Dr. phil. Paul Natterer
Inhaltsverzeichnis

Natterer: Bausteine der Erkenntnistheorie Die „Bausteine der Erkenntnistheorie” sind in einer früheren Fassung auch als Buchveröffentlichung erhältlich. Der Titel ist Natterer, Paul: Bausteine der Erkenntnistheorie. Mit einer Internationalen Bibliographie zur Kritik der reinen Vernunft [= Edition novum studium generale 1], Norderstedt 2010, 344 Seiten. Verkaufspreis 29,90 € [ISBN 978-3-8391-9127-9].

 

 

Vereinheitlichte Theorie der Kognition

Dieses Menu enthält zunächst den folgenden schematischen Überblick zu den Schichten, Feldern und Leistungen der menschlichen Kognition, ausgehend von elementaren Sinnesdaten bis zu axiomatisierten Modellsystemen. Dieser Überblick ist sehr dicht und voraussetzungsreich und lediglich als eine erste Vogelperspektive auf das Thema und die hier anstehenden Herausforderungen gedacht.

Anschließend werden Denker und Werke vorgestellt, die für die Erkenntnistheorie bahnbrechend waren und sind oder wichtige Meilensteine auf ihrem Weg durch die Geschichte darstellen. Dabei vergleichen wir — namentlich in den Kapitelüberschriften — die Erkenntnistheorie mit der Entwicklungsgeschichte eines Bauwerkes, und folgen mit dieser Allegorie dem Beispiel Kants in der Kritik der reinen Vernunft. In diesem Sinn ist Platon der Gründervater und Ideengeber, Aristoteles der ausführende Architekt der mentalen Architektur und Funktionalität, Aquinas der Architekt einer neuen Ära in der Linie Aristoteles', die Empiristen Locke, Berkeley und Hume positionieren sich in der Allegorie als Vertreter alternativen Bauens, Kant als der Architekt einer ausgleichenden Synthese der Baustile, Fichte, Schelling und Hegel als Anwälte einer Kernsanierung im Geiste des Ideengebers und Gründervaters Platon, Carnap als konvertierter Sprecher des alternativen Bauens.

Im Schlusskapitel stellen wir die Erkenntnistheorie der Gegenwart anhand eines verbreiteten Handbuches dar. Man könnte sie mit der Metapher 'Neue Sachlichkeit' belegen. Auch ihre Arbeits- und Wohnräume liegen in dem von Platon angedachten und von Aristoteles erstmals geplanten und ausgeführten Bau. Zunächst der angesprochene schematische Überblick:

Edmund HusserlEine annehmbare Grundlagentheorie kognitiver Leistungen sollte mindestens fünf nicht weiter rückführbare vertikale Schichten bewältigen. Die Begrifflichkeit ist hier je nach Verfasser und Fach schwankend. Nichtsdestotrotz ist ein wachsendes sachliches Aufeinanderzubewegen der formal- und realwissenschaftlichen Grundlagenforschung, besonders seit den 60er Jahren des 20. Jh., feststellbar. Diese kommt mit dem wirkungsgeschichtlich vorherrschenden Strang in Logik, Wissenschaftstheorie und Metaphysik von der Antike über die Scholastik bis zur Neuzeit trotz unterschiedlicher Auslegungen im Einzelnen in der Grundrichtung überein (vgl. Anzenbacher: Einführung in die Philosophie, Freiburg et al. 1989 [10. Aufl. 2007], 172—182, v.a. 175—177). [Foto links: Edmund Husserl, 1859—1938, Begründer der Phänomenologie, welche sich als Wissenschaftslehre und Prinzipientheorie logischer und überhaupt kognitiver Leistungen versteht] Eine Theorie des Denkens und Erkennens, die nicht nur eine Formalisierung oder Simulation des Denkens ist, muss folgenden fünf vertikalen Schichten gerecht werden:

(A) Semiotik (i.e.S.): biologisch-psychologisch-soziolinguistische Repräsentationsformate der Kognition;
(B) Pragmatik (Performatorik/Noetik): psychosoziale Aktvollzüge der Informationsverarbeitung in einem Repräsentationsmedium unter (A);
(C) Reflexionslogik (i.w.S./Prinzipien- und Regeltheorie): Rationale Kontrolle durch kritische methodische Reflexion der kognitiven Handlungen unter (B);
(D) Grammatik (i.w.S./Noematik): intentionale Produkte kognitiver Akte unter (B) = deskriptives Inventar, formale Operatoren und syntaktische Strukturen der Kognition unter (A)—(C);
(E) Semantik (i.e.S./Wahrheitstheorie): Wahrheitskriterien der intentionalen kognitiven Produkte.

Dazu treten horizontale Felder einer interdisziplinär brauchbaren und annehmbaren Theorie der Kognition. Jede der in Folge aufzulistenden kognitiven Leistungen schließt eine je eigene Tiefenstruktur aus dem vertikalen Quintupel ein, welche im Fall der Empirik auch vorbewusst und biogenetisch vorliegen kann (vgl. einführend Bochenski: Die zeitgenössischen Denkmethoden, 10. Aufl. Tübingen / Basel 1993):

(I) Vorbegriffliche Empirik: apriorische (biogenetische) kognitive Fähigkeiten — kognitives Bewusstsein (Arbeitsgedächtnis) und kognitive Speicher (Langzeitgedächtnissysteme) — (vor)bewusste sensorische Merkmalsextraktion — (vor)bewusste Wahrnehmungsorganisation — (vor)bewusste imaginale Objektapprehension (polymodale Merkmalsintegration);
(II) Konstitutionssystem (Erzeugung und Systematisierung des Begriffssystems): Abstraktion — Definition — analytische formale Relationen (Funktoren / syntaktische Aussageformen) — analytische materiale Relationen (Fundierungen bzw. phänomenologische Deskription);
(III) Aussagensystem / Erzeugung: Hermeneutische (regressiv-deduktive) Präsuppositionslogik — (Regressiv-reduktive) Abduktionslogik — (Progressiv-deduktive) Konsequenzlogik — Induktive (progressiv-reduktive) Logik — Intuitionistische Evidenzlogik — Materiale Relevanzlogik;
(IV) Aussagensystem / Axiomatisierung: Formale axiomatische Theorie — Intensionale Modelltheorie — Extensionale Modelltheorie — Lokale Modelltheorie (Situationssemantik).

Die im Vorhergehenden genannten Schichten lassen sich schon mehr oder minder ausdrücklich in den Grundlegungsprogrammen von Ch. S. Peirce (Pragmatismus), G. Frege (Logizismus), E. Husserl (Phänomenologie) am Beginn des 20. Jahrhunderts erheben. Auch bei Ch. Morris (Semiotik), J. L.Austin / J. R. Searle (Sprechakttheorie), Rudolf Carnap (Intensionale Modallogik) und selbst W. V. Quine (klassische formalisierte Logik) in der Jahrhundertmitte. Am ausdrücklichsten bei G. Bealer und U. Mönnich (nachklassische formalisierte Logik, vgl. Bealer / Mönnich: Property Theories. In: Gabbay, D. / Guenthner, F. (eds.) Handbook of Philosophical Logic, Bd. IV: Topics in the Philosophy of Language, Dordrecht / Boston / London 1989, 133—251), D. M. Gabbay (New Logics = angelsächsische Synthese von epistemischer Logik, Begriffslogik und mathematischer Logik, vgl. What is a Logical System? In: Gabbay, D. M. (ed.) What is a Logical System?, Oxford 1994, 179—216), sowie G. Meggle und G. Sigwart (pragmatische Konstitutionstheorie = kontinentale Synthese von epistemischer Logik, hermeneutisch-dialektischer Begriffslogik und mathematischer Logik, vgl. Meggle / Siegwart: Der Streit um Bedeutungstheorien. In: Dascal / Gerhardus et al. (Hrsg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin / NewYork 1996, 964—989) am Ende des 20. Jahrhunderts.

Programmatische Manifeste dieser Annäherung und Verbindung von hermeneutisch-dialektischer Begriffslogik und formalisierter mathematischer Logik in der Perspektive einer epistemischen (= erkenntnistheoretischen) Logik legten vor Hintikka (Socratic Questions, Logic and Rhetoric. In: Revue Internat.de Philosophie 47 (1993), 5—30, und ders.: Strategic Thinking in Argumentation and Argumentation Theory. In: Revue Internat. de Philosophie 50 (1996), 92—130) von Seiten der formalisierten Logik; und S. Toulmin (Rationality & Reasonableness. From Propositions to Utterances. In: Revue Internat. de Philosophie 50 (1996), 297—305) von Seiten der Hermeneutik und Rhetorik. Der italienische Kantexperte C. La Rocca rekonstruiert diese neue Synthese direkt in der Architektur der kantischen Transzendentalphilosophie als Verbindung von formaler Logik, transzendentaler Logik und erkenntnistheoretischer Logik. Letztere umfasst bei La Rocca die intensionale Logik möglicher objektiver Welten und die epistemische Logik der Subjektwelten. Vgl. dazu Esistenza e giudizio. Linguaggio e ontologia in Kant, Pisa 1999. Die entwickelteste psychologische Theorie der Kognition: Guilfords Strukturmodell des Intellekts, konvergiert gleichfalls sachlich mit obigen Tabellen. Eine weitergehende Erörterung o.g. Schichten und Felder des Denkens und Erkennens bietet das Menu Philosophie der Logik.

Platon: Der Ideengeber

A. N. Whiteheads Formulierung "Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht" (Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt 1979, 91 [engl. Orig.: Process and Reality. An Essay in Cosmology, 1929]) ist zu einem geflügelten Wort geworden. Es ist cum grano salis richtig. Neben "persönlichen Begabungen" sieht Whitehead als entscheidende Ursachen Platons "Beerbung" einer großen interkulturellen "philosophischen Tradition" und "seine Erfahrungsmöglichkeiten in einer großen Phase der Zivilisation" (ebd.). In letzterer Hinsicht hatte Platon (427—347 v.C.) Anteil an der explosionsartigen politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Dynamik der griechischen Weltmetropolen Athen und Syrakus. In ersterer Hinsicht verdankt Platon sehr viel dem großen Mathematiker, Philosophen und spirituellen Reformer Pythagoras, der seinerseits in persönlichen Studienaufenthalten die bahnbrechenden mathematischen, astronomischen, technischen Errungenschaften der ältesten Hochkulturen und Wissenschaftszentren Ägypten und Babylonien kennen gelernt und verarbeitet hatte.

Aber auch die platonische Akademie selbst "war damals geradezu der Brennpunkt einer orientalisierenden Strömung, die ... von hoher, lange nicht genug gewürdigter Bedeutung ist" (W. Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923, 133), deren Hauptvertreter Eudoxos, Hermodoros, Platons Sekretär Philippos und nicht zuletzt Aristoteles (vgl. ebd. 130—131) waren. Sie interessierten sich außer für das astronomische Wissen des Orients besonders für den iranischen oder "parsischen religiösen Dualismus" und die "Ethik Zarathustras [...] Für Zarathustra und die Lehre der Magier [herrschte] in der Akademie starkes Interesse" (ebd. 134). Jaeger spricht sogar von der "Zarathustrabegeisterung der Akademie" Platons: Für den jungen Aristoteles waren Zarathustra und Platon zwei gleichberechtigte Giganten des Geistes (ebd. 135—136). Diese iranische und chaldäische Tradition stand ihrerseits in Austausch mit dem indischen Brahmanismus und den jahrtausendealten philosophischen Traditionen und Systemen Indiens, welche bekanntlich das gesamte, im Westen vorhandene Spektrum philosophischer Positionen umfassen.

Platon [WikiCommons]Die gegenwärtig vielleicht einflussreichste Darstellung des Platonismus und dies durchaus im internationalen Maßstab, ist Arbogast Schmitt: Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, 2. Aufl. Stuttgart 2008, 596 S. [chines.: Shanghai 2009; engl.: Modernity and Plato. Two Paradigms of Rationality, Rochester, NY 2012]. Es handelt sich um eine diachrone und fachübergreifende Rekonstruktion mit systematischem Anspruch, welche konkurrierende philosophische und wissenschaftstheoretische Ansätze (Descartes, Kant, Hegel, Carnap, Gadamer u.a.) mit den platonischen Einsichten und Argumenten konfrontiert und von denselben her der Kritik unterzieht. Die Kernthese des Buches rekonstruiert die zentralen — und wie die Geschichte der Analytischen Philosophie ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. gezeigt hat: sachlogisch unverzichtbaren — Einsichten der platonischen Philosophie im modernen Horizont. Das ist die unbestreitbare Stärke und Leistung des Buches. Es ist ein Plädoyer für die bleibende wissenschaftliche und praktische, lebensweltliche Relevanz des Platonismus und eine Offenlegung der systematischen Defizite bei Ignorierung desselben, etwa im Hellenismus, Empirismus, Cartesischen Rationalismus oder in der Analytischen Philosophie. Das Buch zeigt in vielen Rücksichten: Das Vernachlässigen der platonischen Kerneinsichten ist nur um den Preis von Paralogismen und Inkonsistenzen möglich. Oder wie die Neue Zürcher Zeitung (05.07.2003) rezensierte: "Sind unsere geistigen Fundamente möglicherweise ziemlich schlampig gelegt, sollten wir die Auseinandersetzung mit Platon (und auch mit Aristoteles) noch einmal in extenso führen?" [Bild links: Platon, antike Büste]

Das Plädoyer hat m.E. allerdings auch methodische Schwächen, welche geeignet sind, dessen Überzeugungskraft nicht wenig zu beeinträchtigen. Diese Schwächen bestehen darin, dass die zentrale These und Argumentation des Buches nicht selten wie ein Prokrustesbett zum Einsatz kommt, dem Gegeninstanzen und alternative Interpretationen zum Opfer fallen. Das Buch zieht daher in nicht wenigen Passagen und Thesen den Verdacht oder gar das Verdikt auf sich: Qui nimis probat, nihil probat / Wer zuviel beweist, beweist nichts. Dies gilt z.B. für die sehr großzügige Gleichsetzung von Platonismus und Aristotelismus. Auch ich bin überzeugt, dass unbeschadet der starken Kritik an seinem Lehrer Platon Aristoteles‘ Ansatz einen harten platonischen Kern festhält, aber Aristoteles und sein scholastischer Erneuerer Thomas Aquinas würden gegen o.g. Arbeitshypothese ihrer faktischen Gleichsetzung mit Platon dennoch heftigen Widerspruch einlegen.

Ein weiterer Punkt ist die These zu Johannes Duns Scotus, dem zweiten großen Aristoteliker der Scholastik, wonach dieser der entscheidende Kontrapunkt platonischen Denkens und Urheber des neuzeitlichen Empirismus und Positivismus sei. Das kann man in dieser Form einfach schon deswegen nicht stehen lassen, weil die Mehrzahl der Scotusforscher und unter ihnen erstrangige Experten wie Étienne Gilson und Ludger Honnefelder die Quellenlage genau umgekehrt deuten. Scotus gilt vor allem und geradezu als Philosoph des Essentialismus und einer platonischen Begriffsmetaphysik.

Ein drittes und besonders ins Auge springendes Beispiel ist die Behandlung der Philosophie Kants, die über weite Passagen als negative Kontrastfolie und Gegner par excellence dient. Dies steht zunächst einmal ganz allgemein in erheblicher Spannung zu der heute in der Kantforschung verbreiteten Hypothese, dass die Logik und Metaphysik der Tradition (und die scholastische Transzendentalphilosophie) Voraussetzung und Horizont der Kritik der reinen Vernunft und des kantischen Philosophierens überhaupt sind. Dazu kommt, dass Schmitt eine ganze Reihe von Thesen zu Kants Denken und zur Interpretation seiner Schriften vorträgt, welche oft locker mit hermeneutischen Regeln umgehen, interpretatorisch schlicht irrig sind und sogar das wörtliche Gegenteil der kantischen Quellentexte behaupten können.

Das Skript bzw. die folgende Verknüpfung bietet eine Diskussion des Werkes und dient auch der Aufklärung und Korrektur dieser angesprochenen Schwächen, was schlussendlich das Anliegen des Buches nur stärkt. Denn die erkenntnis- und handlungstheoretischen Kernthemen und -einsichten des Buches sind bahnbrechend und sollten in systematischer Hinsicht so stark wie möglich gemacht werden. Ergänzend kann dies auch dadurch geschehen, indem — in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht — gezeigt wird, dass Platon direkt oder in vermittelter Form bis heute Denker und philosophische Ansätze weitaus stärker beeinflusst und prägt als das in Platon und die Moderne angenommen wird.

Die Erkenntnistheorie Platons findet ihre systematische Darstellung in der Mathematik als Universalwissenschaft [koinê mathêmatikê epistêmê / mathesis universalis], wie sie im 7. Buch der Politeia entwickelt wird. Diese 'gemeinsame mathematische Wissenschaft' wird von Platon formuliert als Basiswissenschaft für jedes theoretische und praktische Erkennen. Kernthesen sind:

In der Reflexion auf die Erkenntnisbedingungen des Seins entfaltet das Denken die Erkenntnisbedingungen der Zahl.

Begriffliche Interpretation und Identifizierung der Wahrnehmungsobjekte [= Hypothesis / Zu-Grunde-Legung der Idee] hat transzendentale Grundbegriffe zur Voraussetzung.

Die theoretische Arithmetik ist die Grundlagendisziplin für die transzendentalen Grundbegriffe wissenschaftlicher Erkenntnis.

Diese Mathesis universalis ist Ursprung nicht nur der Mathematiktheorie der Tradition, sondern auch des Wissenschaftsprogramms der Freien Künste (artes liberales).

Das folgende Skript stellt — anhand der Forschungen A. Schmitts (Marburg) und G. Uhlmanns (Berlin) — diese platonische Erkenntnisbegründung in Form der in Rede stehenden mathesis universalis vor. Das Thema resp. Skript wird auch im Menu Philosophie der Physik in naturwissenschaftlicher Rücksicht aufgegriffen und behandelt. Hier die Verknüpfung zu dem Skript  Platonische Grundlegung der Mathematik:

Aristoteles / Aquinas: Mentale Architekten

AristotelesAristoteles (384—322 v.C., Bild rechts) als wichtigster und selbstständigster Schüler Platons setzt durch die starke Betonung der Erfahrung einen neuen Akzent in der Erkenntnistheorie und wissenschaftlichen Methodologie. Er hat unter anderem zum Ergebnis, dass Aristoteles zum Begründer der meisten empirischen Realwissenschaften wird. Insbesondere ist er skeptisch hinsichtlich der zentralen Rolle, welche Platon nicht nur Ideen, sondern auch mathematischen Begriffen und Strukturen zuspricht, sowohl als Realursachen wie auch als Erkenntnisgründen. Aristoteles ist im Blick auf die ontologische Stellung der Mathematik ein sehr deflationistischer Denker, zu sehr, wie wir meinen. Aristoteles hat aber alle wissenschaftlichen Felder bearbeitet und ist bis heute maßgeblich auch für die Logik, Ontologie, Ethik, Rhetorik und Poetik. Seine bleibende Bedeutung erhellt daraus, dass wir von ihm ca. 1000 Handschriften besitzen, mehr als von jedem profanen griechischen Autor der Antike und dass Aristoteles auch heute neben Kant der meistbehandelte Autor im Fach Philosophie ist.

Einen orientierenden Überblick über den auf Aristoteles zurückgehenden — und Platon in veränderter Form weiterführenden — Ansatz der Erkenntnistheorie vermitteln die in Folge gelisteten Skripte und Übersichten. Wichtige Quellentexte sind die aristotelische Psychologie De anima, die im Organon zusammengestellten Logikschriften, v.a. die Kategorienschrift und die Wissenschaftstheorie der Zweiten Analytiken, sowie die Metaphysik. Deren wichtigste Rezeption erfolgte bekanntlich in der Scholastik des hohen Mittelalters bei Albert dem Großen (1200—1280), seinem Schüler Thomas Aquinas (1225—1274) und dessen Gegner und Kritiker Johannes Duns Scotus (1265/66—1308). Hier entfaltete Aristoteles eine bis heute reichende Wirkungsgeschichte, welche jene seiner unmittelbaren Nachfolger (Theophrastos, Straton) und die seiner spätantiken Kommentatoren (Alexander von Aphrodisias, Syrianos, Simplikios, Themistios, Johannes Philoponnos) in den Schatten stellt, aber auch die vom 9. bis 11./12. Jh. währende und dann geächtete arabische Aristotelesrezeption (Al-Farabi, Avicenna, Averroes).

Dass im Übrigen speziell Aristoteles' Metaphysik, und zwar in der produktiven transzendentalphilosophischen Rezeption Avicennas und Duns Scotus', Pate steht für Kants Kritik der reinen Vernunft, kann heute als nachgewiesen gelten: vgl. L. Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus Suárez Wolff Kant Peirce), Hamburg 1990, und mein Aufsatz Scotische Begriffsmetaphysik. Ich glaube allerdings, dass die werkimmanenten Interpretationen etwa Thomas von Aquins, Adolf Trendelenburgs, Giovanni Reales oder auch Horst Seidls dem Autor gerechter werden und Textkonsistenz und Sachkohärenz der Metaphysik plausibel machen können, auch angesichts der Kritiken Avicennas und Scotus' oder moderner Interpreten wie Werner Jaeger, Ingemar Düring und Pierre Aubenque. Wer das anders sieht, muss die brillante Verteidigung der Konsistenz der aristotelischen Lehren und Schriften widerlegen, welche Walter E. Wehrle vorlegte: The Myth of Aristoteles' Development and the Betrayal of Metaphysics, Lanham / Oxford 2001.

