — sei es im Blick auf Lachen oder Weinen, Trauer oder Zorn, Spiel und Ernst. — V. 114–—127: Charakterliche Angemessenheit und Konsistenz (sibi constans) der Personen. — V. 128—152: Eleganz (species) des formalen Aufbaues und der inhaltlichen Komposition betreffs Stoffauswahl, konzentrierter zielgerichteter Stoffbehandlung (brevitas), Verknüpfung von Dichtung und Wahrheit, Einsatz von Steigerungen, Überraschungen, Glanzlichtern. — V. 153—178: Stimmige Psychologie der Charaktere nach Lebensaltern, Berufen und sozialen Ständen (mores).
Ars II — Gattungen [Schwerpunkt Dramentheorie]
V. 179—188: Bühnenkunst: Kluge und angemessene Stoffaufteilung (decus) nach der Eignung für Bühne (Aufführung) oder Bericht (Erzählung). — V. 189—250: Beschränkung der Dramaturgie auf fünf Akte — Kein unnötiger Einsatz des deus ex machina (plötzliche, künstliche Eingriffe und Lösungen durch höhere Gewalt) — Beschränkung auf drei handelnde und sprechende Personen — Zurückhaltender Einsatz der Instrumentalmusik (Flöte) zur Begleitung des Chores — Mäßigung statt Rohigkeit auch des Satyrspiels. — V. 251—274: Sorgfältige Beherrschung der Verslehre (modulatio): Jambus und Spondeus als grundlegende Versfüße. Jambischer Trimeter als Sprechvers des Dramas. — V. 275—285: Abriss der Geschichte der griechischen Tragödie, Komödie und Satyrpiel und der römischen Dramenarten der Praetexta (geschichtlicher Stoff) und Togata (Alltagsthemen). Durch Arbeit (labor) und Ausdauer (mora) kann es Römischen Schriftstellern gelingen, Rom durch das geschliffene Wort ebenso mächtig und erfolgreich zu machen wie es dies durch Tatkraft und Waffen ist.
Artifex [Künstler, Dichter]
V. 297—308: Die Mittel oder Werkzeuge des Dichters: (i) Natürliche Begabung und Eingebung, Inspiration (ingenium), (ii) disziplinierte Technik (ars) und (iii) sittliche Hochwertigkeit in der Arbeit und Lebensführung (virtus). Absage an Künstlerallüren.
V. 309—346: Anfang und Quelle (principium et fons) des Dichtens ist das richtige Denken und Urteilen (recte sapere). Es umfasst in der Sache das durch die Philosophie (chartae socraticae) aufgeklärte theoretische Denken und praktische Handeln. Das durch Erfahrungsbeispiele (exempla) geschulte praktische Urteil erlaubt darüber hinaus die Angemessenheit (convenientia) der Darstellung der Personen und Sitten der faktischen Lebenswelt. Sachliche Substanz ist hier wichtiger als formaler Glanz. Auf diese Weise kann der Dichter Nutzen (utilitas) und Vergnügen (delectatio) verbinden. Kunst soll fördern, nützen (prodesse) und erfreuen, ergötzen (delectare). Der Dichter hat eine soziale Verantwortung als Lehrer und Kritiker.
V. 347—360: Flüchtigkeitsfehler sind menschlich, unvermeidbar und zu entschuldigen, nicht aber fortgesetzte Inkompetenz und Fehlerhäufung aus Trägheit. — V. 361—390: Dichtung duldet kein Mittelmaß. Nur reife Spitzenleistungen sollten veröffentlicht werden: nonum prematur in annum [neun Jahre soll ein Werk bearbeitet werden]. — V. 391—407: Kulturelle, gesetzgeberische, zivilisatorische und sittliche Aufgabe und Leistung der Dichter in mythischer Vergangenheit und geschichtlicher Zeit, im Frieden wie im Krieg (Orpheus, Amphion, Solon, Homer, Tyrtaios, Pindar). Entspannung und Unterhaltung eine legitime ergänzende Aufgabe.
V. 408—452: Erfolgreiche Sprachbeherrschung und Dichtkunst hängt sowohl von der natürlichen Begabung und Inspiration (natura, ingenium) ab wie vom theoretischen Studium und der praktischen Technikbeherrschung (studium, ars). Begabung allein führt nur zu anmaßendem Dilettantismus: ego nec studium sine divite vena, nec rude quid prosit video ingenium (409/10). — V. 453—476: Schlussappell an das handwerkliche und sittliche künstlerische Gewissen, an ars und virtus. Er wird verstärkt und untermalt durch die Satire auf einen dilettantischen, fanatischen und rasenden Dichter, der Enthusiasmus zu egozentrischem Geniegebaren missbraucht und Inspiration in Wahnsinn verkehrt. Er ist eine hässliche Bestie und wie ein gefährlicher Blutegel oder Parasit zu verabscheuen und zu fliehen.
Wirkungsgeschichte
In der Antike hat Horaz u.a. auf Ovid, Juvenal und Seneca gewirkt. In der Spätantike beeinflusste Horaz Lactantius (geb. 275, „Christlicher Cicero“) und Prudentius (geb. 384 „Christlicher Horaz“). In der Renaissance stellen Dante, Petrarca, Boccachio die Poesie als selbstständige Doktrin und Berufung — unter Berufung auf Horaz und Quintilian — über die allgemeinbildenden artes liberales, in deren Rahmen die Poetik im Mittelalter behandelt worden war. Der führende Literaturwissenschaftler und Philologe der Renaissance, Caesar Scaliger (1484—1558), erneuert in seinen Poetices libri septem von 1561 die Grundsätze von Aristoteles und Horaz. Auch der große Literaturkritiker und -theoretiker des Barock, Nicolas Boileau (1636—1711), hat die ars poetica des Horaz 1674 in dem Werk L'Art poétique für die Neuzeit aktualisiert. Er macht aus der Horazischen Vorgabe allerdings eine systematische Regelpoetik mit dem Akzent auf der Technik (ars) und nicht der Inspiration und Begabung (ingenium). Bei Horaz ist beides wichtig. Boileaus Werk beinflusst Corneille, Racine und Molière. In der berühmten Querelle des Anciens et des Modernes ist Boileau der Repräsentant der normativen, überzeitlichen Geltung der antiken Klassiker.
Sein Gegenspieler ist Charles Perrault [1628—1703, Bild oben], bekannt als Herausgeber und Dichter von Märchen (Dornröschen, Rotkäppchen, Der gestiefelte Kater u.a.). Er betont die Rolle der kreativen Begabung (inventio) und subjektiven Inspiration (ingenium), v.a. in Form des naiven Genies, statt der wetteifernden Nachahmung der Natur und der Klassiker (imitatio und aemulatio). Neben der Entwicklung des modernen Geniebegriffes (in der Antike bereits bei Pseudo-Longinus entworfen) vertritt er eine Fortschrittstheorie der Künste und Wissenschaften, welche die Neuzeit und insbesondere das 17. Jh. an Inspiriertheit und Perfektion den antiken Klassikern gleichstellt bzw. sogar den Vorrang der Modernen vor den Alten behauptet. Er löst damit die Querelle des Anciens et des Modernes aus, wo seine Sicht zunächst eine Minderheitenposition ist. Im Verlauf der Debatte gelingt es ihm, sie zur Mehrheitsposition zu machen. So phänomenale Leistungen wie die seines Zeitgenossen Jacob Balde (s.u.), der gerade Horaz ganz objektiv übertrifft, hoben die Frage zudem aus der Ebene der Meinungen auf jene der Tatsachen.
Perraults Ansatz wird später im Sturm und Drang (Herder, Goethe) und in der Frühromantik zum Programm der Genieästhetik werden und absolut gesetzt sein (Friedrich Schlegel). Boileaus Art poétique dagegen hat in Deutschland in Opitz' Buch von der deutschen Poeterey (1624) eine Parallele. Opitz' Gewährsmann ist ebenfalls Horaz und dessen ars poetica. Opitz' Werk gilt als bahnbrechend für die deutsche Literaturtheorie und Ästhetik. Johann Christian Gottsched folgt ihm hierin wie auch Lessing.
Eine unmittelbare Aneignung und Aktualisierung von Horazens Poetologie ist die Dissertatio de studio poetico (1658) Jacob Baldes (1604—1668), des Germaniae Horatius [Bild links]. Balde galt schon den Zeitgenossen einhellig nicht nur als bedeutendster deutscher Dichter, sondern auch als weltweit erstrangiger neulateinischer Dichter und v.a. Lyriker und Satiriker, auf Augenhöhe mit den römischen Klassikern Vergil, Horaz, Ovid. Manche halten ihn für den besten lateinischen Lyriker der Geschichte überhaupt, der alle traditionellen Formen und Versmaße vollendet handhabte und kreativ überbot. Der produktivste und dabei immer exzellente Dichter Europas ist Balde ohnehin: "1643 erscheint in München ein lyrisches Großcorpus, wie es die Welt in lateinischer Sprache noch nicht gesehen hatte: In vier Büchern 'Lyrica', einem Buch 'Epodi' und sieben (später auf neun erweiterten) Büchern 'Sylvae' („Wäldern“) stellte er in den Maßen und Formen des Klassikers Horaz die Empfindungen und Probleme seines aufgewühlten Zeitalters so umfassend und vollendet dar, dass ihm von nun an der Beifall auch aller Gebildeten in Europa sicher war. Von den Themenbereichen, die Horaz einst berührt hatte — Politik, Freundschaft, Religion, Literatur, Lebensweisheit und Geselligkeit — fehlt ... nur die Erotik, die aber wunderbar aufgehoben und sublimiert ist in Baldes Marienlyrik, die immer als ein Höhepunkt seines Schaffens angesehen wurde." (Wilfried Stroh)
Baldes Poetik Dissertatio de studio poetico ist in der Sache eine Synthese von Boileau und Perrault. Er hält den Grundsatz der Nachahmung (mímesis) der Natur und der Klassiker für ungeeignet, um allein für sich Antrieb und Natur der Dichtung zu verstehen. Viel wichtiger sei die von Perrault betonte Kreativität des Dichters und Künstlers, dessen Geist und Gehirn neue Dinge, Erfahrungen und Sichtweisen erschafft. Der wirkliche Dichter sei vor allem Schöpfer und visionärer Bildner. Baldes Werk ist dementsprechend eine anerkannt vollendete Nachahmung und Beherrschung der klassischen Muster und zugleich eine nach Form und Umfang unerreichte Neuschöpfung des inspirierten Subjektes oder dichterischen Genius.
Johann Gottfried Herder hat 1795/96 unter dem Titel Terpsichore große Teile seines Werkes übersetzt bzw. nachgedichtet und ihn so für die Moderne präsent gemacht. Herder war überzeugt: Durch "den Reichthum eigenthümlicher Wendungen und geniale Composition" behauptet Balde "den Vorrang vor Horaz" und ist mehr als andere ein "Dichter Deutschlands für alle Zeiten." Schiller und Goethe bewunderten ihn und Letzterer ließ sich von ihm auch für die eigene Produktion inspirieren, namentlich für die Schlusszene des Faust. Balde war Mitglied der Gesellschaft Jesu und Professor der Rhetorik an bayrischen Gymnasien und Hochschulen. In den dramatischen Jahren des Dreißigjährigen Krieges war es nicht zuletzt Balde, der durch seine tagesaktuellen Oden und Epen — aber auch als spiritueller Berater des führenden Staatsmannes der Epoche, Kurfürst Maximilian I, und als Prinzenerzieher — dazu beitrug, München zur Denkfabrik und zum Aktionszentrum des weltgeschichtlichen Ringens zu machen.
Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung erörtert die beiden horazischen Prinzipien ingenium und ars und bietet eine Synthese. In England erfuhr Horaz durch Alexander Pope eine intensive Rezeption, in Russland durch Alexander Puschkin. Brecht und Nietzsche waren begeisterte Horazleser:
"Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte Maximum in der Energie der Zeichen — das alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence. Der ganze Rest der Poesie wird dagegen etwas zu Populäres – eine bloße Gefühls-Geschwätzigkeit." (Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung. Was ich den Alten verdanke)
Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft
Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft ist der erste Teil von Kants Kritik der Urteilskraft (1790). Der zweite Teil ist die Kritik der teleologischen Urteilskraft, welche eine sehr umfassende Philosophie der Biologie und Ökologie darstellt. Sie wird im Untermenu Philosophie der Biologie vorgestellt. Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft enthält eine Analyse der beiden Begriffe des Schönen und des Erhabenen. Bereits in der vorkritischen Phase hatte Kant eine populäre und vielgelesene Darstellung der Ästhetik veröffentlicht: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764). Kant hatte dort noch undifferenziert die Verwandtschaft und Gleichursprünglichkeit von ästhetischem und moralischem Gefühl vertreten. Die Sittlichkeit wurde überhaupt von ihm damals nicht auf die praktische Vernunft, sondern wie bei den englischen Moralphilosophen auf das moralische Gefühl gegründet. Später wird dieses nur noch die Quelle der subjektiven Motivation des moralischen Handelns sein.