Die Metaphysik ist vielleicht der gedankenreichste und durchdachteste Text und vor allem kritischste Text der Philosophiegeschichte. Cicero sagt einmal:„Aristoteles longe omnibus (Platonem semper excipio) praestans et ingenio et diligentia“ — "Aristoteles überragt bei weitem alle anderen (Platon immer ausgenommen) an Begabung und Gründlichkeit." (Tuscul. disputationes I, 10). Gadamer sagt im selben Sinn: "Gerade die Allseitigkeit, mit der Aristoteles die Phänomene zu beschreiben versteht, macht sein eigentliches Genie aus." (Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, 322).

Niemand hat in der Nachfolge Sokrates' und Platons den methodischen Zweifel in Lehre und Forschung so stark gemacht wie Aristoteles. Subjektive Skepsis und objektive Aporien sind epistemische resp. sachliche Leitlinien seiner Vorlesungen und Veröffentlichungen. Kants Kritik der reinen Vernunft wirkt im Vergleich dazu öfters geradezu dogmatisch. Und besonders deutlich zeigt das die Metaphysik. Sie beginnt nach informeller Einführung und Forschungsbericht (Buch A / a) mit einer Liste von ungelösten Schwierigkeiten oder Aporien (Buch B), die in Folge abgearbeitet werden. Das Vorgehen wird wissenschaftstheoretisch damit begründet, dass

"Wissenschaft mit methodischem Zweifel beginnen muss [...] Wer zur richtigen Einsicht gelangen will, muss gründliche Skepsis üben, denn nur so kann er die Probleme, Widersprüche und falschen Alternativen überhaupt identifizieren, für die die späteren Einsichten Lösungen bieten. Man kann keine Lösung finden, wenn man das Problem nicht kennt. Der Zweifel ist Indiz für das sachliche Problem und man muss im Interesse der Sache soweit möglich alle jeweils hereinspielenden Schwierigkeiten in den Blick bekommen [...] Forschung ohne vorausgehenden Zweifel gleicht Wanderen, die das Ziel nicht kennen und deswegen nicht einmal erkennen, wann sie dasselbe erreicht haben und wann nicht [...] Ein das Pro und Contra kritisch abwägender Wissenschaftler entspricht dem Richter, der zur optimierten Urteilsfindung die Argumente beider gegnerischer Parteien angehört hat." (Metaphysik B 1. 995a, 24—995b 4)

Nicht nur die neuzeitliche Ontologie und Metaphysik hat ausgesprochen erkenntnistheoretischen Charakter, sondern auch Aristoteles' Metaphysik. Das wird oft übersehen, da Letztere "gefühlt" eher als eine Metatheorie der Physik der materiellen Welt im Bewusstsein steht. Nichts ist falscher. Die Metaphysik des Aristoteles ist nur und genau durch Erkenntniskritik methodisch kontrollierte Ontologie der Substanzen = lebender, erkennender und handelnder Subjekte: (i) Biophilosophie und (ii) Philosophie des Geistes einschließlich der (iii) Theologie als Philosophie des göttlichen Seins, Lebens und Geistes

Der Inhalt der Metaphysik lässt sich konsistent wie folgt wiedergeben: Ihr Gegenstand ist das, was alle Einzelwissenschaften unreflektiert voraussetzen: das Sein [ihrer Forschungsgegenstände] als Sein und zwar sowohl qua Dasein oder Existenz als auch qua Sosein oder Wesen. Das Sein wird identifiziert als vielschichtiger, analoger Begriff, dessen Prototyp und Vollform die Substanz als selbststängige natürliche Existenz ist, also als biologische oder spirituelle Lebensform. Diese und nur diese Lebensformen sind Substanzen, nach deren Erkenntniskriterien und Realursachen gefragt wird. Erkenntniskriterien sind die universellen (= transzendentalen), speziellen (= kategorialen) und genetischen (= modalen) Grundbegriffe sowie die kognitiven Grundsätze oder Axiome (Identitäts- und Nichtwiderspruchsprinzip, Prinzip des ausgeschlossenen Dritten). Realursachen der Substanzen sind (i) die organisierende Struktur / Form, (ii) der zugrundeliegende Stoff, (iii) die Wirkursache(n) und (iv) der Zweck / Teleologie. Der Fehler der Vorsokratiker war die materialistische Reduktion des Seins auf den Stoff und physikalische Wirkursachen. Der Fehler der Pythagoräer und Platoniker ist die idealistische Identifizierung des prototypischen, substantiellen Seins mit mathematischen Strukturen und begrifflichen Ideen. Archetyp substantiellen Seins und Hochziel endlicher Substanzen ist "Gott, das ewige, beste Lebewesen" (Λ 7).

Es ist nicht falsch zu sagen, dass Aristoteles Metaphysik damit insbesondere Leibniz' Metaphysik oder Monadenlehre näher steht als im Allgemeinen bewusst ist: "Das Zentrum der leibnizschen Philosophie ist die Monadenlehre. Eine Monade ist eine einfache Substanz [...] in ihrer Einheit. [...] Das Urbild von Einheit ist für die Griechen und für Leibniz der lebendige Mensch [...] Von hier aus werden zunächst alle Monaden als lebendig bestimmt. In einem kühnen Übergriff wird dann das gesamte Universum mit einem dichten Meer von Lebendigem, das heißt also mit einem dichten Meer von Monaden erfüllt [...] Reales Sein ist nur möglich als das individuelle Sein einer Monade oder einer Modifikation einer individuellen Monade " (G. Martin: Immanuel Kant: Ontologie und Wissenschaftstheorie, Berlin 41969, 1—2)   

Wichtige Eckdaten speziell zur Kognitionstheorie des Aristoteles bietet die folgende Datei:

Einen vollständigen Abriss der Erkenntnis- und Handlungstheorie des Aristoteles entwickelt dieses Skript:

Eine verlässliche Orientierung zu Aristoteles bietet auf dem neuesten Stand die Stanford Encyclopedia of Philosophy: Stichwort "Aristotle" mit zahlreichen Unterkategorien (und jeweils umfassenden Literaturangaben).

H.-G. Gadamers Grundbuch der modernen Hermeneutik mündet in einer Wiederaufnahme der scholastischen und namentlich auch thomistischen Erkenntnis- und Sprachtheorie: “Die ... Hermeneutik... führt uns, wenn wir der Sache gerecht werden wollen, in die Problemdiskussion der klassischen [scholastischen] Metaphysik zurück” (Wahrheit und Methode, 6. Aufl. 1990, 464). Thomas von Aquin (1224—1274) resp. dessen Kognitionstheorie ist der bekannteste Vertreter dieser scholastischen Problemdiskussion. Nicht zuletzt gilt dies auch für das moderne sprach- und kognitionswissenschaftliche Paradigma der Sprechakttheorie. Eine umfassende, monumentale Interpretation und Rekonstruktion der Erkenntnistheorie Thomas von Aquins als Sprechakttheorie avant la lettre bietet hier H.-G. Nissing: Sprache als Akt bei Thomas von Aquin, Leiden 2005.

Im Folgenden eine Zusammenfassung (in Form von abstracts) der kognitionstheoretischen Analysen Thomas Aquinas' in der Summa theologica [Prima pars, Quaestiones 84—88]. Die Zusammenfassungen stammen aus dem Gang meines Seminars: „Die Erkenntnistheorie Thomas von Aquins“ am Fachbereich I — Philosophie der Universität Trier (WS 2005/06). Sie sprechen auch die wissenschaftsgeschichtlichen Vorlagen der Kognitionstheorie Thomas von Aquins bei Plato, Aristoteles und Augustinus an sowie deren ontologische Voraussetzungen. Die Zusammenfassungen (abstracts) können hier eingesehen werden. In deren Überschriften meint der Ausdruck 'materielle Gegenstände' unmittelbar und vorrangig sinnlich wahrnehmbare Lebensformen oder Organismen:

Summa theologica, Prima pars, Quaestio 84: Prinzipien und Systemstelle der Erkenntnis der materiellen Gegenstände:

Summa theologica, Prima pars, Quaestio 85: Aspekte und Prozessstufen der Kognition materieller Gegenstände:

Summa theologica, Prima pars, Quaestio 86: Die Reichweite der menschlichen Kognition materieller Gegenstände:

Summa theologica, Prima pars, Quaestio 87: Definition und Reichweite der Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes:

Summa theologica, Prima pars, Quaestio 88: Diskussion der Möglichkeit direkter oder indirekter Erkenntnis immaterieller Gegenstände (Substanzen) und der Ersten Ursache (Gott):

Eine schematische Übersicht zur Struktur und Ontologie des Erkenntnisprozesses nach (Aristoteles und) Thomas von Aquin bietet die folgende Präsentation. Sie hebt auch das vielschichtige Verhältnis der scholastischen zur subjektphilosophischen und speziell kantischen Erkenntnis- und Wahrheitstheorie ins Relief. Außerdem legt sie die sachlichen und terminologischen Entsprechungen in der interdisziplinären Kognitionsforschung der Gegenwart dar:

Ein ergänzendes Diagramm zur Genese und Dynamik des Erkenntnisprozesses nach (Aristoteles und) Thomas von Aquin entwickelt folgende Präsentation:

Eine weiterführende Plattform zur Philosophie von Thomas Aquinas bietet das Thomas-Institut der Universität zu Köln.

Locke / Berkeley / Hume: Alternatives Bauen

G. Berkeley [WikiCommons]George Berkeley (1685—1753, Bild links) veröffentlichte 1709 die Wahrnehmungstheorie An Essay towards a New Theory of Vision und entwickelte auf dieser Grundlage 1710 seine Kognitionstheorie A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge. Dieses erkenntnistheoretische Programm ist eine Auseinandersetzung mit und Verschärfung von John Lockes epochalem Essay Concerning Human Understanding (1690). Daneben steht der occasionalistische Idealismus Nicole Malebranches Pate (Recherche de la Vérité, 1685), dessen platonisch-augustinistischem Standpunkt sich namentlich Berkeleys Spätphilosophie annähert. Beide Traditionslinien stehen selbstverständlich im Horizont des bewusstseinsimmanenten Ansatzes René Descartes' (Meditationes de Prima Philosophia, 1641).

Überhaupt kann man sagen, dass in der europäischen Neuzeit nicht Descartes der wirkliche Vertreter und Prototyp einer idealistischen Bewusstseinsphilosophie ist, sondern Berkeley. Für Descartes war der Idealismus eine Herausforderung, ein skeptisches Problem, das er glaubte überwinden und als fehlgeleitet dartun zu können. Für Berkeley ist der konsequente Idealismus ein voll bejahtes Programm und Beweisziel. Diesen Unterschied hat Kant sehr gut gesehen.

Aber Berkeley ist im Gegensatz zur rationalistisch ausgerichteten kontinentalen Bewusstseinsphilosophie auch Empirist und sogar Sensualist. Und wiederum ist es eigentlich Berkeley, der als Vater und Prototyp des neuzeitlichen Empirismus anzusprechen ist, nicht Locke, dazu ist dieser bei aller Polemik in der Sache viel zu sehr Aristoteliker. Dies erhellt bereits aus einer ersten Bestandsaufnahme von John Lockes Erkenntnistheorie: An Essay Concerning Human Unterstanding (1690). Hierzu kann die folgende Verknüpfung eingesehen werden:

Aber auch David Humes Philosophie ist nicht als Ursprung und Prototyp des neuzeitlichen Empirismus anzusprechen. Denn Hume bekennt offen, dass er die wesentlichen Anstöße und Argumente Berkeley verdanke. Dies klingt angesichts der entgegengesetzten Standpunkte Berkeleys (prophetischer Theismus) und Humes (agnostischer Skeptizismus) paradox, wird aber durch folgende Bemerkung Humes verständlich: „In der Tat bilden die ... Schriften jenes hochbegabten Verfassers [Dr. Berkeley] die beste Anleitung zum Skeptizismus, die sich bei alten und neuen Philosophen ... finden lässt. Er erklärt desungeachtet ... vollkommen aufrichtig, dass er [seine Schriften] sowohl gegen Skeptiker als gegen Atheisten und Freidenker gerichtet habe" (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, XII, 1, Anm.).

Die Theory of Vision nun erörtert die Beziehung zwischen Gesichts- und Tastwahrnehmung und bietet die ausführlichste Untersuchung der primären Sinnesqualitäten (distance — magnitude — situation — number — figure — motion) in der philosophischen Erkenntnistheorie. Diese räumlichen und zeitlichen Charakteristiken der Wahrnehmungsobjekte werden seit dem 17. /18. Jh. als sog. primäre Qualitäten der Gegenstände bezeichnet. Der Vater der modernen Chemie, Robert Boyle und sein Freund John Locke, der Vater der neuzeitlichen empiristischen Erkenntnistheorie, haben sie so genannt. Sie wurden zum ersten Mal durch Aristoteles unter dem Namen Gemeinsame Wahrnehmungen (aisthetà koiná) systematisch untersucht. Berkeleys Theory ist ein philosophischer Grundtext, der die empiristische Wahrnehmungstheorie besonders folgerichtig darstellt. Auf ihn stützt sich Humes Inquiry Concerning Human Unterstanding (vgl. XII, 1), und an ihn knüpft bis heute auch die experimentelle Forschung und Theoriebildung an.

Zustimmende Aufnahme erfuhr und erfährt er außer bei Hume in der Common-sense-Philosophie, bei J. S. Mill, E. Mach, in der analytischen Sprachphilosophie, sowie heute im Konstruktivismus: „Modern Phänomenologie ... offers ... 'Berkeley without God' [...] The linguistic Phenomenalism of A. J. Ayer [and] Mach's positivist account of natural philosophy as the study of uniformities and regularities amongst our sensations shows ... the lasting influence of Berkeley." (Roger Woolhouse, Introduction. In: G. Berkeley: Principles of human Knowledge and Three Dialogues between Hylas and Philonous, London / New York et al. 1988, 28-29). Auch A. Schopenhauers opus magnum Die Welt als Wille und Vorstellung beruft sich einerseits auf die indische Vedantaphilosophie und das fernöstliche buddhistische Denken, andererseits auf Plato, Kant und Berkeley (Buch I, § 1). Bekannte und führende Vertreter des neuzeitlichen Materialismus anerkannten gleichfalls die von Berkeleys Argumenten ausgehende, unerledigte Herausforderung: „Karl Marx ..., Vladimir Lenin ..., and Friedrich Engels ... acknowledged that their conception of reality as something separate ... from the [mental] ideas ... is theoretically problematic in just the ways suggested by Berkeley" (Woolhouse a.a.O. 1988, 28).

Auf der anderen Seite hat die von Karl Popper ab 1960 mit Donald D. Campell begründete Evolutionäre Erkenntnistheorie als Feindbild Nr 1 Berkeleys, Humes und Machs Phänomenalismus oder auch Presentialismus, wie Popperianer gerne sagen. Eine exzellente Darstellung dieser Position und von deren Kritik an Berkeley etc. ist G. Radnitzky / W. W. Bartley III (eds.): Evolutionary Epistemology, Rationality, and the Sociology of Knowledge, La Salle, Illinois 3. Aufl. 1993. Der Band vereint die wichtigsten Gründungstexte der Evolutionären Erkentnnistheorie. Die folgenden Skripte zur interdisziplinären Diskussion von Berkeleys zentralen Theoriestücken beziehen durchgängig die Argumente beider Standpunkte mit ein. Eine Orientierung über den Gedankengang dieser Diskussion vermittelt diese Übersicht zu meinem Interdisziplinären Kommentar zur "New Theory of Vision".

Die folgenden Verknüpfungen bieten eine interdisziplinäre Diskussion der Thesen Berkeleys zu den primären Sinnesqualitäten. Sie sind auch Bestandteil des Menus Biologische Psychologie, wo Berkeleys Theory wegen ihres sehr klaren logischen Aufbaus als Leitfaden für die Diskussion der Entfernungs-/Raum-, Größen-, Lage- und Bewegungs-/Zeitwahrnehmung Verwendung findet. Dies um so mehr als, wie erwähnt, auch die Psychologie und Neurowissenschaft der Gegenwart sich stark auf Berkeleys Theorie beziehen.

Skript zur fachübergreifenden Erörterung von Berkeleys Theorie der  Entfernungswahrnehmung:

Skript zur fachübergreifenden Erörterung von Berkeleys Theorie der  Größenwahrnehmung:

Skript zur fachübergreifenden Erörterung von Berkeleys Theorie der  Lagewahrnehmung:

Skript zur fachübergreifenden Erörterung von Berkeleys Theorie der  Bewegungswahrnehmung:

Die folgende Datei fasst Berkeleys erkenntnistheoretisches Gesamtprogramm in einem Thesenpapier zusammen. Grundlage ist Berkeleys literarische Aufbereitung seines Ansatzes in den Three Dialogues between Hylas and Philonous von 1713.

Kant: Kritische Bestandsaufnahme

Systematische Architektur der Kritik der reinen Vernunft

Meine philologisch-historischen wie systematischen Forschungen (1993—2002) zu Kants kritischer Philosophie mündeten in der Forschungsmonographie:

Natterer, Paul: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. Interdisziplinäre Bilanz der Kantforschung seit 1945. [Kantstudien-Ergänzungsheft 141, hrsg. im Auftrag der Kant-Gesellschaft]. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2003. XX + 826 S.

Die in Folge eingefügte PDF-Datei (Mind_Map_Kant) bietet eine Übersicht über diese systematische Rekonstruktion des Aufbaues und der Abläufe des menschlichen Denkens und Erkennens.

Der Systematische Kommentar ist das seit ihrer Gründung 1904 umfangmäßig größte Werk der Kantstudien-Ergänzungshefte, der international erstrangigen Monographienreihe zur Kantforschung. Obwohl dementsprechend auch der hochpreisigste Band der Edition, wurde das Buch nach seinem Erscheinen sofort für ein Jahrzehnt das meistverkaufte Werk der Reihe. Auch die Aufnahme des Buches in der Fachwelt war im Allgemeinen sehr erfreulich, wie Besprechungen und sonstige Stellungnahmen zeigen: siehe nächster Abschnitt.

Ich bedauere es, dass die redaktionelle Schlussphase wegen Zeitdruck nicht mit der Gründlichkeit abgewickelt werden konnte, wie ich sie für wünschenswert gehalten hätte. Der Grund war eine unvorhergesehene Terminänderung der Drucklegung aus übergeordneten verlegerischen Rücksichten. Dies betrifft neben einigen — sachlich irrelevanten — Formalien auch die Präzision und Korrektheit der einen oder anderen sachlichen Argumentation. Wo geboten, habe ich entsprechende Fehlstellen auf dem vorliegenden Netzportal bzw. in meinen weiteren Buch- und Aufsatzveröffentlichungen zur kantischen Philosophie korrigiert und behoben.

Dennoch glaube ich, dass der Systematische Kommentar insgesamt eine systemimmanente Rekonstruktion der kantischen Theorie entwickelt, deren interpretatorische Gründlichkeit, Vollständigkeit und Kohärenz sich in dieser Kombination so andernorts nicht findet und deren Potential sich in der Zukunft noch weiter entfalten und durchsetzen wird. Auch meine ich, dass das Werk im Blick auf die systematische Evaluation der kantischen Theorie ebenfalls ein doppeltes und zukunftweisendes Alleinstellungsmerkmal aufweist: einmal die Zusammenstellung der hierfür einschlägigen fachübergreifenden Datenbasis und zum anderen die methodische Erfassung der abzuarbeitenden Einzelfragen.  

Besprechungen

„Der systematische Anspruch ist grundlegend [...] mit [s]einer ... imponierenden, auf einer stupenden Kenntnis der Literatur beruhenden Zusammenfassung und Bewertung sowie Inbeziehungsetzung und kritischen Diskussion einer Unzahl von Einzelarbeiten zur KrV [...] Eine außerordentlich anspruchvolle, ungemein detaillierte und auf fast alle Probleme, die in der einschlägigen Literatur behandelt sind, eingehende, imposante Neuinterpretation der KrV [...] So ist der erste in sich relativ abgeschlossene Teil über die formale Logik eine ungemein lehrreiche Darstellung des gegenwärtigen Stands der Diskussion der kantischen Logik als einer, wie Natterer treffend sagt, allgemeinen Grammatik des Denkens, die zugleich auch im Blick auf die moderne Behandlung der damit zusammenhängenden Probleme eine sachliche Beurteilung des kantischen Ansatzes bringt [...] Natterers ... umfangreicher und vollständiger Kommentar ist fortan für jede Beschäftigung mit der KrV unverzichtbar.” (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 52 [2004], 1015—1019 / H.-G. Hoppe)

Der Autor “bemüht sich, durch eine vereinheitlichende Interpretation vielerörterte Forschungsdifferenzen und Aporien aufzuklären. So bestätigt er die hermeneutische Einsicht, dass, wer einen Autor stark macht, er in der Regel sowohl über den Text als auch die Sache mehr herausbringt, als wenn er eilfertig Ungereimtheiten und Widersprüche aufsucht” (Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 58 [2004],162 / O. Höffe)

"Een omvattende commentaar op een van de grootste boeken uit de geschiedenis van de wijsbegeerte! [...] Inderdaad is zijn prestatie fenomenaal, zowel wat betreft de veelheid van het bijeengebrachte en... gerecipieerde materiaal als wat betreft de eisen die aan de beheersing hiervan worden gesteld. Het blijft trouwens niet bij een commentaar. Natterer doet er noeg een schep bovenop door kants metatheorie van het interdisciplinaire cognitieonderzoek ... tegen de achtergrond en in het kader van hedendaagse cognitiedenken te belichten." ["Ein umfassender Kommentar zu einem der größten Werke aus der Geschichte der Philosophie [...] In der Tat  ist seine Leistung phänomenal, sowohl betreffs der Fülle des beigezogenen und ... rezipierten Materials als auch hinsichtlich der Anforderungen, die an dessen Beherrschung gestellt werden. Dies wird von keinem anderen Kommentar erreicht. Natterer übertrifft dies aber noch einmal durch die Herausarbeitung von Kants Metatheorie der interdisziplinären Kognitionswissenschaft ... auf dem Hintergrund und im Rahmen der gegenwärtigen Kognitionsforschung."] (Tijdschrift voor Filosofie, Jg. 66 [2004], 356—357 / E. O. Onnasch)

„Der Kommentar ... liefert erstmals eine vollständige systematische Darstellung und Auswertung der gesamten deutschsprachigen und angelsächsischen Literatur zu diesem Hauptwerk der Philosophie. Er stellt somit für die Kantforschung ein wichtiges einzigartiges Nachschlagewerk zur Interpretation und zur enormen Wirkungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft bereit.” (Geschäftsführende Leitung des Philosophischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 25.07.2003 / Prof. Dr. Elke Brendel)

"Dr. Natterer, selbst Mitglied unserer Gesellschaft, hat in jahrelanger konzentrierter Forschung die vielleicht anspruchsvollste wissenschaftliche Aufgabe im Zusammenhang des Hauptwerkes Immanuel Kants in Angriff genommen, einen die Forschungsliteratur aufarbeitenden und integrierenden vollständigen Kommentar. Die Kant-Gesellschaft nimmt mit Freude zur Kenntnis, dass damit ein Vermächtnis ihres Gründers, Prof. Hans Vaihingers, zu einem vorläufigen Abschluss gebracht wurde, dem nicht beschieden war, einen solchen von ihm in Angriff genommenen Kommentar zu vollenden." (Prof. Dr. Bernd Dörflinger, Universität Trier, 1. Vorsitzender der Kant-Gesellschaft, 01.08.2003)

Um "die geistesgeschichtliche, in der Aufklärung wurzelnde Bedingtheit moderner Interpretationsvoraussetzungen aufzuzeigen [...] ist die KrV ... ideal geeignet. Dem Nichtspezialisten ist jedoch ein sinnvoller, den gesamten Problemhorizont berücksichtigender Umgang mit dieser Schrift nicht möglich ohne ein Hilfsmittel, wie der ... systematische Kommentar Natterers es bietet [...] Das Fehlen einer kompetenten, umfassenden und systematischen Kommentierung der für die Neuzeit zentralen Schrift [wurde] von mir schon lange als hinderliches Desiderat schmerzlich empfunden" (Institut für Klassische Philologie der Westfälischen Wilhelms-Universität, 30.07.2003 / Prof. Dr. Christian Pietsch, Sprecher der Graduiertenschule Europäische Klassiken / European Classics (GSEC))

"Bahnbrechendes interdisziplinäres Kommentarwerk zur theoretischen Philosophie Kants [...] Eine über die Fachphilosophie hinausgehende Zielgruppe des vorliegenden Werkes ist sicher auch die Psychologie. Insbesondere gilt dies für die Forschungsbereiche Kognition und Bewusstsein". (Psychologisches Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 21.07.2003 / Prof. Dr. Gerhard Vossel)

"Für die Kognitionspsychologie ist Kants Kritik der reinen Vernunft die Metatheorie schlechthin. Es fehlt aber genau der Kommentar mit einer Verknüpfung zur Bio- und kognitiven Psychologie, den Sie geschrieben haben ... um Psychologiestudenten in dieses schwierige Gebiet einführen zu können." (Psychologisches Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 07.08.2003 / Prof. Dr. Jürgen Bredenkamp, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie)

Eine gegenläufige Besprechung im AGPh 86 (2004) fußt auf einer großen Anzahl unrichtiger Tatsachenbehauptungen, die den Verdacht nur schwer unterdrücken lassen, dass der Rezensent von dem zu besprechenden Werk lediglich bruchstückhaft und kursorisch Kenntnis genommen hat. Ich habe deswegen für richtig erachtet, der Redaktion eine Richtigstellung zugehen zu lassen. Diese kann hier eingesehen werden.

Methodik und Aufbau

Immanuel Kant [KFS Mainz]Methodisches Leitprinzip dieses systematischen Kommentars zur Kritik der reinen Vernunft ist die schrittweise Rekonstruktion der Entstehung und des Aufbaues der Kognition. Dies besagt, dass ein fortlaufender Kommentar zur gesamten Theorie der Erfahrung angestrebt wurde, der der Gliederungsvorgabe der Kritik der reinen Vernunft und der Nachfolgeuntersuchungen Prolegomena, Metaphysische Anfangsgründe der mathematischen Naturwissenschaft (MAN), Kritik der praktischen Vernunft (KprV) und Kritik der Urteilskraft (KU) folgt, und Anthropologie, Logik und Metaphysikvorlesungen der kritischen Epoche vollständig auswertet und einbezieht. Methodisch ist er jedoch vorrangig dem sachlichen, nicht dem sprachlichen (philologischen) Interesse verpflichtet, d.h. er folgt nicht Satz für Satz dem Wortlaut der Kritik der reinen Vernunft, sondern der Entwicklung und dem Aufbau oder der Architektonik der Kognition in der kantischen Theorie. Das bedeutet keinen Abstrich an der gewissenhaften Besprechung und Auslegung der Texte. [Bild links: Immanuel Kant, 1724—1804, Miniatur von Carle Vernet 1795 (Ausschnitt). Nach einem Porträt von 1792. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum]

Wenn man so will, ist dies die Umsetzung der von Kant in der KrV selbst gewählten synthetischen, progressiven (deduktiven) Methode im Ausgang vom geistigen Organismus der Vernunft (KrV B XXIII) und absteigend bis zu den empirischen Tatsachen und realwissenschaftlichen Anwendungen. Dieses auch von unsgewählte prinzipiengesteuerte (top-down-)Verfahren ist mithin das Gegenteil der analytisch-rekursiven Methode der Prolegomena. Unter dem Vernunftprinzip versteht Kant — entgegen einer verbreiteten Vorurteilsstruktur — keinen abstrakten logischen Appararat, sondern ein hierarchisch und dynamisch organisiertes System des Geistes qua hochstufiges teleologisches Lebensprinzip (vgl. Dörflinger, B.: Das Leben theoretischer Vernunft, Berlin / New York 2000; Rescher, N.: Kant and the Reach of Reason: Studies in Kant's Theory of Rational Systematization, Cambridge 2000).

Dieses methodische Leitprinzip macht einerseits erforderlich, einschlägige Texte außerhalb der KrV als solche einzubeziehen, nämlich die formale Logik insbesondere der Kant-Jäsche-Logik (Kap. 3 bis 5) und die Kritik der Urteilskraft (Kap. 23). Es legt andererseits nahe, einen größeren Textabschnitt der KrV selbst, nämlich die Transzendentale Methodenlehre nicht eigens zu behandeln, sondern fortlaufend mit zu berücksichtigen. Ein technischer Grund hierfür liegt in der Vermeidung von Verdopplungen, da viele Abschnitte der Methodenlehre Parallelen zu Argumenten bzw. Lehrstücken der Elementarlehre sind. Der tiefere Grund ist dieser: Die Anwendung der Methodenlehre oder praktischen Logik als allgemeiner Wissenschaftstheorie (KrV B 736) auf die KrV als Ganze ergibt genau und ohne weiteres einen solchen systematischen Kommentar zur KrV als sachliche Entwicklung, systematische Architektonik und wissenschaftsgeschichtliche Verortung der menschlichen Kognition:
„Ich verstehe also unter der transzendentalen Methodenlehre die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft. Wir werden es in dieser Absicht mit einer Disziplin, einem Kanon, einer Architektonik, endlich einer Geschichte der reinen Vernunft zu tun haben“ (KrV B 735—736). Denn Kant hatte nach seinen eigenen Worten in der gesamten KrV bis zur Methodenlehre, d.h. „in der transzendentalen Elementarlehre“ nur und genau „das Bauzeug überschlagen und bestimmt“ und den „Vorrat an Materialien“ zu einer Theorie der Kognition begutachtet (KrV B 735).

Eine Liste der Errata zu diesem Werk kann hier eingesehen werden.

Weiterführende Informationen zu Kant und zur Kantforschung bietet die Kant-Forschungsstelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und darüber hinaus die Seite der North American Kant Society (NAKS), Emerson College, Boston und Boulder, CO.

Spezialbibliographie: Kritik der reinen Vernunft

Über die folgende Verknüpfung können Interessierte darüber hinaus eine aktuelle internationale Arbeitsbibliographie zu Kants Kritik der reinen Vernunft herunterladen. Sie ist die einzig verfügbare Spezialbibliographie zum erkenntnistheoretischen Hauptwerk Kants und der modernen Philosophie überhaupt. Die Bibliographie umfasst ca. 2000 Titel auf 70 Seiten und kann von 1896 bis heute (2010) praktische Vollständigkeit in internationaler Hinsicht beanspruchen: Sie umfasst ca. 85 % der Literatur zur KrV des Zeitraums, der seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts durch eine quantitative Explosion der Kantforschung und -literatur gekennzeichnet ist. Alle irgendwie wichtigeren Veröffentlichungen sind vollständig erfasst. Das Jahr 1896 markiert bekanntlich den Beginn der modernen Phase der Kantphilologie und Kantforschung. Historisch-philologisch wird sie eingeleitet durch den Beginn der Kritischen Gesamtausgabe der Kantischen Schriften (Akademieausgabe) im Jahre 1896; systematisch-exegetisch ist das Jahr 1896 das Gründungsjahr der Kant-Studien als Forum und Fokus der modernen Kantforschung.

Für den Zeitraum von 1781—1896 deckt die Spezialbibliographie ebenfalls alle wichtigen Veröffentlichungen ab, erfasst statistisch jedoch schätzungsweise bisher lediglich ein Drittel der Gesamtliteratur. Ihre bibliographische Basis ist die von mir im Rahmen meiner Kantstudien erstellte Spezialbibliographie zur Kritik der reinen Vernunft seit 1945 sowie die Internationale Kant-Bibliographie 17461990 der Kant-Forschungsstellen der Universitäten Trier und Mainz, deren 2007 veröffentlichten Teilband für den Zeitraum 1896—1944 ich ebenfalls vorbereitet und bearbeitet habe.

Ich habe diese Spezialbibliographie auf Ersuchen aus der Fachschaft Philosohie der Universität Trier zusammengestellt und zugleich als Arbeitsbibliographie für Studierende der kantischen Philosophie optimiert: Sie enthält bibliographische Bewertungen (Siglen) mit folgenden Klassifikationen: einführend — wichtig — grundlegend — sehr gut einführend — erstrangig wichtig.

Detlev Thiel hat in einer Besprechung der o.e. Internationale Kant-Bibliographie 1896—1944 Sinn und Zweck solcher aufwändiger bibliographischer Projekte gut deutlich gemacht, dass dadurch nämlich "ein repräsentatives, angemessenes Bild der Kantrezeption möglich wird [...] Literaturkenntnis schützt ... vor Neuentdeckung: Man schlage nach und lasse durch vermeintlich 'bloß' historische Details seine genialen systematischen Ansichten korrigieren! [... Eine] Bibliographie [leistet] weit mehr als bloß verstaubten und oft entlegenen Papierkram zu dokumentieren. Sie regt an zu Fragen nach der Genese, der Struktur und der praktischen Relevanz" des dokumentierten Autors oder Themas (Philosoph. Literaturanzeiger 60 (2007), 311—313). 

Auf dieser Verknüpfung kann eine PDF-Version der Spezialbibliographie heruntergeladen werden:

Forschungsschwerpunkte zur KrV 1995—2010

Auf der folgenden Verknüpfung [KrV_Thesen_Literatur_1995_2010.pdf] habe ich Forschungsschwerpunkte und Hauptthesen der jüngsten Kantforschung zur Kritik der reinen Vernunft notiert [letzte Aktualisierung Januar 2010]. Zu jeder These ist eine repräsentative Literaturliste als Beleg beigegeben. Es ist keine Liste konkreter argumentativer Resultate, sondern lediglich von 'Makro'-Tendenzen und -Einsichten. Die Übersicht kann von Nutzen sein als ein skizzenhafter Literaturbericht zur jüngsten Forschung zur KrV. Die häufigsten vorkommenden Abkürzungen für Zeitschriftentitel sind diese: AZPh = Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (Stuttgart); JHPh = Journal of the History of Philosophy (Baltimore); KRev = Kantian Review (Cardiff); KS = Kant-Studien (Berlin/New York); KSb = Kantovskij Sbornik (Kaliningrad); StKa = Studi Kantiani (Pisa); StudKant = Studia Kantiana (Santa Maria, RS, Bras.). Für die Auflösung weiterer Zeitschriftensiglen siehe den Bibliographischen Informationsdienst der Kantforschungsstelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf www.kant.uni-mainz.de/.

Fichte / Schelling / Hegel: Platonische Kernsanierung

 Große Vereinheitlichung

J. G. Fichtes (1762—1814) Werk ist die wichtigste Schaltstelle zwischen Kant und dem Deutschen Idealismus im ersten Drittel bzw. bis in die erste Hälfte des 19. Jh. Der nachkantische Deutsche Idealismus, insbesondere von Fichte, Schelling (1775—1854) und Hegel (1770—1831) operiert zwischen den Polen (i) des kantischen transzendentalen Ich und seiner formalontologischen Synthesistätigkeit (Fichte) und (ii) des kantischen transzendentalen Ideals als begrifflicher Entfaltung des Absoluten (Schelling) und aktualisiert dazu (iii) das in Platons Spätdialogen grundgelegte und im Neuplatonismus systematisierte dialektische Denken (Hegel). Es ist daher nicht falsch zu sagen, dass hier neuerdings (der von Kant gegen die rationalistische Philosophie etwa Wolffs als für uns unmöglich beschriebene) Versuch einer deduktiven begriffslogischen, spekulativen Metaphysik unternommen wird. Ein Versuch, welcher namentlich auch von der Hochscholastik abgelehnt worden war.

Aber viel wichtiger ist, dass diese Denker ein überwältigendes Bewusstsein der totalen Niederlage und des Untergangs von ernsthafter Bildung, Metaphysik und Religion seit dem 18. Jh. hatten. Diese Themen waren — bei Strafe der Lächerlichkeit und sozialen Ausgrenzung — zu gesellschaftlichen Tabuthemen geworden, wie Fichte in seiner Religionsphilosophie von 1806 und Schleiermacher in den Reden über die Religion (1799) aus unmittelbarem Erleben dokumentieren. Ähnlich Hegels Vorrede zur Wissenschaft der Logik, dass Ontologie, Metaphysik und philosophische Theologie sich nicht mehr "vernehmen lassen ... dürfen" und "seit etwa fünfundzwanzig Jahren ... mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden" seien: Man stehe dem "merkwürdigen" Befund gegenüber, dass "ein Volk seine Metaphysik verliert" und der "Geist kein wirkliches Dasein mehr in demselben hat". Dass auch "die Theologie ... diese Wissenschaft gegen Gefühle, gegen das ... Populäre und ... Historische aufgegeben" hat: "Welcher Veränderung entsprechend ist", dass spirituelle Anachoreten und kontemplative Orden mit "dem Zwecke, daß die Kontemplation des Ewigen und ein allein ihr dienendes Leben vorhanden sei ... verschwanden". Diese theologische Motivation des spekulativen deutschen Idealismus zeigt, auch anhand neuer Funde, der immer differenziertere Forschungsstand (vgl. D. Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen — Jena 1790—1794, Frankfurt am Main 2004).

In dieser Lage sahen sich die Vordenker des Deutschen Idealismus – wie auch die sich mit ihm thematisch und personell überschneidende Deutsche Romantik – zu einem vollständig neuen Wiederaufbau einschließlich der Fundamente genötigt. Ihnen gemeinsam ist der Wille, die Philosophie, durch welche alle anderen Wissenschaften erst kritisch fundiertes und ganzheitlich integriertes Wissen werden, als wissenschaftsgestütztes, umfassendes Weltbild aufzustellen (Schellings Universalwissenschaft), ihr eine Wissenschaftstheorie (Fichtes Wissenschaftslehre) zu geben sowie eine streng wissenschaftliche Methode zu entwickeln (Hegels Wissenschaft der Logik). Das ist natürlich sehr vergröbert, aber macht die jeweiligen Schwerpunkte klar. Von dieser Wissenschaft erwartet heute — so Hegel — der bis zum 18. Jh. in der religiösen Zivilisation orientierte und vitalisierte Geist, der jetzt als verlorener Sohn die Schweine hütet und von ihren Trebern lebt, aber umkehrwillig ist, das Wissen um den Weg zum Glauben und zu seiner wahren Identität. Äußerliche Restauration — so Hegel weiter — führt hier nicht weiter, sondern nur ein begriffliches Erfassen und lebendiges Weiterdenken des Zeitbewusstseins (Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, Vorrede, 7).

Die zwischen Fichte [Bild unten], Schelling und Hegel bestehenden Differenzen sind dabei groß, können aber auch als komplementäre Schwerpunkte gedeutet werden und sollten nicht den Blick trüben für das sehr verwandte mentale Koordinatensystem und die gemeinsame Motivation. Ihr intellektueller und ethischer Einsatz geht Hand in Hand mit den politischen Reformern, Widerstandskämpfern und neu sich formierenden Kampfgruppen ihres besiegten, besetzten und demoralisierten Landes. Die literarische Verdichtung dieser Fusion und Synergie ist Fontanes Erstlings- und Lieblingsroman Vor dem Sturm, in dem Berndt von Vitzewitz den politischen und sein Sohn Lewin den intellektuellen Part verkörpert. 

Ein Hauptanliegen ist dabei, die hier überall im Hintergrund stehende kantische Transzendentalphilosophie zu vereinheitlichen, die Philosophie in ein einziges System zu bringen, die Gesamtrealität aus einem Prinzip abzuleiten. J. G. Fichte [WikiCommons]Denn Kant hatte mindestens drei unterschiedliche Sphären mit jeweils einer transzendentalen Schicht der Vernunft und einer empirischen Schicht der Natur angesetzt. Die Sphären entsprechen etwa den drei großen Kritiken: Kritik der reinen VernunftKritik der praktischen VernunftKritik der Urteilskraft. Diese Sphären und Schichten hatte er in relativer Selbstständigkeit gesehen und belassen und nur in der faktischen menschlichen Erfahrung und auf einer metaphysischen Metaebene miteinander verknüpft. Der erste, der das unbefriedigend fand, war der frühere Wiener Ordenstheologe und spätere Jenenser Professor Carl Leonhard Reinhold (1757—1823), der ansonsten der früheste und auch wichtigste Katalysator und Popularisierer der kantischen Philosophie war. Seine sogenannte Elementarphilosophie in dem Versuch einer neuen Darstellung des menschlichen Vorstellungsvermögen (1789) ist mit der Skizze Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) Fichtes, seines Denkpartners und Lehrstuhlnachfolgers in Jena, der Beginn des Deutschen Idealismus. Reinhold änderte freilich in den folgenden Jahrzehnten mehrfach vollständig seine Philosophie und Weltanschauung und bekannte sich schlussendlich zu der kantkritischen Offenbarungs- und Glaubensphilosophie Friedrich Heinrich Jacobis (1743—1819). Nach derselben sind dem und im Ich vorgegebene sinnliche Daten und ideelle Begriffe die Basis der Wahrnehmung und der Kognition. Damit sind diese letztlich göttliche Vernunftoffenbarungen, die wir durch einen natürlichen Glauben erfassen, gestützt auf eine ursprüngliche, unmittelbare Gewissheit.

Jena wird auch in Folge — insbesondere mit der Berufung Schellings und Schillers und der Habilitation Hegels — das Laboratorium des Deutschen Idealismus bleiben. Dies ist nicht nur eine spontane Schwerpunktbildung, sondern auch bewusste wissenschaftspolitische Agenda des für die Universität Jena zuständigen Kultusministers Goethe, der den neuen Ansatz aktiv repräsentiert und mitgestaltet (s.u.).

Um sich den hier wirkenden Antrieb verständlich zu machen, ist es nicht unzutreffend, sich denselben Impetus in der Großen Vereinheitlichung der modernen Physik zu vergegenwärtigen. Auch hier wird mittels einer alle Theorien und Provinzen der Grundlagenforschung vereinheitlichenden Theorie eine deduktive Totalerklärung der Realität oder des Universums angestrebt, und zwar nicht nur in materialistischer, physikalistischer Perspektive, sondern — wie z.B. bei Bohr, Heisenberg, Weizäcker, Dürr, Penrose, Schopper, Rohs, Auyang, Bitbol — auch von einer idealistischen Weltdeutung aus (siehe das Menu Philosophie der Physik.