Das Erhabene als ästhetische Kategorie wurde im Übrigen zum ersten Mal von Pseudo-Longinus systematisch behandelt, in der Schrift Über das Erhabene [peri hypsous] (40 n. C.). In der Neuzeit war es der englische Moralist Shaftesbury, der diese Kategorie in den Mittelpunkt des Interesses stellte. Edmund Burkes Ästhetik integriert sie ebenso. Auch die ästhetische Diskussion auf dem Kontinent greift sie seit Nicolas Boileau schwerpunktmäßig auf. Dieser hatte das Werk des Longinus über das Erhabene auf dem Kontinent 1674 in französischer Übersetzung zugänglich gemacht. Für Kant und Schiller gehört die Kategorie des Erhabenen bereits wieder zum etablierten Traditionsbestand der neuzeitlichen Ästhetik, wie es auch im antiken Hellenismus der Fall gewesen war. [Bild oben: Nicolas Boileau, 1636—1711, bedeutenster Theoretiker der Ästhetik in der französischen Klassik]
Es ist hier ideengeschichtlich im Auge zu behalten, dass eine Ästhetik, die von den Kategorien des Schönen und Erhabenen hergeleitet wird und diese in den Mittelpunkt stellt, letztlich hellenistisch und insbesondere stoisch ist. Die Stoa geht von der vorgegebenen Übereinstimmung von Vernunft und Wahrnehmung einerseits und vernünftiger, perfekter, schöner Weltordnung andererseits aus. Diese Ordnung und Schönheit können wir ästhetisch erfühlen. Mit der Anschauung der einzelnen sinnenhaften Dinge erfühlen wir zugleich deren Schönheit und Anmut sowie Liebreiz. Mit dem ästhetischen Geschmack als impliziter Vernunft oder intuitiver Vorstufe des reflektierten Denkens erfühlen wir hingegen zugleich die Erhabenheit und Würde sowie Ordnung, Größe des Kosmos. Siehe hierzu Kants Ästhetik in Folge und A. Schmitt: Aristoteles. Poetik, Berlin 2011, 69—71, der zeigt, dass Platon und v.a. Aristoteles einen hiervon sehr verschiedenen Ansatz der Poetik, Kunst und Ästhetik bieten. Nach der objektiven Seite sind sie zwar ebenso von der Vernunft und Schönheit der Weltordnung überzeugt, aber die hier relevante Weltordnung ist jene der ideellen Welt, nicht die der empirischen Welt wie in der Stoa. Die empirische Welt kann sich lediglich mehr oder minder der Vernunft und Schönheit der ideellen nähern: "Die euphorische Überbewertung der 'Wirklichkeit', als sei sie ganz und gar von Regel und Gesetz durchdrungen und daher — prinzipiell — ohne Rest mathematisch berechen- und rational erklärbar, könnte Platon [und servatis servandis Aristoteles] nicht teilen. Er denkt unter diesem Aspekt erheblich moderner.“ (A. Schmitt: Die Moderne und Platon, Stuttgart 2008, 237—240)
Und nach der subjektiven Seite ist für Aristoteles die poetische und überhaupt künstlerische Produktion und Rezeption zwar auch eine konkrete, gefühlsgebundene Erkenntnisweise, die zwischen abstraktem begrifflichem Denken und elementarer Anschauung und Wahrnehmung steht. Aber das "bietet noch keine Gewähr dafür, dass der Geschmack nicht schlecht, die Anschauung konfus, das Gefühl kitschig ist." (Schmitt: Aristoteles. Poetik a.a.O. 2011, 98). In der Erarbeitung rationaler Kriterien für guten Geschmack, präzise Anschauung und angemessenes Gefühl "liegt ohne Frage die eigentliche Bedeutung dieser Poetik" des Aristoteles (ebd.). Denn "Gefühle [Emotionen und Motivationen] ... sind konkrete, aus kognitiven, emotiven und voluntativen Akten gemischte psychische Akte, die sich unmittelbar auf Einzelnes, einzelne Personen, Situationen, Atmosphären u.ä. beziehen." (Schmitt: Die Moderne und Platon, Stuttgart 2008, 348) Und dieselben benötigen Erziehung und Bildung: "Die Rationalität eines Gefühls liegt nach Aristoteles ... in seiner Angemessenheit ... einem entsprechenden Gegenstand gegenüber, in der richtigen Weise, in der richtigen Situation, mit der richtigen Haltung usw." (ebd. 363) Hierbei ist auch "die Unterscheidung zwischen 'großen' Gefühlen und 'heftigen' Gefühlen" wichtig. Erstere kann "es nur bei wirklich [konkret und differenziert] bestimmten Gegenständen [geben] und vor allem gegenüber Menschen, die einen wirklich als eine erkennbare Einheit bestimmten Charakter haben." (363)
Für eine umfassende systematische Erörterung des ideengeschichtlichen Hintergrundes siehe das Papier Anmerkungen zu Schmitt: "Die Moderne und Platon".
Analytik des Schönen
Kant bestimmt vier Kriterien oder Momente des Schönen und des Urteilens über das Schöne (= Geschmacksurteil). Das 1. Moment des Geschmacksurteils betrifft dessen Qualität: Das Schöne ist als kontemplatives Wohlgefallen ohne Interesse zu bestimmen. Es bezieht sich auf die frei spielende Reflexion der Vorstellungskräfte Einbildungskraft und Verstand an gegebenen Vorstellungen. Die dabei zu Grunde liegende Einstellung ist Gunst.
Das Schöne ist nicht als das Angenehme zu bestimmen. Denn dieses bezieht sich auf Genuss, Glück und Vergnügen und die zu Grunde liegende Einstellung ist Neigung.
Das Schöne ist auch nicht als das Gute zu bestimmen. Denn dieses bezieht sich auf die Praxis, die Schätzung und Billigung und die zu Grunde liegende Einstellung ist Achtung.
Das 2. Moment des Geschmacksurteils betrifft dessen Quantität: Es ist ein allgemeines Wohlgefallen ohne Begriffe. Es ist einerseits zwar eine im Subjekt und seinen Beurteilungsmaßstäben gründende (subjektive) Allgemeinheit, andererseits eine wirkliche universale, nicht nur generelle (komparative) Allgemeinheit und Gültigkeit für jedermann.
Das 3. Moment des Geschmacksurteils betrifft dessen Relation. Das Geschmacksurteil bezieht sich auf die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes ohne Vorstellung eines Zweckes. Es bezieht sich m.a.W. auf die Kausalität nach Zwecken (causa finalis) der Form nach, welche für uns nur durch einen freien Willen erklärbar ist. Das Geschmacksurteil folgt dieser freien Schönheit aus Gründen a priori, die in der Form der Gegenstände liegen. In der Kunst sind dies Gestalten im Raum. In der Musik sind dies Kompositionen in der Zeit.
Das Geschmacksurteil folgt nicht wesentlich dem Reiz und der Rührung auf der Ebene der Empfindungen; auch nicht der äußeren objektiven Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit entsprechend einem Zweckbegriff oder einer Idee; auch nicht einer inneren objektiven Zweckmäßigkeit oder Vollkommenheit entsprechend einem Zweckbegriff oder einer Idee.
NB: Die Schönheit eines Menschen, eines Mannes, einer Frau, eines Kindes, eines Pferdes, eines Gebäudes folgt immer auch einer objektiven Zweckmäßigkeit oder Vollkommenheit entsprechend einem Zweckbegriff und ist nicht nur, aber auch reine Schönheit.
Dabei gilt einerseits: „Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben.“ (Kritik der Urteilskraft [KU], 2. Auflage [B], 53) Andererseits gilt: Die empirische, interkulturelle und zeitenübergreifende Einhelligkeit der Geschmacksregel ist ein „Kriterium der Abstammung eines so durch Beispiele bewährten Geschmacks von dem tiefverborgenen allen Menschen gemeinsamen Grunde der Einhelligkeit in Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden.“ (KU B 53)
Schließlich und drittens gilt: Es gibt exemplarische Produkte des Geschmacks, welche ein Ideal der Schönheit darstellen: „Das höchste Muster, das Urbild des Geschmacks“ muss „eine bloße Idee“ sein, „die jeder in sich selbst hervorbringen muß, und wonach er alles, was Objekt des Geschmacks ... sei, beurteilen muß“ (ebd. 54).
Diese Idee als Vernunftbegriff muss im Bereich der durch Sinne und Einbildungskraft, nicht durch die reine Vernunft erfahrenen Kunstschönheit in ein Ideal als der „Vorstellung eines einzelnen ... einer Idee adäquaten Wesens“ (ebd.) umgegossen oder konkretisiert werden. Wegen der dabei im Hintergrund stehenden Vernunftidee muss es sich bei diesem Ideal um eine „durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit [= eine Idee der Vernunft] fixierte Schönheit“ handeln (55). Und das Ideal oder das maximale exemplarische Vorbild kann schließlich nur in dem Objekt liegen, das eine maximale Zweckmäßigkeit oder Zweckbestimmtheit hat, das darüber hinaus sogar Selbstweck ist, und das ist der Mensch. Das individuelle Ideal der Schönheit ist der Mensch. [Bild rechts: Das als "zeitlos ... 'europäisch'" geltende und wie kein zweites "die Kunst der Moderne und der Gegenwart inspirierende" (Staatliche Museen zu Berlin) Werk des Renaissancemalers und Humanisten Sandro Botticelli versteht sich ausdrücklich und reflektiert als Thematisierung dieses Ideals, hier die Geburt der Venus, ca. 1485, Ausschnitt] Es liegt an sich auf den Ebenen der Einbildungskraft und der überempirischen Vernunftidee, nicht des empirischen Verstandesbegriffs. Auf der Ebene der Einbildungskraft ist es die ästhetische Normalidee der empirischen biologischen Gestalt. Sie ist ein apriorisches sinnliches Richtmaß, eine Regel und ein Bild der Gattung über den Individuen und ein Urbild der Form der Schönheit. Auf der Ebene der Vernunftidee ist es die menschliche Gestalt als körperlicher Ausdruck des Sittlichen (Seelengüte, Reinheit, Stärke, Ruhe).
Das 4. Moment des Geschmacksurteils betrifft dessen Modalität: Es handelt sich um notwendiges Wohlgefallen ohne Begriff. Es ist eine subjektive Notwendigkeit des objektiven Gemeinsinns (sensus communis) auf dem freien Spiel der Erkenntniskräfte beruhend. Unmittelbar ist dies ein gemeinschaftliches objektives Gefühl der Normativität und des Gesolltseins; mittelbar sind dabei auch Begriffe als dunkel vorgestellte Prinzipien mitbeteiligt.
Analytik des Erhabenen
Das Schöne hat zum Gegenstand Form und Begrenzung und ist Darstellung eines unbestimmten Vernunftbegriffs, wobei die Kategorie der Qualität vorherrscht und die Wirkungen v.a. Anregung, Spiel und Lust in ruhiger Kontemplation sind. Die Einbildungskraft harmoniert dabei mit dem Verstand. Das Erhabene hat zum Gegenstand Unbegrenztheit und Totalität und ist ebenfalls Darstellung eines unbestimmten Vernunftbegriffs, wobei die Kategorie der Quantität vorherrscht und die Wirkungen v.a. Hemmung, Ernst, Achtung und Bewunderung in Kontemplation des teleologischen Systems der Natur sind. Vgl. KU B 84: "Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist." Die sinnliche Einbildungskraft ist dabei mit dem Verstand in Widerspruch (KU B 99): "Erhaben ist das, was auch nur zu denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft" (KU B 85). Die Merkmale sind ansonsten wie beim Schönen: Allgemeingültigkeit — Interesselosigkeit — subjektive Zweckmäßigkeit — subjektive Notwendigkeit.
Kant unterscheidet zwei Arten des Erhabenen: das mathematisch Erhabene und das dynamisch Erhabene. Mathematisch Erhabenes ist zunächst das schlechthin Große, nicht nur das relativ Große wie der Makrokosmos (Pyramiden, Gebirge, Wüsten, Sternenhimmel, Galaxien) gegen den Mikrokosmos (vertraute Lebenswelt) in der Sinnenwelt. Aber die relative sinnliche Erhabenheit ist dennoch Anstoß für die übersinnliche schlechthinnige Erhabenheit, weil sie die reflektierende Urteilskraft in eine entsprechende Stimmung versetzt (im Beispiel Kants: die Peterskirche als Medium des Gefühls des Unendlichen). Gegenstand des Erhabenen ist nicht die Zweckmäßigkeit der Form nach, sondern die ins Unendliche als Ganzes erweiterte logische und metrische Größenschätzung von Einbildungskraft und Verstand. [Bild oben: 'Das Eismeer' (1823/24) v. Caspar D. Friedrich, dem klassischen Maler des Erhabenen: "Bildbau und Farbigkeit drücken Feierlichkeit und Erhabenheit aus" (H. Börsch-Supan)]
Es ist einerseits eine reine intellektuelle Größenschätzung, welche die Idee eines Noumenons [= ultimative geistige Realität] als Substrat der Weltanschauung qua Erscheinung meint. Es ist andererseits eine ästhetische Größenschätzung des absoluten Ganzen der Natur und ihres übersinnlichen Substrates entsprechend den Vernunftideen: "Denn das werden wir bald inne, daß der Natur im Raume und der Zeit das Unbedingte, mithin auch die absolute Größe, ganz abgehe [...] Eben dadurch werden wir auch daran erinnert, daß wir es nur mit einer Natur als Erscheinung zu tun haben, und diese selbst noch als bloße Darstellung einer Natur an sich (welche die Vernunft in der Idee hat) müsse angesehen werden. Diese Idee des Übersinnlichen aber [...] wird in uns durch einen Gegenstand erweckt, dessen ästhetische Beurteilung die Einbildungskraft bis zu ihrer Grenze, es sei der Erweiterung (mathematisch), oder ihrer Macht über das Gemüt (dynamisch), anspannt" (KU B 116).
Das Gefühl des Erhabenen in der Natur hängt mit der Achtung für unsere eigene Bestimmung zusammen, welche ebenfalls auf ein Absolut-Ganzes geht, was mit Unlust betreffs der Einbildungskraft verbunden ist, aber mit Lust betreffs der Vernunft „jeden Maßstab der Sinnlichkeit den Ideen der Vernunft unangemessen zu finden“ (ebd. 98). Dieses Gefühl ist ein Beweis der Existenz einer reinen selbstständigen Vernunft über der Sinnlichkeit (ebd. 99).