 Pantheistischer Zeitgeist 

Dazu kommt Folgendes: Während das 18. Jh. — inkl. bis zu einem gewissen Grad Kants frühe und mittlere Produktionen — philosophiegeschichtlich am stärksten vom Deismus und einer rationalistischen Rekonstruktion des prophetischen Theismus der Tradition (siehe hierzu das Menu Religionsphilosophie) bestimmt wird, wandelt sich das Zeitbewusstsein nach 1800 hin zu einem philosophischen Monismus und speziell "entwicklungsgeschichtlichen Pantheismus", wie Walter Schulz, einer der besten Kenner dieser Ära, sagt (Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1984, 267). Entwicklungsgeschichtlich meint hier die spekulative, denkerische Konstruktion bzw. Entwicklung des Universums aus dem monistischen bzw. pantheistischen Absoluten, wobei das Universum als Erscheinung oder Außenseite des Absoluten verstanden wird.

Ein zeitgenössisches Zeugnis hierfür in gewohnt beißendem Ton ist Arthur Schopenhauers Schlussanmerkung in Die Welt als Wille und Vorstellung (II, Buch 4, Kap. 50), welcher für diesen Wandel Kant (bzw. wie man ihn verstand) verantwortlich macht: „In Folge der Kantischen Kritik aller spekulativen Theologie [warfen] sich fast alle auf den Spinoza zurück, so daß die ganze unter dem Namen der Nachkantischen Philosophie bekannte Reihe verfehlter Versuche bloß geschmacklos aufgeputzter, in allerlei unverständliche Reden gehüllter und noch sonst verzerrter Spinozismus ist“. Freilich kann man auch Schopenhauers eigenes Oeuvre — hart formuliert — interpretieren als aufgeputzten, zwar nicht in allerlei unverständliche Reden gehüllten, aber von spekulativen Zumutungen und denkerischen Inkonsistenzen durchwachsenen Monismus oder Spinozismus in interdisziplinärer Einkleidung.

Leibniz war übrigens der Meinung, dass diese Mängel bereits Spinozas Weltanschauung prägten. Er stand im Gedankenaustausch mit Spinoza bis ihn die logische Analyse von dessen Hauptwerk Ethik und eine ernüchternde postume Kenntnisnahme von dessen religionsphilosophischer / theologischer Bibliothek (deren Erwerb ihm angeboten worden war) zur Überzeugung führten, dass Spinoza nicht wirklich seriös sei: "Mit der ihm eigenen, am Studium der Mathematik erwachsenen logischen Akribie seziert er Definition um Definition [...] Das Ergebnis ist, daß Spinoza aus verworrenen Begriffen verworrene und einander oft genug widersprechende Schlüsse zieht." (K. Huber: Leibniz, München / Zürich 1989, 105—106)

Unabhängig von Schwächen, Inkonsequenzen und unaufgeklärten historischen Vorurteilen der Entwürfe dieser Epoche ist allerdings festzuhalten, dass die — oft nur scheinbare oder gefühlte — pantheistische Strömung auch ein Versuch ist, die im Deismus des 18. Jh. ins Hintertreffen geratene oder abgedrängte Immanenz des Göttlichen bzw. Transzendenz des Weltlichen zu bedenken. Sie war in der philosophischen Tradition und im prophetischen Theismus stets reflektiert worden. Eine Schlüsselaussage war und ist hier das Wort des einflussreichsten Schriftgelehrten des 1. Jh., Paulus von Tarsus, vor der durch "epikureische und stoische Philosophen" organisierten Athener Wissenschaftskonferenz auf dem Areopag: "Keinem von uns ist er [= Gott] fern. Denn 'in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir' [Zitat in der Cretica des Philosophen Epimenides (7./6. Jh. v. C.), mit Solon Schöpfer der athenischen Verfassung], wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: 'Wir sind von seiner Art' [Zitat (i) im einflussreichen Handbuch der Astronomie und Metereologie Phainomena des Astronomen Aratos 310—245 v. C. mit lateinischen Übersetzungen durch Cicero, Ovid und Germanicus, den hochgebildeten Sieger über Arminius und Rückeroberer Germaniens, und (ii) im Zeushymnus des mit Zenon Begründers und zweiten Schuloberhauptes der Stoa Kleanthes (331—233 v. C.)]" (Apostelgeschichte 17, 27—28). Fichte, Schelling und Hegel verstehen ihre schlussendlichen, voll entwickelten Systeme als Weiterführung dieser Tradition: Ihre subjektive Absicht und Selbsteinschätzung ist die ontotheologische Explikation des theistischen und darüber hinaus trinitarischen Gottesbegriffs. Siehe den folgenden Abschnitt und die monumentale Gesamtschau von W. Jaeschke / W. Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant: Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785—1845, München 2012.

 Platonische Wirkungsgeschichte

Fichtes Wissenschaftslehre (WL) beabsichtigt dabei vor allem eine ethische Metatheorie der erkennenden, wollenden und handelnden Personalität und Interpersonalität, die in vielem an existenzphilosophische Untersuchungen erinnert, und sich für den Primat des Praktischen stark macht. Fichte gilt damit auch als ein erster Vordenker der lebens- und triebphilosophischen Ära der zweiten Hälfte des 19. Jh., beginnend mit Schelling und Schopenhauer bis zu Nietzsche, Dilthey und Bergson. Das ist zwar wirkungsgeschichtlich richtig, wird aber in den späteren Ausprägungen Fichtes und Schellings eigenem Ansatz nicht gerecht. Dieser ist in genauer Betrachtung eher von der Gleichsetzung von Sein, Leben und Geist bei Plotin (205—270 n. C.) her zu lesen, dem eigentlichen Gründervater des Neuplatonismus in Alexandrien und Rom. Vgl. dazu Ch. Horn: Plotins Philosophie des Geistes. Ideenwissen, Selbstbewusstsein, Subjektivität. In: In: U. Meixner / A. Newen (Hrsg.): Seele, Denken, Bewusstsein. Zur Geschichte der Philosophie des Geistes, Berlin/New York 2003, 57—89. Oder auch von der Philosophie des Geistes Augustins her mit der Priorität des Bewusstseins und dem Primat theoretischer, ästhetischer und ethischer Sollensnormen für den Realitätszugang. Vgl. dazu J. Brachtendorf: Augustinus‘ Begriff des Geistes. In: Meixner / Newen a.a.O. 2003, 90—123.

Plotin gilt in der Antike als Begründer eines „nichtkorrelativen, unmittelbaren Selbstbewußtseins“ (Horn 2003, 81) wie Fichte in der Moderne. Wenn Dieter Henrich (Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt / M. 1967) dieses unmittelbare Selbstbewusstsein aber als nichtreflexiv fasst, ist das mindestens missverständlich. Nichtreflexiv ist die Selbsterkenntnis qua habituelle Existenzevidenz (= Begleitbewusstsein) des kognitiven Subjektes und seiner Akte, was Thomas Aquinas Notitia nennt und Kant ursprüngliche analytische Einheit des Selbstbewusstseins oder transzendentales Selbstbewusstsein. Aber sobald dieses erlebt-gefühlte Selbstbewusstsein im Denken erfasst wird und seine Akte und Inhalte untersucht werden, ist es reflexiv. Wie und wie weit diese denkerische Selbstreflexion vor sich geht, wird von Plotin, Augustinus, Aquinas, Kant und Fichte unterschiedlich beantwortet (siehe auch in Folge). Ferner versteht Plotin wie Fichte den noetischen absoluten Geist (Fichte: absolutes Ich) als Akt oder Prozess, also nicht als Substanz oder als Vermögen (Akzidenz). Es ist eine ontologische Einebnung bzw. Verschmelzung von Subjekt, Objekt und Denkakt: Plotin lehrt die Einheit von Wissendem und gewusstem Objekt und Erkenntnisakt. Horn nennt dies die Nous-Noesis-Noeton-Interdependenz. Nicht uninteressant ist ferner, dass Plotins Kategoriensystem und seine Kritik der aristotelischen Kategorien sich in nicht wenigem mit der kantischen Kategorientafel deckt, welche auch Fichte voraussetzt.

Werner Beierwaltes' Platonismus und Idealismus (Frankfurt a. M. 1972 [22004], v.a. 3, 18—19, 20, 87, 97, 139) ist eine inzwischen klassische Darstellung dieser Zusammenhänge. Durch Übersetzungen in viele Weltsprachen ist es zusammen mit anderen Studien Beierwaltes' auch das internationale Referenzwerk für unser Thema. Das Buch des gegenwärtig vielleicht besten Kenners des Platonismus und v.a. Neuplatonismus zeigt, „wie sich der platonische Gedanke insgesamt im sogenannten Neuplatonismus bewahrt und zugleich entfaltet und wie er in dieser neuen Form bestimmend wird ... für die Vollendung des neuzeitlichen Bewußtseins im Deutschen Idealismus“ (Abstract). Thema dieses Buches ist also die Rezeption neuplatonischen Denkens im Deutschen Idealismus und die — differenziert zu betrachtende, aber sehr wohl vorhandene — Kontinuität zwischen Antike und Moderne in puncto Bewusstseinsphilosophie. Novalis_F_HardenbergDas heißt: Zwischen antikem Platonismus und moderner Transzendentalphilosophie besteht nicht nur nicht ein radikaler Gegensatz, sondern sogar „Geistesverwandtschaft“ (Beierwaltes a.a.O. 1972, 3). Ein Beleg: Beierwaltes zitiert Friedrich Hardenberg (Novalis) in einem Brief an Friedrich Schlegel vom 10.12.1798: „Ich weiß nicht, ob ich Dir schon von ... Plotin schrieb. Aus Tiedemann [Geist der spekulativen Philosophie, Marburg 1793] lernte ich diesen für mich geborenen Philosophen kennen — und erschrak beinah über seine Ähnlichkeit mit Fichte und Kant“ (Beierwaltes a.a.O. 1972, 87). [Bild rechts: F. Hardenberg / Novalis, 1772—1801), Transzendentalphilosoph, Jurist, Geologe und Landrat, mit den Freunden Friedrich Schlegel und F. W. J. Schelling Ideengeber der Jenaer Romantik] Und

„für Goethe hat Plotin sogar heuristische Funktion [...] Eine den Naturbegriff beider maßgeblich bestimmende Grundüberzeugung insistiert darauf, daß ‚alles Faktische schon Theorie ist‘ [Goethe, Wanderjahre, 2. Buch]. Für Plotin heißt dies, daß jedes Einzelne in der sinnenfälligen Welt ... auf rationale Formprinzipien ... zurückgeführt werden muß, um überhaupt begriffen werden zu können. Für Goethe heißt es, daß Geist das Alles-Konstituierende, Verbindende und Insichaufhebende ist ...: die Manifestationsbasis, die Natur, ist ganz vom sich Manifestierenden, dem Geist durchdrungen.“ (Beierwaltes a.a.O. 1972, 94, 96)

Die von Beierwaltes erstmals konkret herausgearbeitete Wirkungsgeschichte zeigt Plotin als den bewusst rezipierten Anreger Schellings (a.a.O. 1972, 100—144) und Proklos (412—485 n. C.), den abschließenden Systematisierer des Neuplatonismus, als bewusst rezipierten Anreger und Gewährsmann Hegels (a.a.O. 1972, 154—187). Hegel ist in der Sache aber ebensosehr von Plotin beeinflusst. Und Fichtes Nähe zu Platon und Plotin bezeugt die philosophische Dissertation (Berlin 1818) seines Sohnes und Herausgebers Immanuel Hermann schon in ihrem programmatischen Titel: De philosophiae novae Platonicae origine (a.a.O. 1972, 84—85). Dass darüber hinaus die indirekte und sachliche Wirkungsgeschichte des Platonismus in allen Epochen stark bis sehr stark ist, wurde bereits oben unter Plato gesagt. Plotin und noch mehr Proklos galten als die beiden abschließenden Giganten dieser Schule in der Antike, deren Ergebnisse sehr zeitnah im Denkraum des prophetischen Theismus aufgegriffen wurden: Plotin durch Marius Victorinus und Aurelius Augustinus im 4./5. Jh. und Proklos durch Pseudodionysius Areopagita im 5./6. Jh.

Wichtige Katalysatoren auf dem weiteren Weg in das Mittelalter sind zunächst und vor allem die Schule von Chartes, eine akademische Bildungsstätte, die ununterbrochen seit der Antike bis zu ihrer Blütezeit im 11./12. Jh. eine sehr wichtige Hochschule des Westens war und schließlich von der Universität Paris beerbt wurde. Sodann der führende Denker des Westfrankenreiches im 9. Jh. Johannes Scottus Eriugena, in welchem Beierwaltes eine besonders überzeugende Synthese der Wissenschaftskultur und Theologie des Platonismus erkennt (Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt a. M. 1994). Ähnlich einflussreich war die arabisch-lateinische Rekonstruktion Liber de causis (9./12. Jh.) von Proklos' Hauptwerk Grundlagen der Theologie. Nachdem Thomas von Aquin dessen proklische Herkunft textkritisch erwiesen hatte, steigerte sich das Interesse für Proklos im lateinischen Westen wie im griechischen Osten nochmals erheblich. Die innovativen Vordenker des 14./15. Jh. wie der erste Transzendentalphilosoph modernen Typs Dietrich von Freiberg, Dionysius der Kartäuser und Nikolaus von Kues sind seine Schüler und der große alte Mann der Rheinischen Mystik Johannes Tauler anerkennt seine spirituelle Erfahrung als authentisch. In der Neuzeit schätzen Johannes Kepler und Hermann Cohen Proklos' Philosophie und Methodologie der Mathematik. Das geistige Koordinatensystem der Erneuerung des Platonismus und der platonischen Akademie im Florenz der Renaissance durch Cosimo und Lorenzo de' Medici liefern Plotins Enneaden, die von Marsilio Ficino (1433—1499) übersetzte Gesamtdarstellung von Plotins Lehre, sowie Ficinos, von Proklos inspiriertes Hauptwerk Theologia Platonica (1482).

Im 17. Jh. wird dieses Programm neuerdings en bloc im Cambridger Platonismus aktualisiert und inspiriert auch Leibniz' Philosophie, als deren Erben sich sowohl Christian Wolff und und seine Schule wie auch Immanuel Kant verstehen. Wer der legitime Erbe ist, ist Gegenstand der berühmten Kant-Eberhard-Kontroverse. Philosophiehistoriker haben mit guten Gründen auch in Descartes' Erkenntnisbegründung aus der radikalen Skepsis heraus eine Erneuerung der platonischen Einsicht in die Priorität und den Primat apriorischer, im Absoluten fundierter kognitiver Kriterien und Ideen gesehen. Descartes scheint dies als Vertiefung seiner aristotelisch-thomistischen Ausbildung im Kolleg La Flèche der Gesellschaft Jesu angesehen zu haben, von deren Nutzen und Qualität er ansonsten überzeugt war. Denn der intellektuelle Kontext der Meditationen Descartes' ist der Platonismus und Augustinismus des Ordens des Oratoriums, dessen Vordenker Kardinal Bérulle ihn stark inspirierte und mit welchem er befreundet war. (Dass man daneben eine gegenläufige dunkle Seite Descartes' seriöserweise untersuchen kann, ist neuerdings wieder in der Diskussion und kann hier nur erwähnt werden. Man denke an seinen in Deutschland erfolgten Kontakt zu Geheimgesellschaften und sein Wort: "Larvatus prodeo — Ich trete maskiert auf" (AT, X, 213).) 

Augustins Ausgangspunkt war bzw. ist ebenfalls der bei ihm nicht nur methodische, sondern existentielle universelle Zweifel. Er ist ursprünglich Parteigänger des Skeptizismus der sog. Jüngeren Akademie. Sein Denkweg aus dem radikalen Skeptizismus dokumentieren die Erstlingswerke Contra Academicos und De libero arbitrio: Sie sind, zum Teil bis ins Detail, Vorgänger und Blaupausen für Descartes Meditationen und übertreffen diese an bohrender, aufwühlender Intensität. Descartes' Wiederholung von Augustins Denkweg interferiert freilich mit Denkfehlern bei der Bestimmung des substantiellen Seins von Körper und Geist, welche seine Argumentation ihrer Schlüssigkeit berauben, wie Arbogast Schmitt überzeugend gezeigt hat: Erkenntnistheorie bei Platon und Descartes. In: Antike und Abendland 35 (1989), 54—82. Und ausführlicher: Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritische Anmerkungen zur 'Überwindung' der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts, Heidelberg 2011. Dasselbe Argument entwickelt Markus Schmitz: Analysis — Eine Heuristik wissenschaftlicher Erkenntnis. Platonisch-aristotelische Methodologie vor dem Hintergrund ihres rhetorisch-technisch beeinflussten Wandels in Mathematik und Philosophie der Neuzeit und Moderne, Freiburg 2010. Die dritte neuzeitliche Aktualisierung ist schließlich im späten 18. Jh. / frühen 19. Jh. der Deutsche Idealismus. Ein Standardwerk zu diesen Stationen der Wirkungsgeschichte ist Beierwaltes: Fußnoten zu Platon, Frankfurt a. M. 2011. Ähnlich instruktiv ist, von einigen Zungenschlägen abgesehen, J. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015.

Das systematische Hauptergebnis von Beierwaltes‘ Analysen beschreibt zugleich die Weltanschauung mindestens des späten Fichte und der anderen Vordenker des Deutschen Idealismus. Es ist dieses: „Eine der Grundfragen griechischen Philosophierens ist die Frage nach dem Sein“ (a.a.O. 1972, 5—6). Sie wird durch Platon und noch mehr durch Plotin so beantwortet:

„Sein ist allererst durch den Geist und als Geist: Eine Natur ist also das Sein und ‚der Geist‘ (V 9, 8, 16f.) [...] Geist ist ... bestimmbar als die Selbstreflexion des Seins [...] Was er denkt, ist er selbst, so daß ... Identität von Denken und Sein [... besteht] Im Vollzug dieser Identität erkennt der Geist sich selbst als das wahre, auf seinen Ursprung bezogene, weil von ihm her ermöglichte Sein [und] Leben [...] Leben aus sich ... ist Maß und Grund alles anderen Lebens. Darin ist es dem Sein und der Funktion des Geistes analog [...] Das denkende Sich-Selbst-Durchdringen des Seins und die Selbsterkenntnis des Geistes als wahres, eigentliches und ursprüngliches Sein ist also das ‚Leben‘, die dem Sein eigentümliche ständige Bewegtheit [...] Der Geist könnte daher zu Recht von sich sagen: ‚ich bin Sein‘“ (Beierwaltes a.a.O. 1972, 18—21).

Fichtes subjektiver Idealismus

Das Weltbild der Wissenschaftslehre

Die Fichte folgenden deutschen Idealisten Schelling, Hegel und Schopenhauer reproduzieren strukturell Fichtes Weltbild, geben diesem aber jeweils neue produktive Deutungen oder Inhalte. Fichtes Weltbild in seinen späteren Phasen setzt einerseits eine Tiefenstruktur des Seins = Gottes oder absoluten Ichs = des Menschen an, das er als dynamisches Leben in undifferenzierter Einheit deutet. Für Fichte gibt es nur das göttliche Sein, nichts sonst, und Menschen bzw. Iche sind Erscheinung — Bild — des einen absoluten Seins oder Gottes selbst. Andererseits setzt Fichte eine Oberflächenstruktur des Seins = Gottes = des Menschen an, das er als begriffliches Bewusstsein und reflektierendes Differenzieren fasst, welches die Fülle und Vielfalt der Welt der Erfahrung als idealistische Projektion erzeugt. Diese Oberflächenstruktur ist das in Myriaden Formen und Facetten hervorbrechende "Dasein" im "Bewussstsein" der Tiefenstruktur, also des formlosen, einen "Seins in sich". Erkenntnistheoretische und ethische Aufgabe des Menschen ist die Einsicht in die zerspaltene, zerstreute, von Eigensinn und Eigenwillen verworrene Scheinwelt der Oberfläche und die spirituelle Rückkehr und Sammlung in dem einen absoluten Sein / Leben / Wollen / Lieben / Seligkeit, das zugleich unser eigentliches und einziges eigenes Sein ist. In und aus dieser göttlichen Identität sollen Menschen sich dann den lebensweltlichen Pflichten und Aufgaben stellen. Dieses ethische Programm ist Platonismus in Reinkultur und könnte ebenso von Plotin stammen.

Die neuplatonische Vorgabe

Erfahrbares Dasein, wissende Existenz hat das absolute Sein also erst im menschlichen Bewusstsein. Fichte sah allerdings die Frage nach einem Selbstbewusstsein und inhaltlichen Wissen des absoluten Seins in sich als offen und unerledigt an: Moderne Fichteexperten wie Lauth und Verweyen sehen ihn sich wegen dieser ungeklärten Frage in der Religionsphilosophie und auch Ethik in Widersprüche verwickeln. Zwar hat die von Fichte mit vorbewusstem Leben und Willen identifizierte differenzlose Tiefenstruktur des Seins neuplatonische Parallelen (i) in dem über Sein, Leben und Geist stehenden differenzlosen Hen oder göttlichen Einen und Guten und Schönen, das in der Sphäre der negativen Theologie aber dennoch absolut transzendenter GeistWilleFreiheit ist (Plotin: Enneaden, VI, 8, 18, 19—23, 38—43; 19, 12—20). Und (ii) in der nichtdiskursiven, zeitlosen Totalität von Geist = Sein = Leben des Nous, dem ersten Hervorgang, gezeugten Sohn und geistigen Abbild des Ur-Einen, Inbegriff aller Ideen und zugleich Demiurg oder Welterzeuger. Dessen erstes Produkt ist dann die kosmische Lebensform und selbstorganisierende Dynamik der Weltseele sowie die individuellen Seelen als deren integrale Bestandteile (Plotin: Enneaden V, 1, 7; IV, 2, 1). Aber diese ultimativen Prinzipien haben bei Plotin durchaus Selbstbewusstsein. Das Hen hat Selbstbewusstsein, welche etwa im Sinne der analytischen transzendentalen Einheit der Apperzeption bei Kant verstanden wird — als diachrones resp. überzeitliches unbestimmt identisches Bewusstsein seiner selbst (Horn a.a.O. 2003, 78, 80). Den Nous kennzeichnet gleichfalls eine unmittelbare, ganzheitliche, einheitliche Selbsterfassung bzw. Selbstbewusstsein (synaisthesis) (Horn 2003, 77).