Das dynamisch Erhabene ist die Natur als Macht ohne Gewalt über uns. Macht ist die Kraft zur Überwindung großer Hindernisse. Gewalt ist die Kraft zur Überwindung großer Widerstände oder Mächte (KU B 102). Beispiele für dynamisch Erhabenes sind Gewitter, Vulkane, Orkane, stürmische Ozeane, Wasserfälle, Erdbeben. Das dynamisch Erhabene erzeugt bei Abergläubischen Unlust wegen der physischen Ohnmacht hinsichtlich natürlicher Güter. Es erzeugt bei spirituellen Menschen Lust wegen der moralischen Übermacht hinsichtlich natürlicher Güter durch Mut, Selbstbeherrschung, Vernunft, Gerechtigkeit, Liebe. So ist der gerechte Krieg etwas Erhabenes (ebd. 107). Das dynamisch Erhabene hängt mit dem moralischen Gefühl zusammen, wegen der subjektiven Notwendigkeit des ästhetischen Urteils der Achtung. [Bild links: Friedrich v. Schiller, der klassische Dichter des Erhabenen, inspiriert durch ein fünfjähriges Studium der kantischen Philosophie. Gemälde v. G. v. Kügelgen 1808/09]
Das Gefühl der Lust kann sich auf Angenehmes (iucundum), Schönes (pulchrum), Erhabenes (sublime), Gutes (honestum) beziehen. Das moralische Gefühl (für das Gute) als reines unbedingtes intellektuelles Wohlgefallen hängt jedoch mit dem Erhabenen und Schönen zusammen. Mit Ersterem wegen der Hochschätzung wider das sinnliche Interesse; mit dem Letzteren wegen der interesselosen Liebe.
Enthusiasmus ist die Idee des Guten in Verbindung mit Affekt (ebd. 121). Der Affekt kann sich auf das Erhabene beziehen und ist Edelmut und führt zur Einfalt. Oder er bezieht sich auf das schmelzende Schöne und ist Zärtlichkeit, was leicht zu Schwärmerei führen kann und durch Askese und negative Theologie kontrolliert werden muss (ebd. 124—126). Die Selbstgenügsamkeit ohne Menschenhass ist erhaben in Verbindung mit der seliggepriesenen Trauer der Bergpredigt über falsche Grundsätze in der Menschenwelt (ebd. 127—128).
Transzendentale Deduktion der reinen ästhetischen Urteile
Das bisher Gesagte ist eine transzendentale (anschauungs- und begriffsanalytische) Exposition (Erörterung und Definition) der ästhetischen Urteile. Stoff und Basis hierfür ist die physiologische, empirische Exposition des neuzeitlichen Klassikers der Ästhetik Edmund Burke [Bild rechts: Burke 1771] (ebd. 130). Burkes Grundbuch der Ästhetik lag Kant in der deutschen Übersetzung von 1773 vor: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Begriffe vom Schönen und Erhabenen, Riga: Verlag Hartknoch. Über beides hinaus ist es Kants Überzeugung: Erst eine transzendentale Deduktion (Rechtfertigung) der ästhetischen Urteile (ebd. 131) ist die Garantie ihrer objektiven Realität. Denn wir haben es hier nicht nur mit unproblematischen empirischen Begriffen und Urteilen zu tun, die wir durch Erfahrung und Reflexion über sie gewinnen, und die daher von A bis Z in der Realität geerdet sind. Sondern bei ästhetischen Begriffen und Urteilen sind apriorische, vor und über aller Erfahrung stehende Einsichten und Urteilsmaßstäbe mit im Spiel. Für diese prima facie nicht als objektiv real legitimierten Elemente muss daher ihre objektive Realität erst gezeigt werden; und zwar überdies als einer überempirischen, notwendigen und allgemeingültigen Realität. Sie geschieht hier durch Aufweis (a) der individuellen Allgemeingültigkeit mittels Beispielen und mittels existenziellem Erleben im persönlichen Nachvollzug (ebd. 139) und (b) der subjektiven Notwendigkeit a priori (als Schematismus der Einbildungskraft ohne Begriffe, aber in Harmonie mit dem Verstand (146). Denn „das Geschmacksurteil [...] behauptet ... dass wir berechtigt sind, dieselben subjektiven Bedingungen der Urteilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen“ (151).
Eine tranzendentale Exposition und Deduktion antwortet mithin auf die Frage: Wie ist etwas aufgestellt bzw. wie funktioniert etwas, wenn es notwendig und universell (bzw. mindestens faktisch generell) in der physischen und psychischen Realität gelten soll? Dies ganz gleich ob es nun logische, ethische oder ästhetische Expositionen und Deduktionen betrifft (150). Der terminus technicus 'transzendentale Exposition' ist dabei die kantische Bezeichnung für die platonisch-aristotelische Dihairesismethode oder Noesis, insofern sie nicht begriffsanalytische Induktion von Definitionen ist, sondern phänomenanalytische Induktion notwendiger synthetisch-apriorischer Strukturen und Verhältnisse der Erfahrungsobjekte. Der terminus technicus 'transzendentale Deduktion' ist hingegen in etwa die kantische Bezeichnung für die platonisch-aristotelische Ableitung von notwendigen begrifflichen Merkmalen oder auch von generalisierten synthetisch-empirischen Bestimmungen der durch die Definitionen identifizierten Objekte. Diese begrifflich oder auch empirisch notwendigen Prädikate und Folgen der Definitionen und Ursachenbegriffe sind die Proprietäten (Propria) der Tradition. Im Aufweis, dass diese Propria notwendige Eigenschaften und Folgen der begrifflichen Essenzen der Dinge oder deren phänomenalen raumzeitlichen Erfahrungszusammenhanges sind, ohne andererseits definitorische Wesensbestandteile zu sein, besteht genau der deduktive wissenschaftliche Beweis.
Kantforschern mit einer ausgebreiteten Kenntnis des kantischen Gesamtwerkes einschließlich der Vorlesungmitschriften wird dies unmittelbar vor Augen treten, wenn sie das einschlägige Referenzwerk von Christian Pietsch zur Hand nehmen: Prinzipienfindung bei Aristoteles. Methoden und erkenntnistheoretische Grundlagen, Stuttgart 1992 [22012]. Die Verortung der Begriffe metaphysische (= begriffsanalytische) und transzendentale (= realanalytische) Exposition (= angemessene, hinreichende Definition) und Deduktion (= Demonstration von Propria) in der Definitionstheorie und Wissenschaftstheorie der aristotelischen Tradition (und auch in der Methodenlehre der rechtswissenschaftlichen Tradition) ist heute Allgemeingut der Kantforschung. Maßgebliche Untersuchungen zu dieser Frage stammen von Dieter Henrich, Thomas M. Seebohm, Manfred Baum, Willem de Jong, Mario Caimi, Béatrice Longuenesse u.a. Einen umfassenden Literaturbericht hierzu finden Interssierte bei Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin / New York 2003, 296—310. Eine knappe Synopsis der aristotelischen und kantischen Theorie bietet das Skript Inhalt und Argumentation der Aristotelischen Wissenschaftstheorie in den Zweiten Analytiken.
Diese transzendentale Exposition und Deduktion gilt freilich zunächst nur für das Prinzip und die Theorie, nicht für die korrekte Anwendung oder Subsumption unter des Prinzip. Ästhetischer Geschmack z.B. hängt entscheidend von gesundem Menschenverstand und Gemeinsinn (sensus communis) ab (152). Letzterer ist auf der logischen Ebene der gesunde Menschenverstand; auf der ästhetischen Ebene ist er der gute Geschmack (Einbildungs- und Urteilskraft ohne Begriffe, aber in Harmonie mit dem Verstand).
Das Geschmacksurteil ist von mittelbarem empirischem Interesse wegen der dadurch vermittelten Kultivierung und Kulturschönheit. Es ist auch von mittelbarem intellektuellem Interesse wegen der dadurch vermittelten Moralisierung durch Empfänglichkeit für Naturschönheit und -teleologie (171). Schöne Natur inspiriert die Kunst und schöne Kunst ist Nachahmung (nicht Nachmachung) der Natur als des exemplarischen Originals (179). Sie hängen zusammen.
Genie und Geist (ingenium) ist das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen (192). Diese sind schöpferische überbegriffliche Metavorstellungen der Einbildungskraft. Sie sind die Entsprechung zu überempirischen Vernunftideen. Die systematisch wichtigste Passage bietet KU B 192—193:
„Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. [...] Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.“
Beurteilung schöner Gegenstände ist Sache des Geschmacks; deren Hervorbringung ist Sache des Genies (188). Naturschönheit ist das schöne Ding. Kunstschönheit ist die schöne Vorstellung von einem Ding oder die Form der Darstellung eines Begriffs in Sprache, Malerei und Plastik entsprechend den Transzendentalien der Tradition (Einheit, Wahrheit bzw. Vielheit wahrer Folgen aus der Einheit, Gutheit bzw. Vollkommenheit) (188). Schönheit der Natur durch begriffslose Reflexion über Objektanschauung und Schönheit der Kunst durch Darstellung der Form des Objektbegriffs ist Ausdruck ästhetischer Ideen.
Die Einteilung der schönen Künste nach Kant ist diese: (i) Redekünste der Worte und Gedanken: Beredsamkeit und Dichtkunst. (ii) Bildende Künste der Formen der Anschauung oder Gebärdung: Plastik (Bildhauerkunst und Baukunst) und Malerei (Malkunst und Gartenbau). (iii) Tonkünste der Materie der Anschauung oder der Empfindungen und des Spiels: Musik und Tanz. (iv) Rede- und bildende Künste in Verbindung: Schauspiel. (v) Rede- und Tonkünste in Verbindung: Gesang. (vi) Rede-, Bildende und Tonkünste in Verbindung: Oper.
Form und Geist ist in den schönen Künsten wichtiger als Materie und Reiz, sonst ist das Ergebnis Zerstreuung und Abstumpfung, Ekel und Laune: „In aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form ... wo die Lust gleich Kultur ist und der Geist zu Ideen stimmt“ (214). Kants Rangordnung ist: 1. Dichtkunst, 2. Tonkunst, 3. Malerei.
Exkurs zur Begriffsgeschichte des Terms sensus communis
Zwei Bedeutungen von Gemeinsinn (sensus communis)
"In Kants Begründung einer philosophischen Ästhetik ist das Konzept des sensus communis das zentrale Element." So die zutreffende These von Gundula Felten: Die Funktion des Sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils, Paderborn 2004 (abstract). Dabei ist freilich zu beachten, dass in der Kritik der Urteilskraft und auch ansonsten bei neuzeitlichen Humanisten, Ästhetikern und Moralisten andere Begriffsbedeutungen mit dem Term sensus communis verbunden werden als in der aristotelischen und scholastischen Wahrnehmungs- und Kognitionstheorie. Die neuzeitliche Verwendung des Begriffs identifiziert denselben mit dem allgemeinen oder gesunden Menschenverstand und den gemeinsamen ästhetischen und moralischen Intuitionen der Menschheit (bon sens, common sense). Sie knüpft nicht an die philosophische resp. psychologische Begriffsbedeutung und damit an Aristoteles an, sondern an die humanistische Begriffsbedeutung bei den römischen Klassikern, wie sie in der Stoa und der römischen Rhetorik, v.a. von Cicero und Quintilian, entwickelt wurde. Einen umfassenden Eindruck davon, was hier zur Debatte steht, gewinnt man bei der Lektüre der drei wirkmächtigsten (erhaltenen) Werke Ciceros zu Theorie und Praxis der Rhetorik (De oratore), zur Ethik (De officiis) und zur philosophischen Theologie (De natura deorum).
Diese stoisch-römische Begriffsbedeutung wurde in der Renaissance und im Barock unter dem Dach der Rhetorik zu neuer Blüte geführt — als Inbegriff höherer Bildung, philosophischer Orientierung und sowohl wissenschaftlicher wie praktischer, politischer Befähigung. Referenzautor Nr. 1 der weltberühmten und meistverbreiteten Studienordnung der Gesellschaft Jesu war Cicero. Die bis heute maßgebliche erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlegung des Sensus communis in diesem Sinn ist Giambattista Vicos (1668—1744) Scienza nuova. Der Leitbegriff des humanistischen Sensus communis entfaltete auch im Protestantismus und Deismus eine starke Präsenz, namentlich durch Anthony Ashley-Coopers (1671—1713) Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times.
Nach dem Traditionsbruch um 1800 hat in der Moderne Hans-Georg Gadamer dieses Bildungsprogramm neu erschlossen und international zur allgemeinen Geltung gebracht — insbesondere mit dem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960 [61990]. Wie Vico „beruft sich“ Gadamer „auf den sensus communis, den gemeinschaftlichen Sinn, und auf das humanistische Ideal der eloquentia, Momente, die schon in dem antiken Begriff des Weisen gelegen waren. Das >Gut-Reden< (eu legein) ist von jeher … keineswegs nur ein rhetorisches Ideal. Es meint auch das Sagen des Richtigen, das heißt des Wahren […] Es ist … ein ethisches Motiv darin wirksam, das in die römisch-stoische Lehre vom Sensus communis eingeht […] Für Vico … ist der Sensus communis der Sinn für das Rechte und das gemeine Wohl, der in allen Menschen lebt, ja mehr noch ein Sinn, der durch die Gemeinsamkeit des Lebens erworben, durch seine Ordnungen und Zwecke bestimmt wird […] Es hat etwas sofort Einleuchtendes, die philologisch-historischen Studien und die Arbeitsweise der Geisteswissenschaften auf diesen Begriff des Sensus Communis zu gründen.“ (a.a.O. 25—28)
Allerdings sehen wir bei Kant einen (von dem Mathematiker und Erkenntnistheoretiker J. N. Tetens und dem Metaphysiker und Ästhetiker A. G. Baumgarten angeregten) impliziten Versuch, beiden Bedeutungen und Wirkungsgeschichten gerecht zu werden, so dass man sich auch die aristotelische Tradition vergegenwärtigen sollte. So auch das Urteil Gadamers (a.a.O. 1990, 36—37), der dasselbe Bestreben übrigens auch in der schottischen Common-sense-Philosophie bei Thomas Reid sieht (1990, 30—31). Denn Kant will den Term sensus communis ebensosehr der ästhetischen Urteilskraft bzw. dem Geschmack als einem gemeinschaftlichen Sinn zuordnen wie dem Gemeinsinn im Sinne der allgemeinen Menschenvernunft. Er schlägt deswegen einmal vor, "den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den gemeinen Menschenverstand durch sensus communis logicus zu bezeichnen" (KU § 40).
Dennoch kritisiert Gadamer Kant heftig dafür, den Gemeinsinn tendenziell von der Bildung und Kultivierung der allgemeinen Menschenvernunft entkoppelt zu haben, welche die Erkenntnisquelle der lebensweltlichen Orientierung und die Methode der Geisteswissenschaften sei (Wahrheit und Methode a.a.O. 1990, 24—35). Dies wiege doppelt schwer, als Kant die Sphäre der Sinneswahrnehmung und Ästhetik zudem noch subjektiviert, also ihrer ontologischen Relevanz beraubt habe (ebd. 36—70). Beide Behauptungen bzw. Kritikpunkte werden in der Kantforschung freilich kontrovers diskutiert. Zu Ersterem vgl. die Gegenkritiken von R. A. Makreel: Imagination and Interpretation in Kant. The Hermeneutical Import of the Critique of Judgment, Chikago / London 1990, und H. Leitner: Systematische Topik. Methode und Argumentation in Kants kritischer Philosophie, Würzburg 1998. Zu Letzterem ist zu vergleichen B. Dörflinger: Die Realität des Schönen in Kants Theorie reiner ästhetischer Urteilskraft. Zur Gegenstandsbedeutung subjektiver und formaler Ästhetik, Bonn 1988, sowie H. Nerheim: Zur kritischen Funktion ästhetischer Rationalität in Kants Kritik der Urteilskraft, [dt.] Frankfurt/M. / Berlin 2001. Beide Kritikpunkte behandelt gründlich B. Grünewald: Der Erfahrungsbegriff der dialektischen Hermeneutik H.-G- Gadamers und die Möglichkeit der Geisteswissenschaften: In: Logos 1 (1994), 152—183.
Gemeinsame Wurzel resp. Schnittmenge beider Bedeutungen
Wenn man so will, ist Kants Ansatz grosso modo gerade ein partieller Rückgriff auf die aristotelische Verwendung des Terms in der Wahrnehmungstheorie. Allerdings mit zwei leichten Verschiebungen: Wenn Kant den sensus communis aestheticus oder das Geschmacksempfinden definiert als Einbildungs- und Urteilskraft ohne Begriffe, aber in Harmonie mit dem Verstand, dann schließt das zwar auch die Leistung des aristotelischen Gemeinsinnes ein, aber noch mehr die höherstufigen kognitiven Leistungen der Einbildungskraft (imaginatio) und des konkreten intuitiven Verstandes (vis aestimativa cogitativa alias ratio particularis). Dazu mehr in Folge. Die zweite Verschiebung bezieht sich darauf, dass Kant dabei zwar auch den ästhetischen qua wahrnehmungstheoretischen Gesichtspunkt.im Auge hat, aber darüber hinaus auch den ästhetischen qua kunsttheoretischen Gesichtspunkt. Freilich gehört beides untrennbar zusammen, wie Platon und Gadamer überzeugend gezeigt haben: Das Schöne ist Quintessenz, Norm und Medium der Wahrnehmung und Kognition des Seins (siehe oben zu Platons Ästhetik und in Folge das Kapitel 'Überzeitliche Geltung der Klassiker'). Auch Kants parallele und koordinierte Behandlung der ästhetischen und der theoretischen reflektierenden Urteilskraft in KU zeigt diese Verschränkung. Ausführlich dazu D. Dumouchel: Kant et la Genèse de la Subjectivité Esthétique, Paris 1999, M. C. Fistioc: The Beautiful Shape of the Good. Platonic and Pythagorean Themes in Kant's Critique of the Power of Judgment, New York / London 2002, und P. M. Matthews: The Significance of Beauty. Kant on Feeling and the System of the Mind, Cambridge, Mass. 2007.
Da andererseits aber auch die rhetorisch-humanistische Begriffsbestimmung des sensus communis die kognitiven Ebenen der Einbildungskraft (imaginatio) und des konkreten intuitiven Verstandes (ratio particularis) mit umfasst, ergibt sich ein Doppeltes. Einmal erlaubt es zu sehen, wo die gemeinsame Wurzel des verschiedenen Begriffsverständnisses ist. Und zum anderen muss man sagen, dass Kants Kritik der Urteilskraft neuerdings — und sicherlich ohne bewusste Kenntnis der begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge — genau diese gemeinsame Wurzel in den Blick bekommt und stark macht.
Universell-abstrakte und partikulär-konkrete Vernunft
Man kann noch weiter gehen und sagen, dass Kant nicht nur diese gemeinsame Wurzel identifiziert, sondern dass seine beide Begriffsbedeutungen integrierende Theorie des sensus communis genuin aristotelisch ist. Somit wäre auch die zweite spätere Begriffsbedeutung bei Cicero und den Humanisten bei Aristoteles mindestens angelegt. Denn Aristoteles bestimmt als das — sowohl der Wahrnehmungssynthesis wie den Synthesen des diskursiven Denkens vorausliegende — Letztgegebene den Inhalt des intuitiven Verstandes (im weiten Sinn). Dieser Inhalt ist doppelt. Es ist einmal in der Dimension der begrifflichen Kognition der Intellekt bzw. intuitive Verstand (im engen Sinn). Das ist die Erfassung der transzendentalen, kategorialen und empirischen Allgemeinbegriffe (noesis), auf welche wir in Folge noch einmal ausführlicher zurück kommmen. Und zum anderen gibt es ein Letztgegebenes in der Dimension der empirischen Erfahrung, nämlich die Kognition der individuellen Substanzen und Prozesse in und durch die Sinnesdaten: „Der intuitive Verstand ist auf das Letztgegebene in beiden Richtungen bezogen. Denn die obersten Begrifflichkeiten sowohl wie die letzten Einzelgegebenheiten — beide sind Gegenstand des intuitiven Verstandes und nicht des schlußfolgernden [= diskursiven] Denkens: der intuitive Verstand im Rahmen des wissenschaftlichen Beweisverfahrens erfaßt die unveränderlichen und obersten ‘Grenzmarken’, während der intuitive Verstand im Gebiete [der Wahrnehmung und] des Handelns sich entfaltend, das letztlich Einzelgegebene, Veränderliche ... erfaßt. [...] Man muß also eine Wahrnehmung des Einzelgegebenen haben und diese ‘Wahrnehmung’ ist intuitiver Verstand.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch VI, Kapitel 12. Übersetzung v. F. Dirlmeier, Stuttgart 1990) Siehe dazu das Skript Aristoteles: Eckdaten zur Kognitionstheorie.
Systemstellen der empirisch eingebetteten Vernunft
Die Systemstellen in der aristotelischen Theorie, wo dieser intuitive Verstand (besser: Vernunft) in der Dimension des individuellen, empirischen Gegebenen zum Einsatz kommt, sind (i) die sogenannte akzidentelle Wahrnehmung, welche — auch — die spontane assoziative Verknüpfung einer Wahrnehmung mit ihrer begrifflichen Deutung ist (Aristoteles' Beispiel: "Dieses Weiße ist der Sohn des Diares"). Ferner (ii) die sog. intellektive Phantasie (phantasía logistiké), welche ein vorbewusstes begriffsgesteuertes Urteil auf der Ebene der Vorstellung ist. Es ist Kants Geschmacksurteil "als Schematismus der Einbildungskraft ohne Begriffe, aber in Harmonie mit dem Verstand" (s.o.) Ebenfalls zu den inneren Sinnen zählt (iii) das in der aristotelischen Tradition seit Avicenna und Thomas von Aquin ins Relief gehobene Schätzungsvermögen (scholastisch: vis aestimativa), das beim Menschen nicht nur instinktgeleitet, sondern auch kognitiv sein kann (vis aestimativa cogitativa): Es heißt dann empirischer oder partikulärer Verstand (ratio particularis). Dieser identifiziert konkrete, individuelle Sachverhalte unter allgemeinen, begrifflichen Aspekten und ist damit für die o.g. akzidentelle Wahrnehmung verantwortlich: "Vis sensitiva in suo supremo participat aliquid de vi intellectiva in homine, in quo sensus intellectui coniungitur." / "Die Sinneswahrnehmung hat auf ihrer höchsten Stufe Anteil an der Verstandeskraft im Menschen, in dem die Sensorik mit dem Intellekt verbunden ist." (Aquinas: Comm.in De anima Aristotelis II, 13)
Bei Aristoteles selbst ordnet man diese vis cogitativa am besten der kognitiven Leistung des lebensweltlichen Meinens und Urteilens (doxa) zu. Diese ist ein wahrnehmungs- und vorstellungsfundiertes theoretisches Urteil der auf Veränderliches bezogenen Vernunft als (i) theoretische Annahme (hypólepsis, suppositio) bzw. epistemische Meinung oder Glaube (pístis, opinio) oder (ii) praktisches imperativisches Vernunfturteil der sittlichen Klugheit (phrónēsis, prudentia). Die dóxa referiert auf die konkrete Totalität von wissenschaftlich bescheibbarer Allgemeinstruktur plus individuellen Umständen (kairoí) Vgl. Nikomachische Ethik VI, 5 (1140 b 27–28): „Denn der Gegenstand des Meinens (dóxa) sowohl wie der sittlichen Einsicht (phrónēsis) ist das, was Veränderung zuläßt.“ Die perfektionierte Urteilsfähigkeit in der Dimension der dóxa nennt Aristoteles Verständigkeit (gnōmē) (vgl. NE, VI, 11). Siehe dazu P. Aubenque: La Prudence chez Aristote, Paris 1963 [42004, dt.: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007], 53—63, sowie in Folge. Gadamer betont in dieser Perspektive, dass sowohl das sittliche Urteilsvermögen (phronesis, prudentia) als auch die lebensweltlich-politisch-soziale Urteilsfähigkeit (doxa, ratio particularis, reflektierend-theoretische Urteilskraft) nicht nur bei Kant, sondern auch in der Tradition seit Aristoteles eine gemeinsame Struktur aufweisen — als „Anwendung von etwas Allgemeinem auf eine konkrete und besondere Situation“ (Wahrheit und Methode (Tübingen, 6. Aufl. 1990, 317 und überhaupt 317—346). Wir haben hier also eine mindestens formale Überlappung oder Konvergenz ästhetischen, sittlichen und kulturellen oder sozialen Erkennens, das auch typisch für das rhetorisch-humanistische und neuzeitliche Verständnis des Gemeinsinns ist.
Schließlich und endlich ist die Systemstelle par excellence für den Einsatz der Vernunft im Feld des empirischen Individuellen natürlich (iv) die Reflexion auf die begriffliche Allgemeinstruktur bzw. den Artbegriff in den Organismen oder Substanzen (átomon eídos, species impressa) und dessen Abstraktion durch den aktiven Intellekt (nous poietikós, intellectus agens). Wir haben also bei Aristoteles ein voll entwickeltes Bewusstsein für die ungeheure Bedeutung der begriffsgesteuerten Informationsverarbeitung (top-down-processing) — auf allen Stufen der menschlichen Kognition. Das kommt überein mit dem gegenwärtigen Befund der Kognitionswissenschaft, dass dieselbe die gegenläufige datengesteuerte Informationsverarbeitung (bottom-up-processing) weitaus dominiert: Bereits vor Erreichen des Sehzentrums des Kortex ist 80 % der visuellen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung vorbewusst konzeptgesteuert.
Das sind gute Gründe dafür, dass dieser in Wahrnehmung und Kognition operirende intuitive Verstand große Teile dessen thematisiert, was Cicero und die Humanisten unter dem Gemeinsinn als intuitivem und empirisch eingebetteten gesunden Menschenverstand verstehen. Wir wollen uns dies noch etwas genauer ansehen.
Wahrnehmungspsychologischer Gemeinsinn bei Aristoteles
Der Gemeinsinn wurde als wissenschaftlicher Term von Aristoteles eingeführt und Koinē aísthesis (Gemeinsame Wahrnehmung) genannt. Die aristotelische Scholastik übersetzte mit sensus communis. Der sensus communis oder Gemeinsinn in dieser ursprünglichen Bedeutung ist (1) die intermodale Merkmalsintegration und (ii) die Merkmalskartierung in topographischen Repräsentationen. Diese Leistungen implizieren als weitere Funktionen des Gemeinsinnes (iii) die reflexive Wahrnehmung der Wahrnehmungsakte und (iv) die Unterscheidung der Sinnesobjekte. In der aktuellen Kognitionswissenschaft entspricht dem sensus communis in dieser Bedeutung das visuo-spatiale Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis, dessen Funktion die polymodale Merkmalsintegration (Bindung) zu Merkmalskonfigurationen und -sequenzen in einer topographischen Projektion (sinnliches Schema) ist. In der kantischen Kognitionstheorie entspricht dieser aristotelisch-scholastischen Bedeutung des Gemeinsinns die durch die transzendentale Synthesis der produktiven Einbildungskraft verwirklichte Formale Anschauung, die durch die Synthesis der Apprehension verwirklichte Form- oder Gestaltwahrnehmung der punktuellen Erscheinungen als sensorischen Merkmalskomplexen sowie deren durch die empirische Synthesis der produktiven Einbildungskraft verwirklichte assoziative Verknüpfung zu einer Anschauung oder Bild eines Objektes. Das Bewusstsein dieser Wahrnehmungsprodukte wird von Kant Empirische Apperzeption genannt. Siehe Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin / New York 2003, Kap. 8 — Kap. 12, 147—184.