Der Schüler und Nachfolger Plotins, Porphyrios (233—ca. 305, Athen und Rom) identifiziert sogar, inspiriert durch Aristoteles' Metaphysik und Theologie, das absolute Eine mit der Trias SeinLebenGeist. Dies führte Porphyrios zur fast fichteschen Auffassung der doppelten Selbsterkenntnis des Absoluten: holistisch und intuitiv und selbstidentisch, und als unterschiedenes, selbstreflexives Bild im Nous oder Geist. Für den Platoniker und einzigen selbstständigen Metaphysiker lateinischer Sprache Marius Victorinus (ca. 281—363 n. C.), im 4. Jh. der wohl einflussreichste und gefeierteste Intellektuelle Roms, werden dies die begrifflichen Instrumente zum Verständnis der "Selbstkonstitution und Selbsterkenntnis Gottes als dreifaltiger Einheit ... als eine dynamische Identität ... als ein sich entfaltender und reflektierender Kreis ... gemäß der [dialektischen] Gesetzlichkeit mone [Prozesslose Ur-Einheit des Vaters] — proodos [Hervorgang des Lebens im Sohn] — epistrophe [Rückwende im Denken / Reflexion des Geistes]" (Beierwaltes 1972, 26). Victorinus wirkt seinerseits auf Augustinus monumentales Werk De trinitate.

Theologische Wechselwirkung

Diese theologische Rezeption ist keine verfremdende Hellenisierung des prophetischen Theismus der Bibel, sondern dessen ursprüngliches Gedankengut: Ein Antrieb des Neuplatonismus kommt von dem führenden Denker des hellenistischen Judentums Philon von Alexandrien (ca. 20 vor bis 50 nach Christus). Er ist seinerseits geprägt vom stark theologisch interessierten Neupythagoreismus und Mittelplatonismus der Zeitenwende und wirkt auf diese zurück. Philon und seine Familie waren im 1. Jh. wesentliche Akteure der großen Politik im Nahen Osten und in Rom. Sein Werk ist eine fast ausdrückliche trinitarische Synthese des implizit trinitarischen Denkens der philosophischen Schriften des Alten Testamentes: Absolutes Sein Gottes — Personifizierte Weisheit Gottes — Personifizierter Geist Gottes. Diese trinitarische Synthese setzt er systematisch in Zusammenhang mit dem mehr oder minder starken trinitarischen Profil der platonischen und stoischen Erkenntnistheorie, Ontologie und philosophischen Theologie. Insbesondere verbindet man mit Philon die Logos-Spekulation, d.h. die Definition der personifizierten Weisheit Gottes als Logos oder Wort Gottes, wie sie genauso der Prolog des Johannesevangeliums vornimmt. Es ist kein Zufall, dass dieser Text sowohl für Fichte als auch für Schelling und Hegel zu der Schnittstelle zwischen Philosophie und Theologie wird. Dieser — im Ansatz — trinitarische Gottesbegriff des Alten Testamentes veranlasste übrigens auch den Direktor der Pariser Talmudakademie und singulären Bibelexperten Paul David Drach im 19. Jh. zur Konversion zum Christentum.

Philon repräsentiert ferner die im hellenistischen Orient allgegenwärtige Überzeugung, dass prominente griechische Philosophen vom mosaischen Monotheismus wirkungsgeschichtlich beeinflusst sind. Tatsächlich ist z.B. das Interesse und die Wertschätzung der theologischen Weisheit des Ostens in der platonischen Akademie von Anfang an bis zu Proklos überwältigend und sehr bald fest institutionalisiert. Dasselbe gilt für Aristoteles, wie Werner Jäger gezeigt hat. Kurt Schillings Charaktierisierung der klassischen griechischen Philosophie als monistische Theorie und Religion der "Natur des göttlichen Kosmos", die ab der Zeitenwende durch ein "Zeitalter des jenseitigen Gottes" abgelöst worden sei, ist in dieser Pauschalität schlicht irrig (Geschichte der Philosophie I, München 1943; Weltgeschichte der Philosophie, Berlin 22006). Allerdings sieht Schilling klar, dass gerade und besonders Platons leidenschaftliches Interesse dem jenseitigen Gott gilt, weshalb er ihn als quasi erratischen Block in seiner Zeit und Umwelt anspricht und als den Wegbereiter des neuen Zeitalters (Platon, Reutlingen 1948, passim). Ab dem Mittelplatonismus betrachtet man nicht nur — historisch nicht falsch — die aristotelische Philosophie (Peripatos) und die Stoa als Tochtergründungen und Zweige der platonischen Akademie und integriert sie, sondern man akzeptiert und integriert auch die kognitive Kernsubstanz der religiösen Überlieferungen. Das betrifft v.a. den Begriff des transzendenten Schöpfergottes, den Platoniker mit dem platonischen Weltenbaumeister (Demiurg) und Ur-Einen (Idee des Guten) sowie absoluten Geist (Nous) identifizieren, der die platonischen Ideen umfasst. In der Forschung gilt ferner die Information bei Porphyrios und Eusebius von Cäsarea als seriös, wonach die Sozialisation von Ammonius Sakkas, dem Gründer des Neuplatonismus in Alexandrien und Lehrer Plotins, im Christentum erfolgt sei, wovon er geprägt sei. Dass manche späteren Vordenker des Neuplatonismus wie Porphyrios und Proklos formale Gegner des Christentums waren, ist nicht überzubewerten. Die immer stärkere Präsenz des im Christentum verkörperten prophetischen Theismus als moderne Weltanschauung und globale Leitkultur — trotz sozialer Diskriminierung und blutiger Verfolgung seitens rabbinischem Judentum (Lukas Evangelista: Apostelgeschichte) und römischem Staat (Eusebius von Cäsarea: Kirchengeschichte) — zeigte Geist und Kraft eines Formates, das für andere weltanschauliche Standpunkte zur großen Herausforderung der Zeit wurde (siehe auch in Folge).

Im Kontext des Deutschen Idealismus selbst war es v.a. Immanuel Hermann Fichte, der diese theologische Wechselwirkung reflektierte. In der schon erwähnten Dissertation von 1818 De philosophiae novae Platonis origine [Zur platonischen Herkunft der modernen Philosophie] identifiziert er als wichtige Einflüsse für den (Neu-)Platonismus neben den chaldäisch-zoroastrischen Traditionen die Mystik und das Mönchtum (Therapeuten in Ägypten) und die Philosophie (Philon) des Judentums der Zeitenwende (1818, 18—62). Eine eingebürgerte Bezeichnung für das Judentum war 'philosophisches Volk'. Zur Zeitenwende war der Jerusalemer Tempel das auch quantitativ bedeutendste religiöse Weltzentrum mit jährlichen 2, 5 bis 3 Millionen Besuchern aus drei Kontinenten allein zum Osterfest. 10—20% der städtischen Bevölkerung der griechisch-römischen Zivilisation praktizierte den mosaischen Monotheismus und war mit dessen mindestens implizit trinitarischen Charakter vertraut.

Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft des prophetischen Theismus multiplizierte sich mit der Mission der messianischen Zivilisation des Christentums, die binnen drei Jahrhunderten weltweit zur dominanten Weltanschauung wird. Diese Weltanschauung wurde — bewusst wie auch atmosphärisch — zu einem immer prägenderen Faktor des Zeitbewusstseins, in dem der Neuplatonismus aktiv war. Umgekehrt stellte die intensive neuplatonische Bearbeitung der in Rede stehenden Themen präzise Begriffe und reflektierte Einsichten für die theologische Wissenschaft der Zukunft bereit, so Beierwaltes: Platonismus im Christentum, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2014. Und zwar vom Anfang im 1./2. Jh. an bis zum 20./21. Jh.: Pantänus, Clemens von Alexandrien und Origenes, die ersten Direktoren der Katechetenschule des Wissenschaftszentrums Alexandrien im 2./3. Jh., sind die Begründer professioneller Theologie in der messianischen, neutestamentlichen Ära. Sie sind zugleich professionelle Platoniker bzw. Stoiker und zeitgleich zu Ammonius Sakkas, Plotin und Porphyrius, den ersten Schulhäuptern des Neuplatonismus. Origenes ist in der nächsten Generation Lehrer der maßgeblichen Kirchenväter Athanasius von Alexandrien, Basilius der Große, Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz.

Pantänus' frühe Bildung erfolgt in der Schülergeneration der Apostel bzw. Gründerväter der angesprochenen messianischen Ära. Denn im Fokus der Aktivitäten der Gründerväter stehen die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Brennpunkte der menschlichen Zivilisation und damit auch der Philosophie wie die Welthauptstadt Rom (Petrus Apostolus / Saulus von Tarsus) und das Welthandelszentrum Ephesus (Saulus von Tarsus / Johannes Evangelista) in (Klein)Asien, dem produktivsten Wirtschaftsraum des Planeten. Ferner die globalen Wissenschaftszentren Europas: Athen (Saulus von Tarsus), Asiens: Antiochien und Tarsus (Petrus Apostolus / Saulus von Tarsus), und Afrikas: Alexandrien (Marcus Evangelista). Aber auch das mondäne Handels-, Vergnügungs- und Kunstzentrum der Antike Korinth (Saulus von Tarsus / Andreas Apostolus). Die Gründerväter und Säulen der Kirche hatten ihrerseits ihre Formation durch den Messias selbst erfahren, die personifizierte Weisheit Gottes, so implizit Philon und explizit die Messiasbiographien des Neuen Testamentes. Der Heidelberger Neuplatonismus-Experte Jens Halfwassen bestätigt Beierwaltes, gezeigt zu haben, dass "der Platonismus ... als die Grundgestalt der europäischen Metaphysik gelten kann" und "eine adäquate philosophische Erfassung des biblischen Monotheismus ermöglicht" (Rez. Zs. f. phil. Forschung 54 (2000), 125). Die FAZ bescheinigte dem Buch Platonismus im Christentum: "Eines von seinen schmalen, eleganten Kapiteln bringt mehr Einsicht in die Grundlagen der 'Philosophia perennis' als sonstige "dicke Publikation[en]" und "bricht mit alten Vorurteilen und Schematismen" (Rez. L. Sturlese v. 03.11.1998).  

Phänomenalismus

Zurück zu Fichte: Auch in einem zweiten Punkt räumte dieser gelegentlich ein, dass seine WL an ihre Grenzen komme und Schellings Ansatz hier bedenkenswert sei, nämlich hinsichtlich ideeller Strukturen in der objektiven Natur bzw. im objektiven Nicht-Ich und damit letztlich im absoluten Ich. Schelling in seinen frühen und mittleren Phasen lässt aus dem Absoluten in sich eine doppelte Oberflächenstruktur entspringen, einmal wie Fichte den subjektiven Idealismus des Selbstbewusstseins plus den objektiven Idealismus der Natur im Ideenwissen: Natur ist der sichtbare Geist; Geist ist die unsichtbare Natur. Natur und Geist sind identisch und fallen im Absoluten zusammen. Es ist keine Frage, dass Schelling hiermit das neuplatonische Denken authentischer erfasst und wiedergibt als Fichte, der eher — wie der frühe Berkeley — einem idealistischen Phänomenalismus huldigt. Denn Fichte definiert Geist und Erkenntnis als phänomenalistisch-sensualistisches Zusammenspiel dreier Faktoren: Raumanschauung — Empfindung — Verknüpfungen zwischen den Empfindungen in Raum und Zeit: „Alles Bewustsein [sic!] ist sinnlich“ (Wissenschaftslehre nova methodo GA IV, 2, 136). Die grenzenlose, bewusste Raumanschauung ist primäres Definiens des theoretischen Ich, das mit sinnlicher, raum-zeitlicher Dimensionalität identifiziert wird (ebd. GA IV, 2, 30—31, 136, 147). Die Empfindung als Nicht-Ich ist dagegen das primäre Definiens des praktischen Ich: „Der ganze Begriff des Wollens [ist] sinnlich“ (ebd. GA IV, 2, 231; vgl. 160—161).

Das sekundäre Definiens des theoretischen und praktischen Ich ist die bewusste Synthesis (Einbildungskraft) und Analysis (Urteilskraft) von Empfindungen des intelligiblen, denkenden praktischen Ich im dimensionalen Raum des theoretischen Ich. Dies ist etwa die kantische These der transzendentalen Apperzeption (WL GA IV, 2, 31), welche Fichte einerseits als intentionale Tathandlung des Ich im Medium der Zeit fasst (Bewusstsein), die andererseits epistemisch durch reflexive intellektuelle Anschauung des Ich zugänglich wird (Selbstbewusstsein) (WL GA IV, 2, 32—33, 11—112, 125—127, 147—157, 161, 190—197, 212—232, 241—247). Vgl. Ch. Hanewald: Apperzeption und Einbildungskraft. Die Auseinandersetzung mit der theoretischen Philosophie Kants in Fichtes früher Wissenschaftslehre, Berlin / New York 2001.

Ideelle inhaltliche Denkstrukturen und Handlungsvorgaben des Geistes (Nous) im Sinne von Platon, Plotin, aber auch Aristoteles, worauf neben Schelling auch Fichtes Zeitgenosse, der geniale Logiker und Wissenschaftstheoretiker Bernard Bolzano, und auch Arthur Schopenhauer primär abheben, kommen in seinem ursprünglichen Ansatz nicht wirklich zum Einsatz und zum Tragen. Der Inhalt des Geistes ist bei Fichte nur und stets sinnlich-räumlich, materiell, und Geistigkeit und Freiheit kann — so Fichte dann konsequent — nur gerettet werden, wenn dieser an sich materielle Inhalt vom Geist qua absolutem transzendentalem Ich erzeugt wird (vgl. Bestimmung des Menschen, 1. Buch).

Der Idealismus führt aber seinerseits nur auf eine solipsistische Traumwelt, ein theoretisches Nichts, da alles intentionale und reflexive Wissen Abbildung ist, in Bildern ohne Realität, Bedeutung und Zweck besteht (Bestimmung des Menschen, Stuttgart 1981 [1800], 102—103, 121). Dieses Wissen konstituiert auch kein Ich, sondern einen unaufhörlichen Bewusstseinsfluss als „Es weiß“ (vgl. Bestimmung des Menschen, 2. Buch).

Wahrheit, Realität ist nur im Handeln, Gewissen und Glauben zu gewinnen, die gebieten, dass das Abbildungswissen des Idealismus (die Vorstellungsprodukte) realistisch interpretiert und als materielle Außenwelt und personales Fremdpsychisches angenommen werden soll: „Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft“ (Bestimmung des Menschen a.a.O. 124; vgl. überhaupt das 3. Buch 118—119, 121, 123, und WL GA IV, 2, 180—190, 246—266).

Theoretiker des Selbstbewusstseins

Die erste Reaktion von Logikern und Wissenschaftstheoretikern ist oft Kopfschütteln über die — trotz gegenteiliger Versicherungen — scheinbar unabgesicherten metaphysischen Voraussetzungen und Ableitungen Fichtes. Zum Teil kommt dies — auch in seinen eigenen Augen — daher, dass Fichte ein wirklich völlig selbstständiger Denker mit neuer und bewusst im Fließen gehaltener Terminologie ist. Zum Teil auch daher, dass er seine intellektuelle Sicherheit nach eigenen Worten aus — trotz aller Bemühung oft dunkel bleibender — Anschauung gewinnt: intellektuelle Anschauung, die in manchem an Plotins ursprüngliche intellektuelle Anschauung oder Ekstasis erinnert. Fichtes spekulative Kühnheit und Unbekümmertheit hat überhaupt eine neuplatonische Färbung. Bei eindringender Analyse zeigt sich aber ein Doppeltes. Einmal, dass Fichte mit der Wissenschaftslehre als Wissenschaft des Wissens tatsächlich eine legitime höchststufige Wissenschaftsdisziplin bzw. Wissenschaftstheorie bearbeitet:

"Fichtes geschichtliche Leistung besteht darin, erstmals und einzig das Selbstbewußtein als solches thematisiert und in seiner ganzen Problemdimension aufgerollt zu haben. Fichte kann damit als Theoretiker des Selbstbewußtseins par excellence gelten […] Seine Wissenschaftslehren [… stellen] die Versuche des immer tieferen Eindringens in die unvergleichliche Struktur des Selbstbewußtseins dar.“ (K. Gloy: Selbstbewußstsein als Prinzip des neuzeitlichen Selbstverständnisses. Seine Grundstruktur und seine Schwierigkeiten. In: Fichte-Studien 1 (1990), 44)

Zum anderen zeigt sich, dass, je öfter man die letzten Fassungen der WL zur Hand nimmt, die Belege stärker ins Relief treten, wonach Fichtes System in der Sache letztlich die Lehrstücke der Tradition in ziemlicher Vollständigkeit — autonom, abstrakt und oft sehr kompliziert — rekonstruiert und verkörpert. Dass er also wie Kant eher ein einerseits abschließender andererseits schöpferischer und methodisch innovativer Zeuge derselben ist vor dem großen Traditionsbruch nach 1800. Deswegen ist auch obige Einschätzung von Karen Gloy, Fichte habe erstmals und einzig das Selbstbewusstsein thematisiert, historisch so nicht zutreffend. Plotin und Augustinus sowie Eriugena und Cusanus taten dies genauso intensiv. Erhellend ist dazu J. Halfwassen: Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios, Stuttgart 1994, sowie Beierwaltes: Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt a. M. 2001. Beierwaltes konzentriert hier den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang zwar auf Schellings Theorie des Selbstbewusstseins und der Subjektivität, was jedoch auch für Schellings langjährigen Mentor Fichte relevant ist. Gegenwärtige Standarddarstellungen zu Augustinus' epochaler Analyse des Selbstbewusstseins sind J. Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in 'De Trinitate', Hamburg 2000, sowie R. Kany: Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der moderen Forschung zu «De Trinitate», Tübingen 22019..

Besonders deutlich wird Fichtes Einordnung in die Tradition auch im Vergleich mit De docta ignorantia oder Idiota von Nikolaus Cusanus, einem ebenfalls innovativen Zeugen der platonischen / plotinischen Tradition am Epochenübergang Mittelalter-Neuzeit. Cusanus "macht ...die Vernunft selbst zum Problem ... und zum Allerersten [...] Ideen ... von einer Tragweite, die sich erst viel später voll auswirkte, in der Philosophie des deutschen Idealismus [...] Unser Geist, heißt es da [Idiota de mente, Kap. 4] ... ist ein Abbild ... des göttlichen Geistes" und er "enthält ... alles in sich eingefaltet und vermag es aus sich zu entfalten [...] Im Individuum liegen Schöpferkraft, Freiheit und Spontaneität" (J. Hirschberger: Geschichte der Philosophie I, Freiburg 1991, 570, 577, 582). 

Hegels objektiver Idealismus

Epistemische Logik prozessualer Realität

Die evolutive Dynamik der angesprochenen idealistischen Projektion der Oberflächenstruktur im menschlichen Bewusstsein aus dem Urgrund des einen absoluten Seins, aus der Tiefenstruktur des Seins heraus, will Hegels spekulative [= reale und dynamische] Logik oder Dialektik nachkonstruieren, und zwar noch mehr und auschließlicher als Schelling in Form des objektiven Idealismus. Hegel in Heidelberg_Stich Bollinger

Hegels [Bild rechts] Unternehmen ist dabei durchaus motiviert durch die platonische Begriffslogik und ihre Metatheorie, die „einen höheren Begriff von dem Denken [hatte], als es in der neueren Zeit gang und gäbe geworden ist. Jene legte nämlich zugrunde, daß das, was durchs Denken von und an den Dingen erkannt werde, das allein an ihnen wahrhaft Wahre sei [...] Diese Metaphysik hielt somit dafür, daß das Denken und die Bestimmungen des Denkens nicht ein den Gegenständen Fremdes, sondern vielmehr deren Wesen sei oder daß die Dinge und das Denken derselben ... an und für sich übereinstimmen“ (Hegel: Wissenschaft der Logik I (hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel), Frankfurt/M. 1993 [1812/16], 38).