Humanistische Bedeutung von Gemeinsinn bei Cicero
Umgekehrt entspricht dem — Cicero folgenden — neuzeitlichen sensus communis von Vico, Shaftesbury, Paine, Beatty, Reid, Tetens und Schiller in der aristotelisch-scholastischen Kognitionstheorie ein differenzierter Komplex unterschiedlicher Erkenntnisfunktionen und praktischer Einstellungen. Im Einzelnen sind dies die imaginatio (Vorstellungskraft, imagery) und die vis aestimativa (sinnliches Schätzungsvermögen), die sowohl naturhaft: naturalis sein kann (= Instinkte) als auch kognitiv: vis aestimativa cogitativa oder ratio particularis (konkreter Verstand). Aber auch die intellektive Erkenntnis (noesis, intellectus) insbesondere soweit sie die intuitiven Erkenntnisaxiome und die spontane Begriffsbildung durch den aktiven Verstand (intellectus agens) betrifft. Ein weiteres Element ist das praktische, sittliche Erkennen, also die praktische Vernunft oder der intellectus practicus bei Aristoteles und Aquinas, welche durch die sog. dianoetischen Tugenden geübt und perfektioniert wird: moralische Prinzipienintuition oder Weisheit (sapientia), moralische Wissenschaft (scientia practica) und moralisches Urteilsvermögen (Klugheit, prudentia). Das ist ein Schwerpunkt der Shaftesbury'schen Behandlung des Begriffes common sense. Über die Struktur der moralischen Welt (sittliche Prinzipien, Gewissen, moralisches Gefühl) tritt schließlich bei Shaftesbury und anderen — als fünftes und letztes Element des neuzeitlichen Begriffsgehaltes — hinzu die philosophische Theologie und die religiöse Erfahrung.
Vorstellungskraft
Die erstgenannte Funktion der imaginatio (Vorstellungskraft, imagery) ist die imaginale Speicherung der im Gemeinsinn synthetisierten Wahrnehmungsmuster bzw. Merkmalskomplexe und die Engrammverknüpfung gegenwärtiger mit gespeicherten sensorischen Konfigurationen. Bei Kant werden diese Leistungen unter den Begriffen produktive und reproduktive Synthesis der Einbildungskraft verhandelt. Sie können vorbewusst oder bewusst stattfinden. Im letzteren Fall stehen sie wiederum im Bewusstseinshorizont der empirischen Apperzeption.
Die produktive Einbildungskraft (Dichtungsvermögen) ist entweder räumlich-konstruktiv = Abbildungskraft oder zeitlich-assoziativ = Beigesellungskraft oder thematisch-affin = Phantasie. Die produktive Einbildungskraft kann sich auf die Bildung sinnlich-struktureller mentaler Repräsentationen oder Modelle empirischer Gegenstände beschränken = das scholastische phantasma als Material und Korrelat des Verstandesbegriffes. Sie kann aber auch kreativ darüber hinausgehen und die empirische Vorstellung in einen ganzheitlichen Horizont stellen und assoziativ erweitern und beleben, immer im anschaulichen Repräsentationsformat, so dass die Vorstellung eine ähnliche Reichweite und eine analoge lebendige Inhaltsfülle bekommt wie eine überempirische Vernunftidee. Dann ist sie das, was Kant eine ästhetische Idee nennt (KU §§ 49 und 57). Hierauf bezieht Kant wie Platon und die Tradition (s.o.) die Wahrnehmung und das Erleben von Schönheit: Schönheit ist der "Ausdruck ästhetischer Ideen" (KU § 51). Das Schöne ist damit ipso facto Quintessenz, Norm und Medium der Wahrnehmung und Kognition des Seins in seiner Fülle, Ganzheit und Vollendung.
Die reproduktive Einbildungskraft ist entweder Nachbildungskraft, welche als bewusste per definitionem das Gedächtnis ist; oder antizipierende Einbildungsraft = Vorbildungskraft (facultas praevisionis).
In der Kognitionsforschung der Gegenwart sind dies die Leistungen der visuell-räumlichen Enkodierung im Arbeitsgedächtnis, der Konsolidierung im Langzeitgedächtnis, und der uni- und polymodalen Bildproduktion in der Vorstellungskraft (imagery).
Instinkt — Partikulärer Verstand — Gedächtnis
Die vis aestimativa naturalis ermöglicht die instinktive Erfahrung nichtwahrnehmbarer, praktisch relevanter, nützlich/schädlicher Merkmale. Sie identifiziert Nützliches und Schädlches und ist damit eine Bedingung und Vorstufe der praktischen Orientierung und des sittlichen Handelns.
In der kantischen Kognitionstheorie erscheint dieses zu den inneren Sinnen bzw. der Vorstellungskraft im weiten Sinn gehörende Vergleichs- und Unterscheidungsvermögen als die facultas comparandi. Diese kognitive Kompetenz leistet das anschauliche Kennen (noscere) und anschauliche Erkennen (cognoscere). Die kantische Spezielle Metaphysik: Empirische Kognitionspsychologie Mrongovius (AA XXIX, 881—884) spricht ihr zwei Teilkompetenzen zu: (1) Vergleich auf Übereinstimmung (Ähnlichkeit). Diese Leistung kann als unbewusste Registrierung / Kenntnis realisiert sein; oder als bewusste Erkenntnis: Witz [im ursprünglichen Sinn von ‚Verstand, Klugheit, [...] Geist‘ (Etymologie-Duden 21989)]“ (ingenium). Hier geht es um die Feststellung von Übereinstimmung und Gemeinsamkeiten unter den Vorstellungen. Vgl. Kugelstadt, M.: Synthetische Reflexion. Zur Stellung einer nach Kategorien reflektierenden Urteilskraft in Kants theoretischer Philosophie, Berlin / New York 1998, 1—3, 35—39. (2) Vergleich auf Unterschied. Auch die Differenzierungsleistungen des Vorstellungsvermögens vollziehen sich als unbewusste Registrierung oder Kenntnis oder als bewusste Erkenntnis: Urteilskraft (acumen). Hier geht es um die Identifizierung von Unterschieden (Differenzierungen) zwischen den Vorstellungen.
Die ratio particularis ist der eingebettete Verstandesgebrauch der Lebenswelt — im Gegensatz zu dem abstrakt-reflektierten Verstandesgebrauch der Wissenschaft. Der partikuläre oder konkrete Verstand erfasst und beurteilt die individuellen Objekte als lebensweltlich materialisierte Allgemeinstrukturen — mit und in ihren individuellen, konkreten Eigenschaften, Relationen, Umständen und ihren existentiellen, praktischen Werten und Bedeutungen. In der kantischen Kognitionstheorie werden die Leistungen der ratio particularis unter den Titeln Wahrnehmungsurteil (alias empirische Einheit der Apperzeption alias empirische Rekognition im Begriff) sowie Schematismus und Grundsätze der transzendentalen bestimmenden Urteilskraft abgehandelt; außerdem in der transzendentalen reflektierenden Urteilskraft.
Es liegt in der Natur der Sache, dass der eingebettete und unreflektierte Verstandesgebrauch nicht streng von der begrifflichen Abstraktion und reflektierten Begriffsanalyse sowie wissenschaftlichen Theoriebildung zu scheiden ist, sondern beide in einem wechselseitigen Verhältnis stehen. Das ist für Aristoteles wie für Thomas Aquinas eine ebensolche Selbstverständlichkeit wie für Kant und die Logik und Kognitionswissenschaft der Gegenwart. Deswegen sollte man hier mindestens einschlussweise auch die Funktionen dazu denken, die in Folge unter dem Titel 'Noetischer Intellekt' zur Sprache kommen. Bei Kant betrifft dies vor allem die transzendentale objektive Einheit der Apperzeption und die transzendentalen Reflexionsbegriffe.
In der modernen Kognitionswissenschaft sind die hier in Rede stehenden Leistungen die strukturell-semantische mental-model-Bildung, also die synthetische Objektstruktur und begriffliche Objektidendität in mentalen Modellen, sowie die visuo-spatiale Objektlokalisation, die kognitiv-linguistische Zeitsynthesis und -ordnung des tertiären motorischen Zentrums oder Assoziationskortexes und die emotional-motivationale Evaluation des limbischen Systems. Oft werden heute die von Antonio Damasio vorgschlagenen drei Stufen des Objektbewusstseins zu Grunde gelegt: (a) mentale Repräsentationen 1. Ordnung von Objekten auf der Basis vorbewusster, angeborener Wahrnehmungs- und Denkstrukturen, (b) mentale Repräsentationen 2. Ordnung: gefühls- und instinktbasierte Objekt-Organismus-Relationen, (c) mentale Repräsentationen 3. Ordnung: Integration von (b) in einen objektiven Raum-Zeit-Zusammenhang + Lokalisierung von (b) in der Individualgeschichte (Autobiographisches Selbst) + interpersonale Repräsentationen.
Die Speicherung der durch Instinkt oder partikulären Verstand vermittelten Erfahrungen der vis aestimativa erfolgt nicht wie bei unmittelbar wahrgenommenen Merkmalen und Mustern in der Vorstellungs- oder Einbildungskraft (imaginatio). Sondern hierfür wird in der Tradition als weiterer innerer Sinn das sensorische Gedächtnis angesetzt. In der Kognitionswissenschaft ist dieses das deklarativ-episodische Langzeitgedächtnis betreffs autobiographischer Fakten und ihres Raum-Zeit-Erfahrungszusammenhanges.
Noetischer Intellekt
Das vierte o.g. Element war die aristotelische Noesis (intellectus), also die Erfassung der transzendentalen Grundbegriffe (im Sinne der Tradition), der selbstevidenten Grundsätze und die begrifflich-sprachliche Abduktion und Definition empirischer Allgemeinstrukturen (epagogē, inductio). Diese Dimension ist in der neuzeitlichen Konzeption des sensus communis mindestens implizit ebenfalls zentral: als intuitive Evidenzen der gesunden, allgemeinen Menschenvernunft, die in Sprache, Zivilisation und Geschichte ihren Niederschlag gefunden haben und kristallisiert sind. Die Rolle des diskursiven szientifischen Verstandes (dianoia, ratio) wird dagegen eher skeptisch betrachtet und heruntergespielt. Bei Kant werden die Themen der aristotelischen Noesis aufgegriffen unter den Titeln Form und Deutlichkeit der Begriffe — Transzendentalien der Tradition — Kategorien — Transzendentale objektive Einheit der Apperzeption — Transzendentale Reflexionsbegriffe — Teleologische Ideen der transzendentalen reflektierenden Urteilskraft. In der Kognitionsforschung fallen diese Leistungen in das Gebiet der Begriffsbildung und Mentalen Repräsentation im propositional-sprachlchen Arbeitsgedächtnis sowie der Bedeutungstheorie und Intensionalen Logik am apriorischen Leitfaden der "objektiven Vernunft" (Nagel) der "Welt 3" (Frege, Popper).
Moralisches Erkennen
Das fünfte obengenannte Element des neuzeitlichen Begriffsgehaltes von sensus communis ist das ethische Erkennen. In der aristotelischen Tradition ist das, wie schon gesagt, die praktische Vernunft i.w.S. (Nous praktikós, intellectus practicus). Diese wird durch die sog. dianoetischen Tugenden perfektioniert. In ausführlicherer Beschreibung umfasst die praktische Vernunft einmal die moralische Prinzipienintuition (synderesis). Die zugeordnete optimierte Erkenntnisdisposition oder (dianoetische) Tugend ist die Weisheit (sapientia), die induktive Auffindung (inquisitio) und Erfassung (apprehensio) der inhaltlichen Grundsätze (Axiome) der Ethik. Sodann umfasst die praktische Vernunft die deduktive Ableitung moralischer Konsequenzen aus den Prinzipien, optimiert durch die handlungs- oder praxisbezogene Wissenschaft (scientia practica). Und drittens umfasst sie die konkrete Anwendung sittlicher Prinzipien und Ableitungen in der Praxis oder das moralische Urteilsvermögen, dessen optimierte Erkenntnisdisposition die Klugheit (prudentia) ist. Dass und wie dieses differenzierte Lehrstück der praktischen Vernunft in der Neuzeit weiterwirkt, zeigt am Beispiel Kants das E-Buch Kantische Handlungstheorie und Ethik. Für dessen Einordnung und Präsenz im ethischen Reflexionshorizont der Gegenwart siehe das E-Portal Handlungstheorie und Ethik, insbesondere das Kapitel Metaethik.
Wir weisen hier darauf hin, dass, dass in der Tradition die Ethik auch die Politik umfasste, und zwar als den vornehmsten Bestandteil, also die Ordnung und Gestaltung des öffentlichen Lebens. Und dass das moderne Verständnis des Gemeinsinnes in der Gegenwart dies insofern aktualisiert als es fast auschließlich festgelegt ist auf die Konnotationen: allgemeine Menschenvernunft, gesunder Menschenverstand, Gemeinwohlorientierung, Gemeinsinn, gesellschaftlicher Konsens.
Der geraffte Exkurs macht einerseits deutlich, welche Begriffsimplikate der Term sensus communis ursprünglich und in späterer Zeit besaß und welche Bedeutungsverschiebungen im Detail zu verzeichnen sind. Andererseits kann man auf diese Weise sehen, welche Anknüpfungspunkte die ursprünglichen Begriffskomplexe für die neuzeitliche und besonders kantische Ästhetik und Wissenschaftstheorie boten. Jedenfalls hat der Term bereits in der Antike von Aristoteles' Wahrnehmungstheorie in De anima zu Ciceros rhetorischer Wissenschaftstheorie in De oratore eine enorme Aufwertung erfahren — von einer eher basalen Wahrnehmungsleistung zu einem Inbegriff intuitiver Vernunft und Sensibilität. Freilich haben wir gesehen, dass dieser Schritt bereits bei Aristoteles im Ansatz vorliegt — in dem Lehrstück nämlich von der sowohl in der basalen Wahrnehmung wie im noetischen Intellekt (wie auch auf der Zwischenstufe der Vorstellungskraft und anderer innerer Sinne) operierenden intuitiven Vernunft.
Anmerkungen zur aktuellen Sekundärliteratur
Eine weiterführende begriffsgeschichtliche Orientierung bietet der Eintrag 'Gemeinsinn' von Jean-Christophe Merle in. H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie I, Hamburg 1999, 455—459. Eine aktuelle monographische Aufarbeitung des Gemeinsinns bei Kant hat Zhengmi Zhouhuang (Peking) vorgelegt: Der sensus communis bei Kant. Zwischen Erkenntnis, Moralität und Schönheit [Kantstudien-Ergänzungshefte 187], Berlin / Boston 2016. Die an der LMU München entstandene Dissertation diskutiert die in diesen Begriff eingehenden Dimensionen unter den Stichworten sensus communis logicus — sensus communis practicus — sensus communis aestheticus. Sie stützt sich dabei u.a. auf die ähnlich umfassend angelegte Untersuchung von Robert Nehring: Kritik des common sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn — der Sensus communis bei Kant, Berlin 2010.
Zhouhuang unterscheidet nicht nur die aristotelische, psychologische Bedeutung des Gemeinsinns von der ciceronianischen einer allgemeinen Menschenvernunft und politisch-moralischen Konsenses, sondern sondert von Letzterer als eine dritte Bedeutung jene der schottischen Philosophie des common sense aus. Denn die schottische Common-sense-Philosophie fasse den sensus communis nicht als Resultat und konkrete Anwendung — in Sprache / Sozialität / Tradition — der theoretischen und praktisch-sittlichen Vernunftanlage und -tätigkeit der Menschheit, sondern umgekehrt die Vernunft und ihre Inhalte als Resultat angeborener evidenter Prinzipien und intuitiver Urteile. Hier kann man allerdings der Meinung sein, dass sowohl bei Cicero, Vico und Gadamer als auch in der schottischen Philosophie des common sense beide Sinnebenen vertreten sind und man es bei zwei großen Bedeutungskomplexen belässt. Bei Aristoteles ist sowieso klar, dass und wie beide Ebenen und Sinnrichtungen der Kognition Fakt sind: Die theoretische wie praktische Vernunft als diskursive Ratio (diánoia) geht von selbstevidenten noetischen Grundbegriffen und Grundsätzen des Intellektes (nous) aus und hat diese zur Voraussetzung
Leider richtet Zhouhuang gleich am Anfang ihrer Studie eine ziemliche Verwirrung an, da sie als Leistung des Gemeinsinns oder der gemeinsamen Wahrnehmung bei Aristoteles (Koinē aísthesis) die davon wohl zu unterscheidende Wahrnehmung der gemeinsamen Merkmale (Aísthesis koinē oder Aísthesis tōn koinōn) benennt. Sie identifiziert geradeheraus die Gemeinsame Wahrnehmung mit der Wahrnehmung der gemeinsamen Merkmale, welche nicht von den Einzelsinnen wahrgenommen würden. Letztere sind die in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie so genannten primären Sinnesqualitäten Größe — Gestalt — Ruhe — Zahl — Bewegung. Deren Wahrnehmung ist aber nach Aristoteles nicht erst die Leistung des von den Einzelsinnen unterschiedenen Gemeinsinnes, sondern sie werden bereits von den Einzelsinnen — neben den für jeden Enzelsinn spezifischen Sinnesreizen oder atomaren Merkmalen (aísthesis idíou, sensibilia propria, formae sensibiles propriae) — als allgemeine, polymodale, synthetische Gestaltmuster erfasst.(aísthesis koinē, sensibilia communia, formae sensibles communes). Siehe Aristoteles De anima I, 1, 418 a 7—26, 425 a 16—25, und W. Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, 113—132..
Dialektik der ästhetischen Urteilskraft
Die Dialektik der Ästhetik betrifft einen Gegensatz oder eine Antinomie der Prinzipien des Geschmacksurteils. Das eine Prinzip ist die Thesis: Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffe, weil man nicht darüber disputieren und es nicht objektiv beweisen kann. Das andere Prinzip ist die Antithesis: Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffe, weil man sonst nicht darüber streiten könnte (KU B 233). Die Lösung der Antinomie oder die Synthesis ist: Das Geschmacksurteil gründet sich zwar nicht auf bestimmte rationale Begriffe, aber sehr wohl auf unbestimmte Vernunftbegriffe eines übersinnlichen Substrates der Dinge der Realität.
Letzteres ist insofern der Fall als die ästhetische Zweckmäßigkeit der Natur direkt mit der begrifflichen äußeren Teleologie zusammenhängt (ebd. 247—248). Auch mechanische Formtendenzen (Figur, Textur, Kristallisation, Salze, Steine, Mineralien) weisen eine indirekte (= nach chemischen Gesetzen bewirkte) immanente, begrifflich bestimmte Teleologie auf (ebd. 251).
Die Beobachtung, dass Schönheit als Symbol der Sittlichkeit auftritt, bestätigt das Gesagte. Denn Sittlichkeit ist praktische Vernunft (254). — Die systematischste Darstellung zur symbolischen Erkenntnis bietet im Übrigen die kantische Theorie der Metaphorik und Symbolik in KU § 59, B 254—260, und die Abhandlung in Anthropologie (AA VII, 191—194) „Von dem Bezeichnungsvermögen (Facultas signatrix)“. Symbolische Erkenntnis gehört zum Bezeichnungsvermögen (facultas signatrix oder signandi). Sie gliedert sich nach Kant wie folgt:
1.1 Charakteristik: diskursiv (Zeichen oder character als Wort / Schrift / Geste (nicht isomorph zum anschaulichen Objekt)
1.2 Darstellung / Hypotypose: intuitiv (Isomorphie zwischen Zeichen und Objekt)
1.2.1 Demonstration: schematisch (betreffs transzendentaler (kategorialen) und empirischer Schemata). Dies ist die Transformation oder Umkodierung diskreter, propositionaler Repräsentationen (= Begriffe und Aussagen) in piktoriale, analoge Repräsentationen (= Bilder und mentale Modelle).
1.2.2 Analogie: symbolisch (betreffs überempirischer Vernunftideen)
Kants Anthropologie [Akademie-Ausgabe VII, 191] erläutert die symbolische Erkenntnis näher: „Gestalten der Dinge (Anschauungen), so fern sie nur zu Mitteln der Vorstellung durch Begriffe dienen, sind Symbole, und das Erkenntniß durch dieselbe heißt symbolisch oder figürlich (speciosa) [...] Symbole sind ... Mittel des Verstandes, aber nur indirect durch eine Analogie mit gewissen Anschauungen, auf welche der Begriff desselben angewandt werden kann [...] Wer sich immer nur symbolisch ausdrücken kann, hat noch wenig Begriffe des Verstandes, und das so oft Bewunderte der lebhaften Darstellung, welche die Wilden ... in ihren Reden hören lassen, ist nichts als Armuth an Begriffen und daher auch an Wörtern, sie auszudrücken; z.B. wenn der amerikanische Wilde sagt: ‘Wir wollen die Streitaxt begraben’, so heißt das so viel als: Wir wollen Friede machen“.
Gadamer (Wahrheit und Methode 1990, 80—81) spricht in Superlativen von der kantischen „Analyse des Symbolbegriffs“ als einem „der glänzendensten Resultate des kantischen Denkens“, das den „Gedanken der Analogia entis“ integriert und „die symbolische Arbeitsweise der Sprache (ihre beständige Metaphorik)“ entdeckt. Kant wendet „den Analogiebegriff im besonderen an, um das Verhältnis des Schönen zum Sittlich-Guten zu beschreiben, das weder eine Unterordnung noch eine Gleichordnung sein kann. ‘Das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten’: in dieser ebenso vorsichtigen wie prägnanten Formel vereinigt Kant die Forderung der vollen Reflexionsfreiheit der ästhetischen Urteilskraft mit ihrer humanen Bedeutung — ein Gedanke, der von der größten geschichtlichen Wirkung wurde. Schiller war hier sein Nachfolger.“ (Gadamer 1990, 81).
Die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Geschmacksurteils zeigt ein autonomes intellibibles Gesetz der Urteilskraft. Denn in der Sinneswahrnehmung gibt es keine Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit. Die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Geschmacksurteils hat einerseits das Subjekt und seine Erkenntnis des intelligiblen Gesetzes zur Voraussetzung; andererseits aber auch die Übereinstimmung der Natur mit diesem intelligiblen Gesetz. Beides, Subjekt und objektive Natur weisen so eine Beziehung auf ein übersinnliches Substrat auf, „in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden“ ist (258—259). Man kann präzisieren, dass die Urteilskraft im Geschmacksurteil dabei in vier Momenten der praktischen Vernunft analog ist: (1) unmittelbares Gefallen; (2) ohne vorgängiges Interesse, (3) Freiheit, (4) Allgemeingültigkeit. Es gilt somit: „Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnesreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltigen Sprung möglich“ (260).
Methodenlehre der ästhetischen Urteilskraft
In der schönen Kunst zählt eigentlich nur die intuitive Gestaltung (Modus) oder die kreative Machart (Manier), nicht abstrakte Lehrart oder Lehrmethoden. Guter Geschmack und überzeugendes Kunstschaffen lassen sich nicht durch Vorschriften vermitteln. Es gibt allerdings eine Propädeutik zur Schönen Kunst. Sie besteht in der Kultur der Gemütskräfte. Diese umfasst zwei Ebenen. Einmal die Beschäftigung mit den Humaniora, also den Geisteswissenschaften und insbesondere den klassischen Werken der Alten. Diese sind eine Schule der Gemütskräfte und des Geschmacks, „weil Humanität einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können bedeutet.“ (KU B 262) Dies ist die menschliche Weltoffenheit in Empfinden, Wahrnehmen, Denken und Geselligkeit, welche „die der Menschheit angemessene Glückseligkeit“ ausmacht, „wodurch sie sich von der tierischen Eingeschränktheit unterscheidet“ (ebd. 262). Zum anderen und v.a. umfasst die Kultur der Gemütskräfte „die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls“, weil „der Geschmack im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen ... ist“ (263).
Zur Interpretation der kantischen Ästhetik
Werkimmanenter Forschungsbericht
Hans-Georg Gadamer gilt als maßgeblicher Wissenschaftstheoretiker der Geisteswissenschaften insgesamt und der Ästhetik im Besonderen. Er macht in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode (Tübingen, 6. Aufl. 1990, 317—346) deutlich, dass (i) die ästhetisch-sittliche Urteilskraft, also das sittliche Erkennen (phronesis), und (ii) die reflektierend-theoretische Urteilskraft als geisteswissenschaftliche und politisch-soziale Erkenntnis (doxa) nicht nur bei Kant, sondern auch in der Tradition seit Aristoteles eine formale und inhaltliche Verwandtschaft aufweisen. Wir haben bereits darauf hingewiesen und werden Gadamers Interpretation in Folge noch kurz skizzieren. [Foto links: Hans-Georg Gadamer, 1900—2002]
Kant und der neuzeitliche Klassiker des sensus communis, Shaftesbury, verkörpern im Fazit und im persönlichen Leben — trotz unterschiedlicher Auffassungen in den Prinzipien — ein ähnliches Ideal der humanitas mit dem Leitbegriff des ethisch-ästhetischen sensus communis (bon sens, moral sense, Geschmack, Takt und Urteilskraft). Beide übernehmen dieses Ideal aus der ungebrochenen Wirkungsgeschichte der römischen Klassiker und ihrer humanistischen Interpreten. Vgl. dazu Kaboré: Le formalisme est un humanisme: retour sur les fondements de la morale kantienne. In: Kant-Studien 92 (2001), 348—356. Die deutschsprachige Standarddarstellung hierzu ist Recki: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt/M. 2001. Im angelsächsischen Bereich ist ähnlich viel beachtet Fistioc: The Beautiful Shape of the Good. Platonic and Pythagorean Themes in Kant's Critique of the Power of Judgment, New York / London 2002. Gadamer (1990, 9—47) rekonstruiert diese Tradition und Lebenshaltung als Vorbedingung von Geisteswissenschaften, Recht und Ethik.
Zu einem ähnlichen Gesamtresultat gelangt Dumouchel (Kant et la Genèse de la Subjectivité Esthétique, Paris 1999). Dumouchels These zur kantischen Ästhetik als bereits vorkritischem Lehrstück macht diese ungebrochene Kontinuität noch deutlicher. Dumouchel zeigt, wie in KU Schönheit mit dem Guten und dem Wahren zusammenhängt und dem sensus communis als Einheit und Harmonie der oberen Erkenntniskräfte zugeordnet ist. Dieser als subjektives reflektierendes ästhetisches Ideal orientiert sich an der Schönheit der organischen Natur. Diese ästhetische (Wahrnehmungs-)Schönheit ist das Symbol der Synthese von Gut (teleologisch) und Wahr (logisch) in der Sinnlichkeit. Sowohl die intersubjektive Gültigkeit des ästhetischen Geschmacks als auch die objektive teleologische Schönheit der Natur sind fundiert im unbewussten übersinnlichen Substrat der Menschheit bzw. der Phänomene. Das Interesse der praktischen Vernunft an der objektiven Realität der praktischen Ideen hängt in dieser Weise mit der ästhetischen (Wahrnehmungs-)Schönheit zusammen, dass Letztere Erstere zur Evidenz bringt.