Und: „Es liegt überhaupt bei dem Gebrauche der Formen des Begriffs, Urteils, Schlusses, Definition, Division usf. zugrunde, daß sie nicht bloß Formen des selbstbewußten Denkens sind, sondern auch des gegenständlichen Verstandes.“ (Hegel 1993 [1812/16], 45) Programmatisch explizit: „Die objektive Logik tritt damit ... an die Stelle der vormaligen Metaphysik, als welche das wissenschaftliche Gebäude über die Welt war, das nur durch Gedanken aufgeführt sein sollte“ und besonders ist es „unmittelbar die Ontologie, an deren Stelle die objektive Logik tritt, — der Teil der Metaphysik, der die Natur des Ens überhaupt erforschen sollte“ (Hegel 1993, 61)

Hegel ist damit einerseits noch näher am (Neu-)Platonismus als Schelling, andererseits auch wieder entfernter, da sein objektiver Idealismus sich exklusiv im Medium des subjektiven Idealismus entfaltet: Das begriffliche Ideenwissen ist — mittels dialektischer Logik — sukzessiv immer weiter ausdifferenziertes Denkprodukt des transzendentalen Ich / allgemeinen Subjekts / Selbstbewusstseins, diesem also untergeordnet, nicht gleichgeordnet wie tendenziell bei Schelling oder vorgeordnet wie im (Neu-)Platonismus. Im Platonismus wird das Ideenuniversum nicht durch ein transzendentales Selbstbewusstsein erzeugt, sondern ist — im Ansatz schon bei Platon — überzeitliche, ontologisch-epistemische Lebensfunktion des absoluten Geistes (Nous), deren kritische Genese dem Leitstrahl des überseienden absoluten Einen / Guten folgt. Nur das Abbild des Ideenuniversums, die Welt der Erfahrung, ist das kognitive Produkt der überindividuellen Weltseele und der individuellen Psyche, und zwar wiederum im Leitstrahl des absoluten Einen / Guten plus des absoluten Geistes (Nous). Allerdings kann man mit guten Gründen Hegel auch so lesen, dass er fast perfekt das (neu)platonische Koordinatensystem reproduziert. Dies umso mehr als auch der späte Neuplatonismus eine Tendenz zeigt, den Hervorgang nicht nur der empirischen raum-zeitlichen Welt, sondern auch des kognitiven noetischen Universums aus dem absoluten transzendenten Einen als Produkt und/oder Reproduktion unseres dialektischen Denkens zu verstehen (siehe in Folge).

"Unhaltbare Leere" des transzendentalen Ich

Das transzendentale Selbstbewusstsein ist — kantisch gesprochen — nur die transzendentale analytische Einheit der Apperzeption qua unbestimmt identisches Existenzbewusstsein und Begleitwissen. Es ist daher — weiter in der kantischen Terminologie — die transzendentale synthetische oder objektive Einheit der Apperzeption, welche die kritische Konstitution oder Entwicklungsgeschichte der Denkinhalte des Universums der Erfahrung leistet, und zwar als Zusammenspiel von intensionaler Begriffslogik (Ideenuniversum) und extensionaler transzendentaler Logik: Formalontologie, am Leitstrahl der begriffslogischen Transzendentalien und transzendentalogischen Vernunftprinzipien und -ideen (siehe das Portal zur Philosophie der Logik). Für den springenden Punkt ist es gleichgültig, ob man hier Platon oder Kant zur Hand nimmt.

Wenn dagegen bei Fichte und Schelling das unbestimmt identische Ich oder Selbstbewusstsein zum exklusiven und absoluten inhaltlichen Erkenntnisprinzip gemacht wird, dann ist das entweder eine heillose Überfrachtung und Überforderung, die nicht funktionieren kann, so besonders nachdrücklich und ausdrücklich Hegel: "Dies reine Ich in seiner Abstraktion und Inhaltslosigkeit ... hat ... die Fülle des natürlichen und geistigen Universums als ein Jenseits sich gegenüber" und ist "gehaltlose und unhaltbare Leere" (Wissenschaft der Logik I, Frankfurt 1993, 267, vgl. 78—79, 98—104). Oder man stattet doch unter der Hand die leere Wohnung des Selbstbewusstseins mit mentalem Mobiliar aus, nämlich inhaltlichen ideellen Strukturen und transzendentalen Denkprinzipien und Erkenntniskriterien, wie besonders deutlich — und repräsentativ auch für Fichte — in Schellings Das System des transzendentalen Idealismus (1800). Dieses mentale Mobiliar ist aber kein Produkt des nackten Selbstbewusstseins, sondern eine apriorische Mitgift, deren Herkunft Platon in der Politeia, Plotin in den Enneaden und Augustinus in De libero arbitrio in der Transzendenz verorten.

Im deutschen Idealismus haben ansonsten besonders auch Friedrich H. Jacobi und Friedrich Schlegel für die Fichte'sche Philosophie als rationale Wissenschaft von "Ichheit und Identität [...] in der alle Wahrheiten wie in einer Nuß eingeschlossen liegen sollen", die polemische Metapher der "hohlen Nuß". Ihr gegenüber sei Kritik und Skepsis am Platz. Wie Platon und die christliche Philosophie der Antike und des späteren platonischen Augustinismus gezeigt hätten, sei, so Schlegel, das ganzheitliche, noetische Denken, die geistige Anschauung als natürliche und mentale Offenbarung "das Höhere, das Frühere und Ursprüngliche". Er verortet diese Noesis in seiner Spätphilosophie diesmal im Gegensatz zu Jacobi noch stärker in der Transzendenz, insofern sie zu ihrer Stabilisierung der positiven übernatürlichen Offenbarung bedürfe, welche in Glaube und Liebe erfahren und erfasst wird. Siehe E. Behler: Schlegels späte Idealismuskritik und das Thema der "Göttlichen Dinge". In: W. Jaeschke (Hrsg.): Religionsphilosophie und spekulative Theologie, Hamburg 1994, 182—194, v.a. 183—190.

Substanz und Subjekt: Sedimentierung und Verlebendigung

Wenn Hegel allerdings Aristoteles' Definition Gottes als nóesis noéseos "[globales] Denken des Denkens [des Absoluten]" für sich in Anspruch nimmt, muss man differenzieren. Aristoteles meint damit nicht wie Hegel eine transzendentale dialektische Selbsterschließung des Absoluten im objektiven Selbstbewusstsein des allgemeinen Individuums der Menschheit, sondern überzeitliche intellektive Selbstpräsenz. Dies hat T. Dangel umfassend herausgearbeitet: Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, Berlin / Boston 2013. Hegel lässt nun aber an vielen Stellen eigentlich keinen Zweifel daran, dass sein gesamtes dialektisches Denk- und Realsystem nicht identisch ist mit dem Sein und Denken des Absoluten in sich, sondern Gott im theistischen Sinn der Entwicklungsgeschichte des Geistes über- und vorgeordnet ist (vgl. z.B. Wissenschaft der Logik a.a.O. 1993, 44, 92). Unter dieser Voraussetzung sollte man daher Hegels Programm dahingehend präzisieren, dass es die Entwicklungsgeschichte des platonisch / plotinisch / proklischen Weltgeistes und den damit verwobenen Prozesscharakter des begrifflichen Erkennens der besonderen Individuen thematisiert, und zwar im Leitstrahl des Nous oder reinen begrifflichen Denkens. Wie gezeigt ist der Weltgeist oder die Weltseele zusammen mit der Psyche der Individuen die zweite Abbildung / Hervorgang und der Nous die erste Abbildung / Hervorgang des absoluten göttlichen Einen. Wie dieser Prozess und "das Verhältnis von Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit des eigenen und absoluten Grundes" im plotinischen Original zu denken ist, zeigt Beierwaltes: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3 ['Über die erkennenden Wesenheiten'], Frankfurt a. M. 1991.

Für Hegel ist der Weltgeist das allgemeine Individuum, verstanden als in der Weltgeschichte objektiv gewordener, sedimentierter, Substanz gewordener Geist. Er ist die Substanz der geistigen Individuen, welche diese ihre Substanz im Bildungsprozess nach-denken, zum Bewusstsein bringen und so zum lebendigen, selbstbewussten Subjekt machen, sowie durch ihr geschichtliches Denken und Handeln weiter entwickeln bis zur allseitigen Entfaltung des Wissens = Seins (Phänomenologie des Geistes a.a.O. 1988, 22—23).

Andererseits finden sich bei Hegel zahlreiche Belege, die eine Identifizierung unseres dialektischen Denkprozesses mit dem Denken des Absoluten selbst nahelegen, so dass, theologisch gesprochen, Gottes Bewussstsein und Denken sich erst in der Geschichte sukzessive in seiner Totalität entfaltet und im menschlichen Geist zu sich kommt. Das wäre die pantheistische Hegeldeutung, die in der sog. Hegel'schen Linken schnell zu einer atheistischen und materialistischen wurde. Da es bei Hegel keine epistemische und ontologische Auszeichnung der durch theoretische und praktische Vernunft bestimmten Seins-Sphäre gibt, gibt es auch keine prinzipielle Abgrenzung weder zur vorbegrifflichen noch zu einer alogischen Sphäre und auch nicht zur Sphäre amoralischen Handelns. Eine bekannte Sentenz Hegels lautet: Alles, was faktisch ist, ist eo ipso vernünftig und logisch. Dass alles, was geschieht, in letzter Instanz gerecht ist und sich einer moralischen Weltordnung einfügt, ist zwar auch eine Sentenz spiritueller und philosophischer Theodizee-Experten wie Johannes vom Kreuz oder G. W. Leibniz. Aber die Argumentationslinie Hegels scheint eine andere zu sein, insofern er wie Schiller die Weltgeschichte als immanentes Weltgericht versteht.

Dies gelingt freilich nur, wenn angesichts des großen Zieles der finalen Realisierung des absoluten Geistes endliches und individuelles Leben, Moral und Glück relativiert wird; wenn alle Dinge gleichermaßen ohne große moralische Skrupel zu vernünftigen und passenden Puzzleteilen des großen geschichtlichen Prozesses erklärt werden. Damit ist der Hegel'sche Weltgeist aber offen für eine totalitäre Deutung. Und auch offen für die Deutung, dass Materie und Empirie prinzipiell dasselbe wie Geist sind. Warum und wie Hegel zu dieser Gleichsetzung von Empirie und Begriff, von Faktizität und Rationalität kommt, ist weiter unten thematisch. Bei genügender Radikalisierung konfusen Denkens, wie Platon den Vorgang nennen würde, ergab sich so für marxistische Hegelianer der Angriffspunkt, die Blickrichtung auch umzukehren und zu sagen: Geist ist dasselbe wie Materie. Hegel würde das freilich für unstatthafte Konsequenzenmacherei halten; davon abgesehen hielte er es in der Sache für ultimative Torheit.

Im Marxismus-Leninismus wurde das so interpretierte System Hegels zur meistverbreiteten Philosophie des 20. Jh. Der Hegelschüler Karl Marx und praktisch alle normativen Denker des Marxismus und Kommunismus hielten die solchermaßen auf den Kopf gestellte dialektische Logik Hegels für die definitive wissenschaftliche Welterklärung: dialektischer und historischer Materialismus (DIAMAT und HISTOMAT). Das verkehrt natürlich alle zentralen Einsichten des Platonismus in ihr diametrales Gegenteil und ist für denselben größtmögliche Dummheit. Ich habe vor Jahren einen deutschen Geisteswissenschaftler kennengelernt, der sich in Sibirien zur selben Zeit wie Alexander Solschenizyn mehrere Jahre als Gefangener im Archipel Gulag aufhielt, dem bekannten System sowjetischer Arbeits- bzw. Konzentrationslager. Er sagte, das am meisten Hervorstechende und Charakteristische der marxistisch-leninistischen Gesellschaft sei nicht die totalitäre Gewalt, sondern die allgegenwärtige Lüge in jeder Rede, Zeitung usw., so dass alles auf den Kopf gestellt erscheint. Er hielt das für so typisch und aufschlussreich, dass er wie Solschenizyn über seine Erfahrungen ein Buch schrieb mit dem Titel: Die das Weiße schwarz und das Schwarze weiß nennen. Bis 1989 wurde jeder Bürger Brandenburgs, Sachsens, Mecklenburgs u.a. vom Kindergarten an in diesem dialektischen Materialismus sozialisiert. Die größte Nation der Erde verpflichtet auch im 21. Jh. nach wie vor offiziell ihre Bürger auf die dialektische Logik und Weltanschauung Hegels: Das mentale Koordinatensystem der Volksrepublik China ist formal und cum grano salis dasjenige Proklos', nur auf dem Kopf stehend. In der Praxis steht es allerdings, wie bekannt, inzwischen wieder auf den Beinen.

Systemstelle des Intellectus agens

Wenn man der theistischen Hegeldeutung folgt, dann wäre die eigentliche und richtige Systemstelle bei Aristoteles für Hegels absolutes Denken des Weltgeistes der aktive, analysierende, begriffserfassende Intellectus agens, was auch öfter von Philosophiegeschichtlern angemerkt wurde. Dies umso mehr als eine breite antike (Alexander von Aphrodisias) und arabische (Avicenna, Averroes) Auslegungstradition den Intellectus agens als überindividuelle transzendente Substanz im Sinne des neuplatonischen Nous fasste, der in uns denkt, sodass der menschliche Geist im begrifflichen Erkennen zugleich der absolute Geist ist: Je mehr kognitive Erkenntnisinhalte wir in unserem endlichen, individuellen Geist (Intellectus possibilis) aufnehmen, desto vollkommener vereinigen wir uns mit dem Intellectus agens, so dass unser subjektiver Geist schließlich alle geistige und sinnliche Realität, alles Wissen des objektiven absoluten Geistes umfasst. (Averroes hält übrigens sogar den Intellectus possibilis für überindividuell.) Thomas Aquinas und die Hochscholastik überhaupt setzen sich mit dieser These ausführlich so auseinander, dass sie differenzieren: (i) Der Intellectus agens ist keine überindividuelle Substanz, sondern ein Vermögen der menschlichen Kognition. (ii) Dieses Vermögen operiert aber mit überindividuellen, apriorischen Kategorien und Erkenntnisprinzipien, deren unbedingte und unhintergehbare Geltung im Absoluten gründet. (iii) Die Existenz dieses souveränen kognitiven Vermögens zeigt damit die metaphysische Formatierung des menschlichen Geistes als Manifestation und Bild des Absoluten (vgl. z.B. Summa theologica I, 88, 1). In der Kognitionswissenschaft der Gegenwart entspricht dem Intellectus agens etwa das propositional-sprachliche Arbeitsgedächtnis mit den apriorischen theoretischen und ethischen Regeln der "objektiven Vernunft" (Nagel) in der "Welt 3" Bolzanos, Freges und Poppers. Dem Intellectus possibilis entspricht etwa das deklarativ-semantische Langzeitgedächtnis.

Davon abgesehen ist die Hypothese Hegels in der neuplatonischen Perspektive servatis servandis nicht falsch, dass Denken und Philosophie letztlich Theologie ist. Das ist im Prinzip, vor aller theistischen oder monistischen Weiterbestimmung des Absoluten, auch logisch nicht anfechtbar und widerspruchsfrei. Weiterführend hierzu J. Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchung zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Hamburg 2005, sowie Beierwaltes: Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren, Frankfurt a. M. 2007.

Triadischer Algorithmus

Hegels Selbsteinschätzung als neuer Proklos, welche auch Zeitgenossen teilten, ist berechtigt. Proklisch ist schon der Wille und die Agenda des logischen, wissenschaftlichen Auf-den-Begriff-Bringens des gesamten Universums. Ebenso ist auch das triadische Schema oder besser: der triadische Algorithmus der dialektischen Logik Hegels proklisch: These — Antithese — Synthese. Proklos sagt allerdings nicht negierende, umstürzende Antithese des ursprünglichen Begriffs (= These), sondern den Zusammenhang wahrendes Herausgehen aus dem Inhalt bzw. Umfang des ursprünglichen Begriffs (proodos), was besser Exothese heißt. Zwar findet man auch im Neuplatonismus gelegentlich die sprunghafte Denk- und Seinsbewegung von der Negation in das positive Sein. Insofern ist auch Hegels Denkschema des antithetischen, dialektischen Umschlags in dieser Tradition vorgedacht, aber die methodische Herangehensweise erscheint insgesamt doch signifikant anders. Philosophiehistoriker sehen bei Proklos und zuvor Plotin manchmal tout court eine in Platons Spätdialogen Sophistes und Parmenides schon begonnene Systematisierung der intensionslogischen Ideenteilhabe (Methexis) und Ideenkommunikation oder -verflechtung in den extensionslogischen Objekten der Welt der Erfahrung. Also die Anwendung der beiden Methoden platonischer, aber auch aristotelischer Prinzipienfindung bzw. Definitionstheorie: progressive Begriffsdifferenzierung: Dihairesis und regressive Begriffskombination: Synagogé.

In moderner Terminologie kann man hier an analytische Begriffsexplikation, synthetische Begriffserweiterung, Kausalrelationen und Ganzes-Teile-Relationen in systemischer Selbstorganisation und -referentialität denken: "Die Methode des Parmenides ist die Dialektik, woraus zu schließen ist, daß die Dialektik die Methode des Begreifens der Einheitsentfaltung und -bewegung, der Verhältnisse von Sein (Hervorgegangenem) und Einem (Grund) bedeutet [...] Die Dialektik ist die Methode der Wesenserschließung des Absoluten, so daß sie ... die höchste Methode sein muss. Sie teilt Eines in Vieles, Ganzes in Teile, setzt Ideen unter der Einheit höherer und allgemeiner Ideen ins Verhältnis, untersucht die Folgen bestimmter Hypothesen [ideelle Voraussetzungen] als Anfängen, gebraucht Dihairesen von Gattungen zu Arten, entwickelt Definitionen von Entitäten, die ein Ganzes erfüllen und verschieden von einander sind, weshalb sie verbunden und abgegrenzt werden, zeigt Ideen in ihren Gegenteilen auf, analysiert und demonstriert." (Dirk Cürsgen: Henologie und Ontologie. Die metaphysische Prinzipienlehre des späten Neuplatonismus, Würzburg 2007, 135)

Negationshorizont des Absoluten

Bekanntlich haben einige Neuscholastiker und auch Popper Hegels antithetisches Denken der Negation oder des Widerspruchs als systematischen Verstoß gegen das oberste Prinzip des Denkens, den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, kritisiert. Er zersetze damit korrektes Denken und effiziente Intelligenz. Hegel wehrt sich allerdings gegen diesen Vorwurf und widmet einen großen Teil der sog. objektiven Logik der Erklärung seines Grundsatzes der Identität von Sein und Nichts. Man müsse sie als Einheit beider Bestimmungen im Werden sehen. Das Werden oder Entstehen und Vergehen sei das Gesetz, unter dem alles Dasein unserer Erfahrungswelt steht (a.a.O. 1986, 82—115). Das sagt tatsächlich auch Platon im der dialektischen Logik gewidmeten Dialog Parmenides, auf den Hegel sich in prominenter Weise bezieht. Der Parmenides ist die "Wissenschaftstheorie des Neuplatonismus" (Cürsgen a.a.O. 2007, 37) und der Referenztext schlechthin für Plotin, Proklos und den letzten Direktor der platonischen Akademie Damaskios (462—538 n.C.), sodass sich noch einmal die Nähe Hegels zu dieser Tradition zeigt. Hegels Logik des Widerspruchs ist daher prinzipiell Geist vom Geiste Platons: "Das Denken des Absoluten im Parmenides" wird "als Denken eines totalen Negationshorizontes entfaltet ... in der Form einer geschlossenen Prinzipientheorie des faktischen Seins, die ... Negationen entspringt" (Cürsgen 2007, 97), "so daß das Sein in seiner Ganzheit als Versöhnung und Auflösung der Widersprüchlichkeit im Denken des Einen auftritt" (93) und "der Seinskosmos die Hypostasierung der Grundkonkretionen des Widerspruchs ist" (92).

Negative Theologie versus Biophilosophie

Die obige Kontroverse wiederholt in gewisser Hinsicht die zentrale und epochale Auseinandersetzung Aristoteles' mit seinem Lehrer Platon. Ein, wenn nicht das Leitmotiv der aristotelischen Metaphysik ist, dass nicht Ideen und Begriffe die erste und eigentliche Realität sind, wie tendenziell Platon und später Hegel sagen. Ideen sind — ontologisch — definitorische, essentielle Begriffskerne und akzidentelle Bestimmungen der eigentlichen Realitäten oder ersten Substanzen. Dabei sind erste und eigentliche Substanzen nur und genau aktuell existierende biologische Organismen, personale Lebensformen, spirituelle Lebensformen und das transzendente göttliche Leben.

Die Gegenstände der unbelebten Natur sind in der aristotelischen Theorie keine Substanzen, sondern atomare oder Elementarformen und deren Aggregate (Gase, Flüssigkeiten, Metalle, Erden). Im gesamten Bereich der Physik, Chemie, Geologie usw. gibt es keine eigentlichen Substanzen und Wesensbegriffe (Essenzen). Dasselbe gilt für alle technischen Produkte: Bauwerke, Geräte, Maschinen, Fahrzeuge und Schiffe sind keine Substanzen. Auch die Gegenstände der Mathematik sind keine ersten und eigentlichen Substanzen. Und auch nicht abstrakte Gattungen bzw. Gattungsbegriffe wie Säugetier, Raubvogel oder Kerbtier (Insekt). Ferner sind auch Ideen und Begriffe von eigentlichen lebenden Substanzen lediglich virtuelle, potentielle Realitäten oder — wie scholastische Aristoteliker sagen — zweite Substanzen. Diese zweiten Substanzen sind allerdings — als durchbestimmter Artbegriff (átomon eīdos, quidditas, forma intelligibilis, essentia) und Formursache (causa formalis) — durchaus das wichtigste Seinsprinzip der ersten Substanzen.

Die ersten Substanzen, also die real existierenden biologischen und v.a. personalen Lebensformen, können diese zweiten Substanzen oder Ideen — epistemisch — aus der wirklich existierenden Welt abstrahieren und als begriffliche Denkinhalte isolieren: átomon eīdos oder durchbestimmter Artbegriff. Die zweiten Substanzen sind hier wiederum das wichtigste und zwar diesmal Erkenntnisprinzip der ersten Substanzen. Aber Existenz, aktuelle Realität haben Ideen nur in selbstständigen, natürlichen Lebensformen, also in den ersten Substanzen; und letztlich und eminenter Weise — auch für Aristoteles, siehe in Folge — in der ersten und archetypischen Substanz, dem göttlichen Leben. Erste Substanzen unserer Erfahrungswelt bestehen dabei aus ihrer aktuellen Wirklichkeit (enérgeia) plus ihrer potentiellen Wirklichkeit oder ihrem artspezifischen, durch die zweite Substanz abgesteckten Möglichkeitsraum (dýnamis). Erste Substanzen sind als Lebensformen mit einem stabilen ideellen Kern (eidos, zweite Substanz) die Kontinuität und Identität garantierende Basis für die ansonsten dynamisch wechselnden und sich unablässig negierenden ideellen Bestimmungen.

Erste Substanzen und das heißt auch echte Subjektbegriffe sind — abgesehen von dem transzendenten göttlichen Archetyp substantiellen Seins und abgesehen von spirituellen Substanzen — nur biologische und / oder psychische Systeme oder Organismen (K. Oehler: Die Lehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken bei Plato und Aristoteles, Hamburg 21985, 220—221, 233—234). Wir haben das bereits geklärt. Ansonsten kommen nur Prädikatbegriffe zur Anwendung: „In aristotelischer Terminologie ist eine platonische Idee nichts weiter als ein Begriff, der von einem Subjekt aussagbar ist. Sie ist also kein Seiendes im wirklichen, ersten und strengen Sinn des Wortes, weil sie nicht ein Subjekt ist.“ (E. Gilson: L’Être et l’Essence, Paris 21987, 52). Subjektsein heißt für Aristoteles primär eine existierende Substanz sein, Leben, Entelechie, Kraft, Bewegungsursache sein. Aristoteles nennt daher — so Gilson — die Bewegung und Veränderung das zentrale Problem, vor dem platonische Ideen versagen: „Sie sind für diese — sinnlich wahrnehmbaren, kosmischen oder auch lebenden — seienden Dinge keine Ursache irgendeiner Bewegung oder irgendeiner Veränderung“ (a.a.O. 1987, 54, Metaphysik A 9, 991a 19—20). Ebenso Thomas Aquinas: Universalien (Ideen, Allgemeinbegriffe) sind ontologisch eine allgemeine Struktur oder Natur (natura universalis) in den konkreten Dingen, deren Allgemeinheit oder Anwendbarkeit auf viele Dinge aus einer Abstraktion hervorgeht und daher entgegen der Auffassung Platons später ist als die konkreten Dinge (Summa Theologiae, I, Qu. 85, Art. 1, ad 1). Die begrifflichen Allgemeinstrukturen (Ideen, Universalien) sind daher — wie Aristoteles in Buch VII der Metaphysik betont — keine Existenzursachen (wohl aber Seinsursachen qua Formursachen); und sie sind keine Substanzen (wohl aber deren begriffliche Kerne) (ebd. I, Qu. 85, Art. 1, ad 2).

Aristotelische Prinzipientheorie

Ein klassisches Referenzwerk hierzu ist Christian Pietsch: Prinzipienfindung bei Aristoteles. Methoden und erkenntnistheoretische Grundlagen, Stuttgart 1992 [22012]. Pietschs Beweisziel ist dabei die Kontinuität von Platon zu Aristoteles, insofern das ideelle Eidos (zweite Substanz) auch in der aristotelischen Theorie entscheidende Seinsursache (Form) und Erkenntnisprinzip (Definition) der empirisch existierenden Substanz ist (1992, 9—77). Der Standardeinwand hiergegen stützt sich v.a. auf die Kategorienschrift, wo Aristoteles in Kapitel 5 die Substanz als individualisiertes, materialisiertes Eidos versteht, also als empirisch eingebettete und limitierte Idee oder erste Substanz. Pietsch argumentiert dafür, dass Aristoteles hier auf der Ebene der Natürlichen Sprache und ihrer logischen Semantik argumentiert, die tatsächlich dieses Begriffsverständnis von Substanz als individuelle Lebensform hat. Das bedeute aber ganz und gar nicht, dass die (im aristotelischen Corpus sonst, v.a. in den Substanzbüchern der Metaphysik Z bis Θ im Vordergrund stehende)  Formursache (Eidos, zweite Substanz) nicht ontologisch und gnoseologisch zentral ist. Eine begriffsgeschichtliche Erörterung und systematische Begründung dieser Sicht ist ferner R. Thiel: Aristoteles' Kategorienschrift in ihrer antiken Kommentierung, Tübingen 2004. Das Buch setzt im Übrigen Maßstäbe für das Verständnis und die Begründung der aristotelischen Kategorientafel.

Mir scheint dennoch, dass die Scholastik mit ihrer auf die Kategorienschrift gestützten Vorordnung des individualisierten, empirisch eingebetteten Eidos als erste Substanz Aristoteles' Geist und Stoßrichtung trifft. Auch Pietsch macht an vielen Stellen darauf aufmerksam, wie sehr Aristoteles' Metaphysik, Wissenschaftstheorie, Logik und Psychologie — gegen Platon — die Empirie stark macht. Dass z.B. die Erörterung der logischen Schlussverfahren und wissenschaftlichen Beweisstrategien meist auf der Ebene empirischer Beobachtungen, Verallgemeinerungen und faktischer Kausalrelationen spielt, und nicht auf der Ebene begriffsanalytischer Dialektik und Argumentation (i.e.ideeller eidetischer Begriffslagen). Und dass Substanzen sich allgemein aus einem essentiellen, analytischen Begriffskern und materiellen, synthetischen, empirischen Elementen zusammensetzen, so Pietsch selbst (1992, 279).

Dazu kommt, um eine weitere aristotelische Kritik Platons aufzugreifen, dass die obersten Begriffe der platonischen Ideenhierarchie wie Einheit, Sein, Wesen (Etwas-Sein) keine normalen generischen oder Gattungsbegriffe sind. Sie sind auch keine obersten Gattungsbegriffe oder Kategorien. Sie sind, wie der scholastische Aristotelismus sagen wird, transzendentale Begriffe. Sie sind über den Gattungsbegriffen und Kategorien stehende Transzendentalien. Sie sind ultimative Seins- und Denkbedingungen für alle aktuellen Realitäten, Substanzen, Eigenschaften (Akzidentien) sowie virtuellen Ideen und abstrakten Begriffe. Einheit, Sein usw. sind ferner nicht nur transzendentale Begriffe, sondern auch analoge Begriffe. Das heißt: Sie haben ein primum analogon, einen prototypischen Referenten und gelten darüber hinaus sekundär, in unterschiedlicher Abschattung von allem was existiert. Der prototypische Referent sind erste Substanzen, selbstständige, natürliche Lebensformen, wobei die Transzendentalien v.a. aber nicht nur deren Formursachen (Eide) bestimmen.

Allerdings kann Pietsch (a.a.O. 1992, 194—252) unter Diskussion der praktisch gesamten Kommentar- und Forschungsliteratur beweisen, dass Aristoteles auch mindestens implizit lehrt, dass diese prototypischen Referenten ihrerseits noch einmal — ganz im Sinne der platonischen Prinzipienlehre — von einem ontologischen und kognitiven Archetyp abhängen, das ist von dem transzendenten Über-Einen, Über-Seienden und absolut Guten: "Das Eidos wird in seiner intelligiblen Eigenständigkeit garantiert durch Gott, der in der Nóēsis noēseos in einem reflexiven Akt sich selbst als den Urheber alles Seienden erkennt." (223)  Das ist Thema namentlich von Buch Lamda der Metaphysik. Dass diese ontologische Verankerung der Transzendentalien im Absoluten von Aristoteles nicht wirklich aufgearbeitet wird, ist bereits eine Kritik antiker Kommentatoren wie Syrianus und wird auch von Pietsch zugegeben, der eine überzeugende Darlegung dann in der aristotelischen Scholastik erkennt (1992, 232—234).

Wenn man diese Unterscheidungen nicht macht und nicht lebendige Akteure — Personen und Organismen — als die wirkliche, substantielle Realität in den Blick bekommt, dann gibt es, so Aristoteles, kein substantielles Sein. Dann ist auch das metaphysische Nichtwiderspruchsprinzip nicht haltbar, das ein identisches substantielles Sein voraussetzt. Dann gibt es keinen Fixpunkt des Denkens, sondern nur einen "bacchantischen Taumel ... trunkener Glieder [= Ideen]" (Hegel, s.u.). Dann gerät man wie wie der späte Plato im Parmenides und der späte Neuplatonismus in den totalen Negationshorizont, in eine endlose Spirale immer wieder dialektisch negierter Ideen von Ideen von Ideen usw. (Vgl. Metaphysik Buch Γ sowie die Bücher M und N): "Hier ist ... die Stelle, wo Aristoteles sich von Platon trennt: dieser Chorismos, die diskrete, letztlich unüberbrückbare Trennung der Ideen voneinander. Der in seiner Kritik und in den Darstellungen gewöhnlich im Vordergrund stehende andere Chorismos, die Trennung der Ideen von den Dingen, ist demgegenüber durchaus sekundär." (K. Schilling: Platon, Reutlingen 1948, 232 und überhaupt 214—240 zum Dialog Parmenides)

Auch Pietsch sieht hier das Kerndefizit Platons: Die Logik der Forschung oder Dialektik "muß sich nach Aristoteles primär auf das Wesen (tí 'estin), also die erste Kategorie [der Substanz], nur sekundär auf die anderen beziehen, denn gerade die definitorische Fassung des Wesens bildet das Prinzip der beweisenden Wissenschaften. Gerade hier liegt für ihn die Schwäche der (platonischen) Dialektik vor ihm: in der mangelnden Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Bedeutungen von eīnai [sein] zu unterscheiden und mit Hilfe der Konzentration auf die erste Kategorie die Wissenschaftsprinzipien zu finden." (a.a.O. 1992, 192) Nach Metaphysik E 1 ist der Gegenstand der Metaphysik das ón hē ón / ens inquantum ens / Seiende als Seiendes. Pietsch bilanziert den Stand der Forschung zu dieser vielverhandelten Frage. Aristoteles meint damit, wie er belegen kann, das, was Wesen, Prinzip und Ursache der Objekte der einzelnen (strenger Wissenschaft fähigen) Seinsbereiche und damit der apodiktischen wissenschaftlichen Disziplinen ist. Das sind die spezifischen Substanzen. Sie und ihre Definitionen sind die jeweiligen einzelwissenschaftlichen Prinzipien. Sie stellt die Metaphysik bereit. Denn Metaphysik ist Prinzipientheorie. Die Einzelwissenschaften begründen ihre Prinzipien nicht selbst, sondern setzen sie voraus (1992, 264—281).

Dabei ist die erste Kategorie der Substanz, wie fortlaufend deutlich wurde, zweidimensional, weil zwar auch Artbegriffe oder definitorische Begriffskerne (eidē) lebender Akteure ein identisches, und zwar ideelles und essentielles Sein sind, als zweite Substanz. Aber das Ideenuniversum oder der begriffliche und ontologische Möglichkeitsraum ist ein grenzenloses Multiversum mit endlos rekombinierbaren, zusammenhanglosen Optionen, deren einzige Grenze das logische Nichtwiderspruchsprinzip ist. Um eine stabile, substantielle (meta)physische Realität zu gewinnen, muss ich eine mögliche Welt auswählen und in einem anderen als nur begrifflichen Sein existentiell setzen, als erste Substanz.

Erkenntnisprozesse und Sachprozesse sind gegenläufig

Das hier anstehende Problem wird noch einmal potenziert, wenn man wie in manchen neuplatonischen Tendenzen alles Denken und Erkennen vom Absoluten ableiten will, als begriffliche Explikation des transzendenten Einen und Nous. Dann ist man, wie gezeigt, ipso facto in der Sphäre der negativen Theologie, die für unser Erkennen ein reiner Negationshorizont ist. Diese Sphäre ist zwar auch für Aristoteles die ultimative Realität und Prinzip der Kognition, aber nur als als analytisch letzte ontologische und kognitive Voraussetzung. Aus ihr kann aber empirische Realität nicht ohne aus der Wahrnehmung kommendes Material und Anstöße deduziert werden. Wir können in unserem noetischen Intellekt und unserer diskursiven Rationalität bei allem Begriffsaufwand Gott nicht nach-denken und so als inhaltliches Erkenntnisprinzip ansetzen. Denn Gott ist zwar als "Denken des Denkens seiner selbst" in sich das höchste Erkenntnis- und Seinsprinzip. Aber dieses vollzieht sich im — für uns unmöglichen — Erkenntnismodus der intellektiven holistischen aktuellen Selbstpräsenz, nicht im Erkenntnismodus eines dialektischen, dynamisch wechselnden Negationshorizontes: "Das göttliche Prinzip von sich selbst her ist ... reine Einheit, die lediglich, ganz wie im platonischen Parmenides, zunächst nur negativ beschrieben werden kann [...] Beim reinen hen (= Gott) ist ... nur noch eine rein negative Form der Beschreibung möglich." (Pietsch 1992, 233, 248).

Wie Pietsch (1992) aufweist, vertritt Aristoteles zwar auch unausdrücklich und latent wie der Platonismus diese Thesen: (i) Denken und Sein, Gnoseologie und Ontologie sind bikonditional und inhaltlich identisch. (ii) Die Prinzipien (Grundbegriffe & Grundsätze) des Denkens sind die Prinzipien des Seins. (iii) Die kognitive Erfassung und wissenschaftliche Strukturierung der Realität folgt den Transzendentalien Einheit und (begriffliches, intensionales) Sein. (iv) Die überseiende, transzendentale Einheit (Hen) ist das oberste Denk- und Erkenntnisprinzip. (v) Die überseiende, transzendentale Einheit (Hen) ist damit zugleich als Überseiendes Eines das oberste Seinsprinzip und die erste transzendente Ursache: "Die aristotelische Erkenntnistheorie wie auch die Ontologie sind damit bestimmte Aspekte der Theologie oder doch zumindest prinzipiell in ihr begründet." (1992, 264)

Aber: Die Transzendentalien sind für uns analytische Reflexionsbegriffe, die auf mathematische und empirische Materien angewandt werden. Einheit und Sein sind für uns keine synthetischen Maximalbegriffe der einen absoluten Totalität des Seins, aus denen alles andere ohne Rekurs auf die empirische und geschichtliche Erfahrung folgt: Sie sind uns nur "als zwar erstes, aber inhaltlich unbestimmtes Prinzip gegeben" (Pietsch 1992, 280). Pietsch macht unmissverständlich klar, dass nach Aristoteles unser Erkenntnisprozess genau umgekehrt verläuft wie die reale, ontologische Ableitung und Prozessrichtung. Das für uns, erkenntnismäßig Erste (próteron hēmín) sind unbestimmte Gattungen bzw. deren Begriffe; das real Erste (próteron phýsei) sind dagegen durchbestimmte Arten bzw. deren Begriffe. Diese Letzteren erkennen wir aber erst am Schluss unserer Analyse der Realität. Außerdem ist immer im Auge zu behalten, dass das alles nur für den Bereich begrifflich notwendiger eidetischer Gegenstände gilt. Ein Löwenanteil der Erfahrung und Wissenschaft erreicht jedoch nur aposterorische, induktive, abstrakte Allgemeinbegriffe und nur faktische, kontingente Ursache-Wirkung-Beziehungen. In der ganzen physikalischen Naturwissenschaft gibt es nach Aristoteles keine einzigen begrifflich notwendigen, eidetischen Gegenstände und damit auch keine Form. und Zweckursachen, sondern nur akzidentelle Generalisierungen und Wirkursachen (vgl. Pietsch 1992, 275, 306—307, 323). Überall hier gilt die Isomorphie von Ontologie und Gnoseologie, also die Gleichung Denken = Sein, natürlich nicht. 

Aristoteles' Erkenntnistheorie mündet mithin auch in Sein = Leben = Geist des besten und ewigen Lebewesens, wie er Gott nennt: Buch Λ 7 und 9 der Metaphysik, aber sie fängt nicht damit an. In der dortigen Definition Gottes als "Denken des Denkens" sieht Hegel den ultimativen Höhepunkt der Geistesgeschichte. An diesen will er anknüpfen und ihn im Reflexionshorizont der Moderne erneuern. Buch Λ 7 ist für ihn ganz ausdrücklich die Keimzelle seines Systems. Und der Zellkern ist — um im Bild zu bleiben — der genetische Kode der spekulativen, dialektischen Logik, der den Organismus des absoluten Wissens = Seins sukzessive entwickelt und Gestalt gewinnen lässt. Bei Aristoteles handelt es sich — weiter im Bild — nicht um einen dynamisch zu entfaltenden Keim, sondern um totale simultane Präsenz des absoluten geistigen = lebendigen = ontologischen Organismus. Vgl. noch einmal Dangel: Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, Berlin / Boston 2013.

Der prototypische Referent für unser Denken der transzendentalen Einheit ist nicht das transzendente Absolute, sondern die erste Substanz der immanenten Welt der Wahrnehmung und Erfahrung, also die biologische und psychische Lebensform. Unser Erkennen fängt nicht mit dem Denken des Absoluten an, sondern mit den Artbegriffen der Lebensformen oder Organismen. Anfang der Wissenschaft ist nicht die Sphäre reinen Geistes oder die Theologie, sondern die in der Sinneswahrnehmung eingebettete Biophilosophie und Philosophie des Geistes (vgl. Pietsch 1992, 245). Diese aristotelische Lebensphilosophie muss dennoch nicht in unverträglichem Gegensatz zum Platonismus stehen, da Letzterer ebenfalls alle Prämissen hierfür in der Hand hat und auch entsprechende Folgerungen zieht, wie obiges Zitat Beiwerwaltes' deutlich macht: "Leben aus sich ... ist Maß und Grund alles anderen Lebens. Darin ist es dem Sein und der Funktion des Geistes analog [...] Das denkende Sich-Selbst-Durchdringen des Seins und die Selbsterkenntnis des Geistes als wahres, eigentliches und ursprüngliches Sein ist also das ‚Leben‘, die dem Sein eigentümliche ständige Bewegtheit [...] Der Geist könnte daher zu Recht von sich sagen: ‚ich bin Sein‘“ (Beierwaltes a.a.O. 1972, 18—21). Die Tendenz des Neuplatonismus ist lediglich, diese Lebensphilosophie stets sofort und primär vom Leben des transzendenten Einen und absoluten Geistes her zu denken, und nicht, wie Aristoteles, von den immanenten, endlichen Lebensformen her. Wobei, wie oben erwähnt, als eine sehr gut begründete Sicht in der jüngsten Forschung festzuhalten ist, dass Aristoteles auch eine ultimative kognitive und ontologische Abhängigkeit der endlichen Lebensformen von dem archetypischen Geist und Leben des göttlichen Absoluten vertritt.

Wir werden in Folge sehen, dass man die These vertreten kann, dass an dieser Problemlage der (Neu)Platonismus im 5./6. Jh. an sein aporetisches Ende kommt. Und dass an dieser Problemlage auch der Deutsche Idealismus speziell Hegel'scher Prägung an sein aporetisches Ende kommt, was Schelling klarstmöglichst formuliert. Schellings Spätphilosophie ist in der Sache weithin die Anerkennung und Umsetzung der zentralen Kritikpunkte Aristoteles' – sowie Thomas von Aquins und Immanuel Kants – am Platonismus und virtuell an Hegel und dem Deutschen Idealismus üblicher Ausprägung. Schelling und das gesamte folgende 19. und frühe 20. Jh. greifen, in positiver Hinsicht, sofort auch Aristoteles' Lebensphilosophie auf als neuen Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie und Ontologie (s.u.).

Dialektische Logik versus Irrationalität

Man kann dennoch sagen, dass auch Platon und Proklos sich mit Hegels Sprechweise schwer tun würden, die atmosphärisch oft entweder als postkatastrophisch erregtes 19. Jh. erscheint oder an die mystische Nacht der Sinne und des Geistes gemahnt. So wenn Hegel das "Leben des Geistes" dialektisch vom Aufenthalt im Reich des "Furchtbarsten", nämlich des "Todes" abhängen lässt, und "Wahrheit" vom Ins-Auge-fassen "der absoluten Zerissenheit" und "Verwüstung", welcher die Zauberkraft der Verwandlung der Negation bzw. des Nichts in das Sein innewohnt (Phänomenologie a.a.O. 1988, 26—27). Zwar ließe sich auch hier zeigen, dass der Neuplatonismus sich ebenfalls gerne der dramatischen Sprache des Mythos und der Tragödiendichtung bedient, welche er neben der Philosophie als ergänzende Erkenntniszugänge und -medien anerkennt. Siehe dazu D. Cürsgen: Die Rationalität des Mythischen: Der philosophische Mythos bei Platon und seine Exegese im Neuplatonismus, Berlin 2002. Aber der Ton und der Ductus sind wiederum signifikant verschieden, wie das gegenwärtige Referenzwerk Gyburg Radkes zum Thema zeigt: Das Lächeln des Parmenides.Proklos Interpretationen zur Platonischen Dialogform, Berlin / New York 2006. Sie setzt sich hier schwerpunktmäßig mit der rationalitätskritischen bis rundheraus irrational-subjektivistischen Platondeutung der Romantik und der Postmoderne auseinander.