Erstrangig einschlägige Untersuchungen der Gegenwart zur ästhetischen Urteilskraft sind ansonsten Heintel: Die Bedeutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft für die transzendentale Systematik, Bonn 1970; Kohler: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Auslegung von Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“, Berlin / New York 1980; Lüthe: Kants Lehre von den ästhetischen Ideen. In: Kant-Studien 75 (1984), 65—74; Ginsborg: The Role of Taste in Kant's Theory of Cognition, New York 1990; Parret (Hrsg.): Kants Ästhetik. Kant’s Aesthetics. L’ ésthétique de Kant, Berlin / New York 1998; Guyer: Kant and the Claims of Taste, 2. Aufl. Cambridge 1997; Allison: Kant’s Theory of Taste. A reading of the Critique of Aesthetic Judgment, Cambridge 2001; Burnham: An Introduction to Kant’s „Critique of Judgment“, Edinburgh 2001; Häfliger: Vom Gewicht des Schönen in Kants Theorie der Urteile, Würzburg 2002; außerdem Philonenko: L’architectonique de la Critique de la faculté de juger. In: Parret: Kants Ästhetik, 1998, 1—52; Hughes: The Technic of Nature: What is involved in Judging? In: Parret: Kants Ästhetik, 1998, 176—191, und Ortland: Kants Ästhetik-Konzeption vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der Physikotheologie. In: Gerhardt, V. u.a. (Hrsg.) Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, III, Berlin / NewYork 2001, 604—614 zum Zusammenhang zwischen Ästhetik und Teleologie sowie Physikotheologie. Kohler (1980) diskutiert die Integration des Geschmacksurteils und der ästhetischen Erfahrung in die Gesamttheorie der Erfahrung. Lüthe (1984) charakterisiert die ästhetischen Ideen als „gestaltete Erlebnisfülle“, d.h. als sinnliches Pendant zu den begrifflichen Vernunftideen als gestalteten Totalitäten. Gadamer (1990, 48—61) arbeitet in einer klassischen Interpretation der Einleitung der KU sehr gut den Zusammenhang zwischen der ästhetischen Urteilskraft und der teleologischen Urteilskraft heraus. Sein Fazit ist kurz wie folgt:
Die ästhetische Urteilskraft (ästhetisch-sittliches Geschmacksurteil) betreffs der Naturschönheit als sinnliche, subjektive, formale Zweckmäßigkeit „nach empirischen Gesetzen“ (ästhetische Ideen, KU B XLIX) bereitet den Verstand darauf vor und legitimiert ihn, den Begriff des Zweckes als Prinzip der Urteilskraft auf die Natur anzuwenden. Diese Anwendung geschieht in der Theorie der teleologischen Urteilskraft betreffs der begrifflichen, objektiven, realen Zweckmäßigkeit nach empirischen Gesetzen unter einem einheitlichen hierarchischen Zusammenhang (objektive Ideen, KU B XXVII). Die ästhetisch-sittliche und logisch-begriffliche Teleologie weist noch einmal weiter auf das intelligible, übersinnliche Substrat der Menschheit und Natur, das „die Vermittlung zwischen Naturbegriffen und Freiheitsbegriffen“ (1990, 60) enthält. Die Teleologie ist so ihrerseits wiederum das Medium und die Brücke zwischen Natur (objektive Idee) und Freiheit (subjektive Idee). Vgl. hierzu zuletzt Roy: Kant’s Concept of the Sublime. A Pathway to the Numinous, Delhi 2005; Hughes: Kant's Aesthetic Epistemology: Form and World, Edinburgh 2007; und Matthews: The Significance of Beauty. Kant on Feeling and the System of the Mind, Cambridge, Mass. 2007.
Gadamer (1990, 48—61) anerkennt die Leistungen der kantischen Theorie der ästhetischen Urteilskraft, sieht aber ein entscheidendes Manko in der Subjektivierung der Ästhetik durch die kantische Kritik. Ähnlich bereits das Urteil Hegels und Schopenhauers. Dörflinger (Die Realität des Schönen in Kants Theorie reiner ästhetischer Urteilskraft. Zur Gegenstandsbedeutung subjektiver und formaler Ästhetik, Bonn 1988) entwickelt dagegen die gut begründete These des Realitätscharakters des Schönen und der transzendentalen Ästhetik. Wenzel (Das Problem der subjektiven Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils bei Kant, Berlin / New York 2000) ist eine vorbildliche und wohl endgültige Analyse dazu, wie Kant die Allgemeingültigkeit der Ästhetik versteht und — anders als die Tradition — begründet.
Nerheim (Zur kritischen Funktion ästhetischer Rationalität in Kants Kritik der Urteilskraft, [dt.] Frankfurt/M. / Berlin 2001) argumentiert hier sogar mit guten Gründen für die These, dass — gerade umgekehrt — die ästhetische Erfahrung bzw. das ästhetische Urteil uns überhaupt erst mit der ganzen Realität und der "authentischen Lebenswirklichkeit" (10) in Fühlung bringen und eine "conditio qua non aller Weltorientierung" sind (12—13). Sie bilanziert hierzu auch frühere wichtige Forschungsbeiträge in Richtung dieser These und zur kantischen Ästhethik überhaupt, so: Odebrecht: Form und Geist. Der Aufstieg des dialektischen Gedankens in Kants Ästhetik, Berlin 1930; Marc-Wogau: Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala / Leipzig 1938; Crawford: Kant's Aesthetic Theory, Madison 1974; sowie Kulenkampf: Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt / M. 1978.
Die Ästhetik ist — so Nerheim — eine Katharsis gegen den Weltverlust, die Unfreiheit und Schizophrenie "der einheitswissenschaftlich-positivistischen Haltung" (17). In der ästhetischen Erfahrung zeigt sich die "ganz fundamentale Tiefenstruktur menschlicher Weltorientierung", welche "Voraussetzung alles rein kategorialen [begrifflichen, rationalen] Wissens" und der "diskursiven Sprache" ist. Sie verkörpert die "neun Zehntel unseres epistemologischen 'Eisbergs' ..., die sich unter der Meeresoberfläche [der reinen Verstandesrationalität] befinden" (16). Die ästhetische Wahrnehmung ist somit reale Erscheinung der umgreifenden Totalität des Daseins, die unser Sein und Denken im Ganzen bedingt. Diese Totalität wird über das Gefühl, nicht in einer symbolisch-indirekten Sprache mitgeteilt (21—22). Deswegen besteht das "Paradox ... einer unmittelbaren Zusammengehörigkeit ästhetischer Sensibilität zur Vernunft" (22).
Der Kreis schließt sich: Noch einmal Platon
Wenn Nerheim das ästhetische Wahrnehmen der Totalität des Daseins im Medium des Gefühls stattfinden lässt, ist das freilich ziemlich verkürzt und missverständlich, auch wenn sie m.E. auf das Richtige hinauswill. Denn erstens ist die kritisierte einheitswissenschaftlich-positivistische Rationalität nicht gleichzusetzen mit dem Wissenschaftskonzept der Tradition, etwa in der platonischen Dialektik. Alles bisher Gesagte wie auch das noch Folgende zeigt, dass diese wirkungsgeschichtlich dominante Form von Rationalität die Einsicht bzw. das Anliegen Nerheims teilt. Damit zusammenhängend ist zweitens die Disjunktion oder Alternative: Rationalität oder Gefühl, nicht wirklich angemessen, nicht einmal wenn man sich auf die Sphäre der negativen Theologie und mystischen Erfahrung beruft.
Sowohl im philosophischen Neuplatonismus wie im theologischen Platonismus des prophetischen Theismus, etwa bei Dionysius Areopagita — ist die negative Theologie und die damit verbundene mystische Erfahrung "der Totalität des Daseins, die unser Sein und Denken im Ganzen bedingt" (Nerheim) kein Abtauchen in blindes Fühlen oder Driften in irrationalen Ästhetizismus. Sie sind vielmehr ein rational reflektierter Aufstieg zu einem überrationalen Erkenntnismodus resp. ein mit Einsicht und Bewusstsein verantworteter Überstieg in eine transzendente Seinssphäre. Eine Sphäre, die nur noch in ästhetischen Symbolen und rituellen Zeichen sowie durchaus auch in emotionalem Erleben zum Ausdruck kommen kann. Siehe dazu die maßgebliche Untersuchung von Friedemann Drews: Methexis, Rationalität und Mystik in der 'Kirchlichen Hierarchie' des Dionysius Areopagita, Berlin 2011: "Bei der «Wolke des Nichtwissens», von der Dionysius in seiner Mystischen Theologie spricht, geht es nicht um ein völliges Unwissen oder Nichterkenen, sondern um ein Erkennen von etwas Über-Erkennbarem. Diese Über-Erkenntnis bildet, wie es der Begriff bereits andeutet, den Abschluss höchster Erkenntnisakte, ja ihre supra-rationale (nicht anti-rationale) Transzendierung." (71)
Das wird endgültig deutlich, wenn man weiß, dass Dionysius diesen kognitiven Aufstieg abhängig macht von und parallelisiert mit einem aszetischen Aufstieg über die Stufen der Reinigung — Erleuchtung — Einigung / Vergottung. Der Ort dieses aszetischen und kognitiven Aufstieges ist der Initiationsritus der Taufe, in dem der Bewerber— nach jahrelanger Unterweisung, Aszese und Exorzismen — durch die Diakone zuerst der alten Kleider und des alten Lebens entkleidet wird. ,
In wiedergewonnener paradiesischer Nacktheit schwört er nach Westen dem Teufel und seinen Werken ab, erhebt nach Osten seine Arme zum über-erkennbaren Ewigen und bekennt seine supra-rationale Erkenntnis Gottes und der kirchlichen Hierarchie. Hierauf besiegelt ihn der Hierarch (= Bischof) dreimal mit dem Hl. Salböl und die Presbyter vollenden die Salbung am ganzen Körper, bevor durch den Hierarchen in dreimaligem Tauchbad Schmutz und Sünde von ihm abgewaschen wird (= Reinigung).
Nach der Wiedergeburt im Wasser der Taufe empfängt er durch Vermittlung des Hierarchen in der Salbung mit dem "göttlichen Myron (= Chrisam)" den Heiligen Geist (= Erleuchtung).
In neuem, strahlend weißen Festgewand hat er nunmehr Zutritt zur zugleich mystischen wie rationalen Opferliturgie. Bisher hatte er nur das Recht zur Teilnahme an den "hochheiligen Gesängen und Lesungen der heiligen Schrift" im Wortgottesdienst (Vormesse). Die "mystische Opferhandlung" führt ihn — im "hochgöttlichen Friedenskuss" mit allen anderen vereint — in die transzendente Sphäre des überhellen Dunkels, um in der Kommunion mit dem in der Welt erschienenen Logos Gottes zu verschmelzen und nun selbst als gottgeborener Übermensch dessen Glanz und Herrlichkeit zu reflektieren (= Einigung).
Voraussetzung für die rituelle Transparenz der Transzendenz ist das spirituelle Leben des Hierarchen (Bischofs) und seiner Presbyter in fortdauernder Kontemplation des Urschönen: Die "Hierarchie hat zum Gegenstande die in Gott gegründete, göttlich erhabene und göttlich wirkende Wissenschaft, Wirksamkeit und Vollendung." (Eingangswort) Wenn sie diese von ihnen zu fordernde spezifische Kompetenz nicht erbringen und nicht als "Ikonen der Philosophie [agálēmata philosophías]" (III, 3) Glanz und Anziehungskraft des göttlichen Urschönen in Antlitz und Auftritt spiegeln, sind sie, so Dionysius, fehl am Platze. Denn Hierarchen müssen "von Liebe zur Schönheit erfüllt" sein, welche sie zu "einem ununterbrochenen und unverwandten Schauen auf die wohlduftende, verborgene Schönheit [scl. Gottes]" motiviert, was "ein fehlerloses und ganz gottähnliches Bildnis" derselben in ihnen ausprägen wird.
Wie diese supra-rationale Transzendierung mit Kants und Nerheims ästhetischer Erfahrung des intelligiblen, übersinnlichen Substrates der Menschheit und Natur zusammengedacht werden kann, zeigt auch der bedeutendste Denker der Renaissance, Nikolaus von Cues. Sein erstrangiger Gewährsmann ist Dionysius Areopagita sowie dessen philosophisches Pendant Proklos. In De apice theoriae / Die ultimative Einsicht, einem Fazit seines Denkweges, schreibt er, dass die Totalität des Daseins als "ganz fundamentale Tiefenstruktur menschlicher Weltorientierung" (Nerheim) nicht nur in mystischer Wissenschaft und rituellen Symbolen erfahren werde, sondern auch im lebensweltlichen Blick auf die Sachen, wie Phänomenologen sagen würden. Cusanus sagt hier, "früher habe er die Wahrheit eher im Dunkel des Unbegreiflichen gesucht. Dann aber habe er verstanden, dass sie sich zeigt, und zwar nicht in diesem und jenem, sondern in allem; wer das begreift, der findet die Wahrheit leicht und kann sie gar nicht verfehlen […]: 'Ganz sicher zeigt sie sich von überallher als leicht zu finden' […] Der Denkweg des Cusanus führt also von der Unbegreiflichkeit des Absoluten zu dessen Sichzeigen in allem, was ist […] Was sich uns zeigt in der ganzen bunten Vielfalt der Welt wie in der Kraft unseres eigenen Geistes, der diese bunte Vielfalt denkend umfasst und vereinigt, ist nicht ein Schleier, der das Absolute, den Grund von allem, verhüllt und verbirgt, sondern was sich uns zeigt, ist eben die Macht oder das Können des absoluten Grundes selbst [Aber ...] es wird dadurch nicht selbst begreifbar ..., sondern bleibt selber unbegreiflich.“ (Jens Halfwassen: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015, 322—323) Auch für Nikolaus von Cues ist selbstverständlich, dass eine solche Erfahrung nicht von spirituell Toten und geistig Blinden vollzogen werden kann, sondern normalerweise Aufklärung und Aszese und Inspiration, Begnadung voraussetzt.
Nerheims Kantauslegung scheint — die genannten Präzisierungen vorausgesetzt — eine Erfahrung Schopenhauers zu wiederholen, der ebenfalls der Ästhetik bzw. Kunst einen bevorzugten theoretischen Zugang zur Realität zuspricht. Auf der Basis der (a) kantischen Unterscheidung von raum-zeitlicher Erscheinungswelt und nicht raum-zeitlichem Ding an sich [Welt als Wille und Vorstellung, Buch I), identifiziert er (b) die Dinge an sich mit dynamischen platonisch-aristotelischen Entelechien [ebd. Buch II) und (c) die platonischen Ideen (eidos, species) mit objektiven Gestalten oder Charakteristiken der/s Dinge/s an sich in der Erscheinungswelt [ebd. Buch III], welche dem künstlerischen Genie und der ästhetischen Erfahrung offenliegen. Wiederum ist auch für Schopenhauer selbstverständlich, dass eine solche Erfahrung nicht von spirituell Toten und geistig Blinden vollzogen werden kann, sondern normalerweise Aufklärung und Aszese, Inspiration und Gnade voraussetzt. Schopenhauers Haupt- und Lebenswerk schließt mit den Worten: Bei "denjenigen, welche die Welt überwanden [...] zeigt sich uns [...] jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene [...] unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raffael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist". [Foto rechts: Arthur Schopenhauer, einflussreicher Ästhetiker des 19. Jh. und der Moderne überhaupt, im Mai 1846 in Frankfurt am Main im Alter von 58 Jahren]
Überzeitliche Geltung der Klassiker
Einsicht — Natürlicher Verstand — Bildung
Schopenhauer erklärt übrigens andernorts, warum die klassischen Einsichten etwa Platons und Kants zum Zusammenhang von Schönheit, teleologischen Ideen, Realität, Wahrheit und Ethik überzeitlich gültig sind: „Der Fonds oder Grundgehalt [...] der eigentlichen Weisheit und wirklichen Einsicht jedes Menschen [besteht] nicht in den Begriffen und dem Wissen in abstracto, sondern in dem Angeschauten und dem Grade der Schärfe, Richtigkeit und Tiefe, mit dem er es aufgefaßt hat. Wer hierin excellirt, erkennt die (Platonischen) Ideen der Welt und des Lebens: jeder Fall, den er gesehen, repräsentirt ihm unzählige; er faßt immer mehr jedes Wesen seiner wahren Natur nach auf, und sein Tun, wie sein Urtheil, entspricht seiner Einsicht [...] Dem Gesagten gemäß finden wir unter allen Ständen Menschen von intellektueller Überlegenheit, und oft ohne alle Gelehrsamkeit. Denn natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand.“ (Welt als Wille und Vorstellung II, Ergänzungen zu Band I.1, Kap. 7) — „Daher auch können Weise in jeder Zeit leben, und die der Vorzeit bleiben es für alle kommenden Geschlechter: Gelehrsamkeit hingegen ist relativ: die Gelehrten der Vorzeit sind meistens Kinder gegen uns und bedürfen der Nachsicht.“ (ebd.)
Normativer Sinn
Dasselbe bei Gadamer (Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, 288—294): Es zeigt sich, "daß die großen Leistungen geisteswissenschaftlicher Forschung kaum je veralten. Der heutige Leser weiß offenbar mit Leichtigkeit davon zu abstrahieren, daß ein Historiker vor hundert Jahren über einen geringeren Wissensbestand verfügte und deshalb in manchen Einzelheiten verkehrte Urteile fällte. Aufs Ganze gesehen wird er immer noch [die großen Altmeister] Droysen und Mommsen lieber lesen als die neueste Darstellung der betreffenden Gebiete aus der Feder eines gegenwärtig lebenden Historikers. Was ist es, woran hier gemessen wird?"
Offenbar "erscheint uns die Sache erst im Lichte dessen wahrhaft bedeutsam, der sie uns recht zu schildern weiß". Wir sind hier mit dem Phänomen des Klassischen konfrontiert. Das heißt aber, "daß ein normativer Begriff wie der des Klassischen ein wissenschaftliches Recht" hat. Klassisch ist nicht in erster Linie ein ästhetischer Stilbegriff, der "bestimmten geschichtlichen Erscheinungen zuzusprechen ist".
Sondern: "Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält [...] Was klassisch ist, das ist herausgehoben aus der Differenz der wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmackes - es ist auf eine unmittelbare Weise zugänglich
[...Es] ist ein Bewußtsein des Bleibendseins, der unverlierbaren, von allen Zeitumständen unabhängigen Bedeutung, in dem wir etwas 'klassisch' nennen — eine Art zeitloser Gegenwart, die für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit bedeutet. Das erste also an dem Begriff des 'Klassischen' ist der normative Sinn [...] Klassisch ... ist, wie Hegel sagt: 'das sich selbst Bedeutende und damit auch sich selber Deutende' [Ästhetik II, 3]."
Wahrheit in Geisteswissenschaft und Kunst
Gadamers philosophische Hermeneutik als Theorie und Methode der Geisteswissenschaften — und darüber hinaus alles Erkennens und Verstehens — entstand auch aus der folgenden Erfahrung, wie er in der Einleitung des in Rede stehenden Werkes mitteilt: "Es gehört zur elementaren Erfahrung des Philosophierens, daß die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewußtsein weder abwehren noch überbieten kann. Das naive Selbstgefühl der Gegenwart mag sich dagegen auflehnen, daß das philosophische Bewußtsein die Möglichkeit einräumt, seine eigene philosophische Einsicht sei der eines Plato oder Aristoteles, eines Leibniz, Kant oder Hegel gegenüber geringeren Ranges. Man mag eine Schwäche des gegenwärtigen Philosophierens darin sehen, daß es sich der Auslegung und Verarbeitung seiner klassischen Überlieferung mit solchem Eingeständnis der eigenen Schwäche zuwendet. Sicher ist es aber eine noch viel größere Schwäche ..., wenn einer sich einer solchen Erprobung seiner selbst nicht stellt und vorzieht, den Narren auf eigene Faust zu spielen. Daß im Verstehen der Texte dieser großen Denker Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Weg nicht erreichbar wäre, muß man sich eingestehen, auch wenn dies dem Maßstab von Forschung und Fortschritt, mit dem die Wissenschaft sich selber mißt, widerspricht.
Ähnliches gilt von der Erfahrung der Kunst. Hier ist die wissenschaftliche Erforschung, die die sogenannte Kunstwissenschaft betreibt, sich dessen von vornherein bewußt, daß sie die Erfahrung der Kunst weder ersetzen noch überbieten kann. Daß an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird, die uns auf keinem anderen Weg erreichbar ist, macht die philosophische Bedeutung der Kunst aus, die sich gegen jedes Raisonnement behauptet." (1990, 2)
Erkenntnismedium Schönheit
Gadamers Grundlegung der modernen Hermeneutik setzt bewusst die Wahrheit klassischer Texte und die Wahrheit der Kunst in Parallele. Dieser doppelte Weg zur Wahrheit gründet in der weiteren Parallele von Schönheit und Sprache — beide sind Licht, das die Dinge deutlich werden läßt: "Das Licht, das alles so hervortreten läßt, daß es in sich selbst einleuchtend und in sich verständlich ist, ist das Licht des Wortes [...] Wenn wir einen Text verstehen, so nimmt das Sinnvolle desselben genau so ein, wie das Schöne für sich einnimmt." (ebd. 487, 494) Sprachlicher Sinn in klassischer Prägnanz hat damit dieselbe Funktion wie das Schöne. Normativer Sinn wie anschauliche Schönheit sind beide Index der Vollkommenheit, Geltung und Überzeugungskraft. Mit anderen Worten: Sie haben die Anziehungskraft und Macht des Klassischen.
Über das Schöne als Erkenntnismedium haben wir bereits oben im Abschnitt zu Platon gesprochen. Hier noch einmal der zentrale Text: "In dieser anagogischen Funktion des Schönen [...] wird nun ein ontologisches Strukturmoment des Schönen [...] sichtbar [... Es hat] die wichtigste ontologische Funktion, die es geben kann, nämlich die der Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung [...] Es ist die Maßhaftigkeit des Seienden, die es nicht allein sein läßt, was es ist, sondern es auch als ein in sich bemessenes, harmonisches Ganzes hervortreten läßt [...] Schönheit hat die Seinsweise des Lichtes. Das meint nicht nur, daß ohne Licht nichts Schönes erscheinen ... kann. Es meint auch, daß die Schönheit des Schönen als Licht, als Glanz an ihm erscheint [...] Es ist ... die Erscheinungsweise des Guten überhaupt, des Seienden, wie es sein soll." (Gadamer ebd. 486, Hervorhebungen in Fettdruck von mir, PN).
Erkenntnismedium Sprache
Sein — Denken — Sprache
Zur Sprache als Erkenntnismedium hat Gadamer Folgendes: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache [...] So reden wir ja nicht nur von einer Sprache der Kunst, sondern auch von einer Sprache der Natur, ja überhaupt von einer Sprache, die die Dinge führen." (478) Bekannt sind seine Sentenzen: "Die Welt ist nur [epistemische] Welt [und nicht nur biologische Umwelt], sofern sie zur Sprache kommt." (1990, 447) Und: "Wer Sprache hat, 'hat' die Welt." (457) Die Kunst der Auslegung und Anwendung von Texten oder die "Hermeneutik ist ... insofern ein universaler Aspekt der Philosophie." (479)
Das gilt besonders für schriftlich fixierte Texte, für Literatur: "Was Literatur ist, hat ... eine eigene Gleichzeitigkeit mit jeder Gegenwart erworben. [...] Es handelt sich dabei um ... um Teilhabe an der Mitteilung, die der Text uns macht [...] Schriftfähigkeit [beruht] darauf, daß das Sprechen selber an der reinen Idealität des Sinnes Anteil hat. [...] Schriftlichkeit ist die abstrakte Idealität der Sprache [...] Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn." (1990, 394—396)
Die These Gadamers zum Verhältnis von Sprache und Sein ist dabei: "Zur Sprache kommen, heißt nicht, ein zweites Dasein bekommen. Als was sich etwas darstellt, gehört vielmehr zu seinem eigenen Sein." (1990, 479) Und die These zum Verhältnis von Sprache und Denken: "Die Sprache ist die Sprache der Vernunft selber." (1990, 405)
Impliziter Intellekt — Explizite Repräsentation — Benennung
Gadamer bietet in Wahrheit und Methode eine differenzierte Analyse der Art und Reichweite dieser Korrelation von Sprache, Denken, und Sein. Sie zeigt, wie sowohl die Thesen „Sein ist Sprache“ und "Sprache ist Denken" wie die Thesen der Nichtidentität von Sein und Sprache bzw. Sprache und Denken ihre partielle Berechtigung haben. Gadamer geht dabei von der Sprachtheorie der Patristik und Scholastik aus. Diese unterscheidet zwischen (1) Denken (intuitive intelligentia als begrifflicher Sachgehalt) — (2) innerem mentalen Wort (diskursives verbum intellectus als emanatio intellectualis oder Epiphanie der intelligentia) — (3) äußerem Wort (lingua als empirisch variable linguistische Benennung). Der menschliche Verstand arbeitet nun diskursiv: Das Verhältnis zwischen dem Denken (intelligentia) und dem inneren Ausdruck (verbum) ist daher dialektisch. Der Sachgehalt im Denken enthält zwar die Prämissen, aber nur potentiell und als implizites Prinzip, der Ausdruck des Gedankens ist dagegen die explizite conclusio als Formierung (formatio) oder Perfektion (perfectio) des Gedankens. Die Formulierung der conclusio erfolgt nicht in irgendeiner Form intellektueller Anschauung, sondern diskursiv, dialektisch durch intentionale Untersuchung und Nachdenken (inquisitio und cogitatio). Sie ist die Präsenz und Spiegelung der Sache (similitudo rei) in diskursiver Vielheit und Partialität (vgl. Gadamer 1990, 422—431).
Scholastische und moderne Sprechakttheorie
Diese von Augustinus und Thomas Aquinas aus dem (Neu-)Platonismus entwickelte Theorie trägt dem schöpferischen, Wirklichkeit setzenden Geschehens- und Handlungscharakter der Sprache Rechnung, die der Platonismus so nicht kannte, und gilt mit unterschiedlichen Akzenten bis zu Nicolaus Cusanus an der Epochenwende Mittelalter—Neuzeit. Cusanus' Erkenntnis- und Sprachtheorie hat für Gadamer klassische Geltung, insofern er mit der Aufarbeitung der schöpferischen Mitursächlichkeit der Sprache und des Geistes in der begrifflichen Erkenntnis und in der Erzeugung der menschlichen Wirklichkeit die Arbeit der Vorgänger zum Abschluss bringt (1990, 438—442).
Das bedeutet hier keinen Sprach- und Kulturrelativismus, da Cusanus das schöpferische Moment im Übergang vom noetischen, nichtdiskursiven Denken (intelligentia) zum mentalen Wort bzw. zur diskursiven begrifflichen mentalen Repräsentation sieht, der in variablen, aber nicht beliebigen Unterscheidungen (Analysen) und Zusammenfassungen (Synthesen) erfolgen kann. Das habe bereits Thomas Aquinas, so Gadamer, stark betont: "Da die Wesen der Dinge uns unbekannt sind, ihre [akzidentellen] Kräfte jedoch durch ihre Akte in unsere Erfahrung fallen, verwenden wir häufig die Namen der Kräfte oder Vermögen zur Bezeichnung der Wesenheit" (De veritate qu. 10, art. 1., corp). — Auch der spezifisch menschlichen kognitiven Kompetenz, dem Urteilen als Synthesis (compositio) oder Analysis (divisio) "entspricht zwar etwas auf Seiten der Sache; dennoch ist der Sachverhalt im Ding anders als im Denken." (Theologische Summe I, qu. 85, art. 5, ad 3) Gadamer erörtert die These des Sprachrelativismus expressis verbis auch in dem Aufsatz 'Wie weit schreibt Sprache das Denken vor?' (Wahrheit und Methode II, Tübingen 21993, 199—206)
Cusanus meint also nicht den noch variableren Übergang vom inneren Wort (mentale Repräsentation) zum äußeren Wort (faktische Sprachen und Sprachwelten), mit dem die Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts und des 19. Jh. einen mehr oder minder ausgeprägten Kulturrelativismus verband. Gadamer sieht in dieser scholastischen Sprechakttheorie ein klassisches Modell für die moderne Sprechakttheorie, die im 20. Jh. dieses Reflexionsniveau weitgehend erneuere. Eine umfassende, monumentale Interpretation und Rekonstruktion der scholastischen Sprechakttheorie bietet inzwischen H.-G. Nissing: Sprache als Akt bei Thomas von Aquin, Leiden 2005. Gadamer aktualisiert seinerseits unmittelbar das klassische Modell der Tradition als Koordinatensystem der modernen Hermeneutik: “Die ... Hermeneutik... führt uns, wenn wir der Sache gerecht werden wollen, in die Problemdiskussion der klassischen [scholastischen] Metaphysik zurück” (a.a.O. 1990, 464).