Man sieht hier manchmal auch einen Zusammenhang mit der Sozialisation und Ausbildung Hegels, der professioneller Theologe der lutherischen Tradition war. Die im 20. Jh. meistgelesene Geschichte der Reformation hebt ins Relief, dass für Luthers Denken und Leben der Irrationalismus zentral ist: Realer Widerspruch, logische Inkonsistenz, Paradoxie, Absurdität sind Strukturmerkmale der Welt. Sie ist nirgends göttlich geordneter Kosmos, sondern dämonisches Chaos. Auch der menschliche Geist hat kein Potential für Vernunft und Weisheit, sondern ist inkohärentes, agnostisches mentales Chaos: "Harter Widerspruch im Sinne des ... Unmöglichen" ist Merkmal theologischer Wahrheit (J. Lortz: Die Reformation in Deutschland I, Freiburg 1982, 149—153). Nun ist bekannt, dass Hegels theologischer Hintergrund bereits im 16. Jh. durch den Mitbegründer der lutherischen Konfession Melanchthon ein vernunftorientiertes Gegengewicht erhielt. Dass ferner Hegel selbst unter Art und Geist seiner theologischen Universitätsausbildung in Tübingen litt und deswegen sich sehr früh mit Platon und Aristoteles beschäftigte. Aber wenn er in der Phänomenologie von der dialektischen Logik sagt wir haben die Stelle oben schon kurz berührt: "Das Wahre ist ... der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist und weil jedes ... sich ... ebenso unmittelbar auflöst ... ist er [der Taumel] ebenso die durchsichtige einfache Ruhe" (a.a.O. 1988, 35), dann sind jene nicht von vorne herein irrational, die sich fragen, ob sein Denken gänzlich aus dem Schatten Luthers heraustrat. So der Lubliner Rechtsphilosoph und Theologe T. Guz: Zum Gottesbegriff G. W. Hegels im Rückblick auf das Gottesverständnis Martin Luthers. Eine metaphysische Untersuchung, 2. Aufl. Lublin 2004.

Auch die Vorbehalte des Gründervaters des Deutschen Idealismus, Fichte, decken sich teilweise mit jenen des Platonismus. So sieht er eine vollständige Nachkonstruktion des Universums, welche Hegel vorschwebt, als nicht möglich an, da wir hier sehr bald nur noch unableitbare empirische Gegebenheiten oder, wie Fichte sagt, nicht deduzierbare Faktizität haben. Fichte ist somit zwar ein weiterer, entschiedener Ideengeber für Hegels Gleichsetzung von Begriff und Realität und auch dessen dialektischer Methode im Auf-den-Begriff-Bringen der Realität, aber die konkrete Ausführung ist sehr verschieden. Denn Fichtes Weltanschauung kennt und anerkennt zugleich die überbegriffliche Sphäre des einen, unveränderlichen absoluten Seins, Lebens und Wollens jenseits diskursiver begrifflicher Formen. Und gegenüber Hegels ausschließlicher Herrschaft des Begriffs ist, wie gezeigt, ein Hauptcharakteristikum der WL Fichtes die allgegenwärtige und sogar dominante, irreduzible Rolle der vorbegrifflichen sinnlichen Anschauung. Mit anderen Akzenten sind dies, zusätzlich zu dem oben Gesagten, auch Vorbehalte v.a. des späten Schelling gegen Hegel. Wir werden in Folge sehen, dass und warum diese Kritik diesmal tel quel sowohl von Platon als auch von Aristoteles unterschrieben wird.

Die Matrix

Hegels Dialektik ist eine ungeheure und auch ungeheuer einflussreiche Denkleistung mit dem gigantischen Anspruch, weingstens im Prinzip das gesamte Universum als logisch zwingendes Begriffsnetzwerk oder besser: Flussdiagramm zu erklären, dessen sukzessive logische Ableitung die Geschichte zeigt und ist: Die Geschichte des Universums und der Menschheit ist — modern gesprochen — eine multimodale epistemisch-intensional-temporale Logik im kosmischen Maßstab. Geschichte ist die dialektische Logik in Aktion. Der Weltgeist ist die Matrix, in der wir alle leben und denken. Und der Prozessor der Matrix ist die dialektische Logik des Nous. Dialektik ist keine graue Theorie und auch keine virtuelle Realität, sondern sie ist reale Logik oder das Wesen der Realität. Es ist das Ding an sich, the real thing.

Grenzen der Matrix: Beierwaltes

Dass Hegels Programm grundsätzlich "das neuplatonische Denken als Theorie einer All-Einheit" aktualisiert, mit "Entfaltung des Einen als Bestimmung der Wirklichkeit im Ganzen ... im dialektischen Erkennen", zeigt Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2016. Dass und wie der von Hegel damit verbundene dogmatische Anspruch absoluten Wissens sachlogisch hinter der Tradition zurückbleibt, zeigen Seebohm (The Grammar of Hegel’s Dialectic. In: Hegel-Studien 11, 1976, 149–180), Beierwaltes (Platonismus und Idealismus, Frankfurt/M. 1972, 154—187) und Gadamer (Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl. Tübingen 1990, 359—375), für dessen Konzept der Wirkungsgeschichte ansonsten Hegels Geschichtsdenken in vielem Pate steht. Wir stellen die Argumentationen dieser Denker kurz vor. Sie ergänzen die oben skizzierte aristotelische, thomistische und kantische Kritik an Platon und implizit an Hegel. Zum Teil überschneiden sie sich auch, v.a. bei Gadamer, mit derselben.

Beierwaltes, der mit großer Achtung von Hegels metaphysischem Format und philosophiegeschichtlichem Interesse spricht, zeigt z.B., wie in Hegels systemnotwendiger Verwerfung und Ignorierung des Mittelalters und der Scholastik als schlechthinnige Negation logischen Denkens und Antithese logischer Kompetenz Vorurteil und Denkschablone das postulierte absolute Wissen ad absurdum führen. Denn wie Thomas M. Seebohm, der wohl umfassendste zeitgenössische Kenner der Logik und ihrer Geschichte, öfter zu sagen pflegte, gilt der modernen Logik die Neuzeit als finsteres Mittelalter der Logik und das Mittelalter als singuläre Glanzperiode der Logik, deren Reflexionsniveau und Differenziertheit erst die klassische und nachklassische Logik des 20. Jh. wieder erreichte. Beierwaltes' Standarddarstellung Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik (3. Aufl. 2014) erörtert, wo Hegel zu formalistisch von Proklos denkt und auf diesen einen zu starren Systembegriff projiziert. Proklos Denken sei eher ein flexibler epistemischer und ontologischer Holismus mit Eingehen auf die jeweilige Sache unter Offenheit für alle Aspekte. Hierzu jetzt auch Gyburg Radke: "Es gibt bei Proklos ... keine allgemeine Methodenlehre [...] Es könne, so stellt Proklos fest, im Sinn Platons keine abstrakte Methodenlehre mit allgemeiner Geltung geben, die von allen besonderen Inhalten abstrahiert. Denn diese Inhalte seien nach Platon das, was die Methode formt, d.h. das, woran die Methode angepasst werden müsse und nicht umgekehrt." (Das Lächeln des Parmenides.Proklos Interpretationen zur Platonischen Dialogform, Berlin / New York 2006, 72)

Eine aktuelle Bewertung Hegels in der Linie Beierwaltes' finden Interessierte bei Jens Halfwassen: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Kap. XVIII: Hegel und die negative Theologie, Tübingen 2015, 331—350.

Grenzen der Matrix: Gadamer

Gadamers [Bild rechts] ultimatives Argument gegen Hegels Anspruch, die gesamte Realität von Natur und Geschichte auf den Begriff zu bringen und logisch abzuleiten, ist: „Vernunft ist für uns nur als reale geschichtliche [ … ] Sie … bleibt stets auf die Gegebenheiten angewiesen, an denen sie sich betätigt […] H.-G. Gadamer_IEPIn Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selbst verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens“ (Wahrheit und Methode, 1990, 280—281). Die zentrale methodologische Forderung von Gadamers philosophischer Hermeneutik ist daher: "Es bedarf … einer Anerkennung dessen, dass es legitime Vorurteile gibt, wenn man der endlich-geschichtlichen Daseinsweise des Menschen gerecht werden will." (a.a.O. 280) Vorurteil im neutralen oder positiven Sinn meint, dass wir immer und überall in einem vorgegebenen Horizont denken und handeln. Die wissenschaftliche Analyse und philosophische Reflexion der Welt folgt einer immer schon als Faktum gegebenen Vor-Habe der Welt. Unser Experimentieren, Planen und Handeln ist eine Feinabstimmung des seit Kindesbeinen erfolgenden Vor-Griffs auf die Welt. Den Griff nach der Realität machen wir viele Jahre vor jeder Reflexion durch das biologische Instrumentarium genetischer Vor-Gaben und das mentale Instrumentarium epigenetischer Vor-Leistungen. Den Aus-Blick auf die Welt und die Um-Sicht über unser Leben machen wir in der Vor-Schau unserer Sprache, Tradition und Zivilisation.

Dies alles bedeutet keinen historischen, sozialen oder empirischen Relativismus, sondern wird von Gadamer gerade umgekehrt als methodische Identifizierung objektiver Realität verstanden. Dasselbe beansprucht Gadamer für Martin Heidegger, der ein wichtiger Impulsgeber für die philosophische Hermeneutik war (1990, 270—276). Die „erkenntnistheoretische Grundfrage“ der Hermeneutik und die zentrale Aufgabe in Gadamers Werk ist dementsprechend die Herausarbeitung von Kriterien für die Unterscheidung legitimer Vorurteile von falschen Vorurteilen (280—281). Gadamer nennt dies eine Hermeneutik des Daseins und zwar des Daseins als prozessuales, geschichtliches. Und ein gutes Stück weit ist ihm hier auch und besonders die spekulative Logik Hegels ein Leitfaden. Denn von Hegels Wissenschaft der Logik gilt: It „can be characterised as a grammar of explication of meaning, i.e. as a sytem of predicator rules, a hermeneutical logic.“ (Th. M. Seebohm: The Grammar of Hegel’s Dialectic. In: Hegel-Studien 11 (1976), 151) Das gegenwärtig einflussreichste Plädoyer hierfür ist P. Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie: die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn 1992. Aber, so Gadamer gegen Hegel: Wir haben keine definitive Perspektive auf alles. Wir können auch nachträglich kein absolutes Wissen von allem erreichen, sondern müssen mehrheitlich durch meist schmerzliche Erfahrung lernen: "Aischylos ... hat die Formel gefunden, oder besser in ihrer metaphysischen Bedeutung erkannt, die die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung aussagt: 'Durch Leiden Lernen'" (Gadamer: Wahrheit und Methode, 1990, 362).

Wieso dies so zentral ist, erläutert Gadamer wie folgt: "Die Wahrheit der Erfahrung [...] setzt notwendig mannigfache Enttäuschung von Erwartungen voraus und nur dadurch wird Erfahrung erworben. Daß Erfahrung vorzüglich die schmerzliche und unangenehme Erfahrung ist, bedeutet nicht etwa eine besondere Schwarzfärberei, sondern läßt sich aus ihrem Wesen unmittelbar einsehen. Nur durch negative Instanzen gelangt man, wie schon Bacon gewußt hat, zu neuer Erfahrung [...] Einsicht ist mehr als die Erkenntnis dieser oder jener Sachlage. Sie enthält stets ein Zurückkommen von etwas, worin man verblendeterweise befangen war. Insofern enthält Einsicht immer ein Moment der Selbsterkenntnis [...] Das ist am Ende eine Bestimmung des menschlichen Seins selbst, einsichtig und einsichtsvoll zu sein [...] Es ist am Ende eine religiöse Erkenntnis — diejenige Erkenntnis, aus der die Geburt der griechischen Tragödie erfolgt ist. Erfahrung ist also die Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist ... wer weiß, daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist [...] Die Erfahrung lehrt, Wirkliches anzuerkennen." (a.a.O. Tübingen 1990, 361—363)

Die Hermeneutik ist damit, so Gadamer, nicht nur die Methode des Philologen, Juristen und Theologen, sondern auch grundlegend für die Erkenntnis- und Handlungstheorie. Denn alle Theorie gründet in der gegebenen Lebenswelt. Und das Erfahren und Erkennen ist zunächst und vor allem ein Verstehen des vorgegebenen natürlichen und kulturellen Lebens. Siehe hierzu aktuell Th. M. Seebohms Wissenschaftstheorie der Geschichte als Basis und methodische Vereinheitlichung der Natur- und Geisteswissenschaften: History as a Science and the System of the Sciences, London / New York / Shanghai 2015. Die Geschichte, die Lebenswelt und ihr Primat wird nach dem Fragwürdigwerden der ahistorischen, traditionsfeindlichen, rationalistischen Aufklärung des 18. Jh. deswegen zum großen Thema der Philosophie des 19. und 20. Jh., wie Gadamer in Teil II von Wahrheit und Methode nachzeichnet. Das Thema beschäftigt die Romantiker, Schelling (s.u.), Schleiermacher, Dilthey und Husserl unaufhörlich. Und natürlich Hegel, der neben universeller Logifizierung für universelle Vergeschichtlichung des Seins steht, was zwei Seiten derselben Medaille sind (siehe oben und in Folge).

Anmerkung: Der Hauptstrom dieser Lebensphilosophie, angefangen mit der Romantik, betreibt allerdings lediglich Symptombekämpfung, weil er das Denkschema der traditions- und autoritätsfeindlichen Aufklärung teilt und „wie eine Selbstverständlichkeit“ anerkennt, nämlich „das Schema der Überwindung des Mythos [irrationales Vorurteil der Vergangenheit] durch den Logos [rationale Vernunft der Gegenwart]“ (Gadamer 1990, 278). Diese Lebensphilosophie „teilt die Voraussetzung der Aufklärung und kehrt nur die Wertung um, indem … das vom Bewußtsein nicht zersetzte, ungebrochene Leben ... Vorrang an Wahrheit gewinnt“ (278). Dieser irrationalen Haltung liegt „der gleiche Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung … zugrunde“ (280) wie der Aufklärung. Gadamer zeichnet speziell am Denken seiner wissenschaftstheoretischen Vorgänger Fr. D. Schleiermacher und Wilhelm Dilthey (1833—1911) nach, dass und wie hieraus seit der Romantik im 19. Jh. der Historismus aufwächst, der sachlogisch zu einer noch radikaleren Relativierung von Autorität und Tradition führt als die Aufklärung des 18. Jh. Er destruiert schließlich auch Vernunft und Aufklärung selbst: „Das historische Bewusstsein, das mit der Romantik heraufkommt“ ist „eine Radikalisierung der Aufklärung. Denn für das historische Bewußtsein ist der Ausnahmefall vernunftwidriger Überlieferung die allgemeine Situation geworden. Ein durch die Vernunft allgemein zugänglicher Sinn wird so wenig geglaubt, daß die gesamte Vergangenheit, ja, am Ende sogar alles Denken der Zeitgenossen schließlich nur noch ‚historisch‘ verstanden wird. So mündet die romantische Kritik der Aufklärung selbst in Aufklärung, indem sie sich als historische Wissenschaft entfaltet und alles in den Sog des Historismus hineinzieht. Die grundsätzliche Diskreditierung aller Vorurteile … wird in der historischen Aufklärung universal und radikal.“ (280)

Wie bekannt, realisierte dies der Vordenker der Romantik, Friedrich Schlegel, und vollzog daher einen der provokativsten Schritte der Wissenschaftsgeschichte, indem er die europäische Tradition und Geschichte bis zum 18. Jh. als normative Vorgabe anerkannte (siehe Menu 'Religionsphilosophie'). Sie sei kein vorrationales, mythisches Denken und Weben. Sie und nur sie sei der Denk- und Lebensraum der Vernunft. Sie sei eine aus einer Aufklärung und Emanzipation weltgeschichtlichen Maßstabes hervorgegangene Zivilisation kognitiver und sozialer Exzellenz. Diese Einsicht Schlegels ist tel quel der Kern von Gadamers philosophischer Hermeneutik, dass nämlich der große Traditionsbruch seit 1800 die Menschen (i) von ihrer kognitiven und existentiellen Substanz abgeschnitten habe, sie (ii) ihrer sie tragenden Wirkungsgeschichte entfremdet habe, mit der sie stehen oder fallen, sie (iii) mit nicht durchdachten Schlagworten wie Freiheit und Emanzipation aus dem Sachkontinuum ihres kognitiven, moralischen und zivilisatorischen Horizontes katapultiert habe, so dass sie (iv) ihrer eigenen Identität in historischer Distanziertheit gegenüber stehen.

Grenzen der Matrix: A. Schmitt

Zurück zu Hegel: Arbogast Schmitt analysiert in Die Moderne und Platon (Stuttgart 2008, vgl. v.a. 139—141) in plausibler Weise, wieso und wie dieser zu dem in Rede stehenden und problematischen universellen und dogmatischen Anspruch kommt. Hegel identifiziere mit der hellenistischen und modernen Bewusstseinsphilosophie den sinnlichen Wahrnehmungsgegenstand mit dem intelligiblen Begriff des Gegenstandes. Und analog das Universum der Wahrnehmung in Raum, Zeit und Geschichte insgesamt mit der intelligiblen Welt des Begriffs oder Geistes. Das heißt, dass die Welt der Wahrnehmung und ihre empirischen Gegenstände vollständig und ohne Rest begrifflich eingesehen und zu diskursiven Begriffen gemacht werden können und ein einziges dynamisches, anschaulich-begriffliches Kontinuum bilden.

Anmerkung: Kant bricht allerdings dieses Anschauungs-Begriffs-Kontinuum auf und differenziert beide Ebenen als nach Erkenntnisobjekten und -medien prinzipiell verschieden. Dies zeigt sich schon in der formalen Logik und in der Anthropologie in pragmatischer Absicht, die die empirische Psychologie behandelt und als akademische Disziplin mitbegründet. Der jeweilige Rahmen ist grosso modo der aristotelische der Tradition mit einer sehr klaren und differenzierten Unterscheidung analoger anschaulicher Informationsverarbeitung und diskreter begrifflicher Informationsverarbeitung und -kodierung. Und Kants transzendentale Ästhetik und Logik kann sogar als einflussreichstes Modell einer  eigenständigen Wissenschaftslogik der nichtbegrifflichen Sphäre der Anschauung und Sinneswahrnehmung gelten. Auch in wissenschaftshistorischer Hinsicht versteht Kant seine Kritiken gerade auch als Korrektur der Leibniz'schen Logifizierung der Gesamtrealität. Kant gilt in der Forschung daher als ein Kronzeuge der Differenz des Intelligiblen und Empirischen: Vgl. K. Gloy: Die Kantische Differenz von Begriff und Anschauung und ihre Begründung. In: Kant-Studien 75 (1984), 1—37. Auch J. Bennett: Kant’s Dialectic, Cambridge 1974, 9—39, v.a. 9—16, und Falkenburg: Kants Kosmologie: die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2000) arbeiten daher als einen entscheidenden Durchbruch Kants heraus den Aufweis des qualitativen, nicht nur graduellen Unterschiedes zwischen Begriffen (Denken) und Anschauungen (Sinneswahrnehmung), und deren Zusammenwirken in einem Konzept-Empirismus. Sowohl der Rationalismus als auch der Empirismus sind dagegen von der derselben Voraussetzung eines „sensory/intellectual continuum“ (Bennett) ausgegangen. Kant aktualisiert in dieser Hinsicht die Erkenntnistheorie Platons und Aristoteles' (siehe in Folge), was Schmitt m.E. nicht in den Blick bekommt und sogar missdeutet. Dies veranlasste mich u.a. zu den o.g. 'Anmerkungen zu Schmitt: Die Moderne und Platon'.

Schmitts Kritik Hegels und seines Hintergrundes ist im Kern diese: Die Erkenntnistheorie des neuzeitlichen Rationalismus wie Empirismus (und zuvor des Hellenismus) bestimmt das distinkte und wirkliche Sein der Dinge als nur und genau individuellen sinnlichen Erfahrungsgegenstand (intuitive ganzheitliche bewusste Objektvorstellung resp. imaginale mentale Repräsentation). Erkenntnistheoretische Gegenstandskonstitution als rationale, kritisch gesicherte, distinkte Erkenntnis von Gegenständen ist in der Moderne die reflexive (auf die subjektive bewusste Vorstellung gerichtete) Analyse und Synthese der sinnlichen oder imaginalen Merkmale der empirischen Objektvorstellung am Leitfaden der Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit des Bewusstseins derselben (= Evidenzkriterium): Primat und Priorität der dem Bewusstsein gegebenen imaginalen Gesamtvorstellung vor der nachträglichen und sekundären Begriffsbildung durch Vergleich und verallgemeinernde Abstraktion empirischer Merkmale.

Platon hingegen identifiziert den anschaulichen Gegenstand nicht mit dem begrifflichen Objekt: Letzteres liegt auf einer anderen Ebene als die Sinneswahrnehmung. Und das begriffliche Denken erfasst und hebt heraus die intelligible Struktur und Funktion, keinesfalls aber alle Sinnesdaten und wahrnehmbaren Aspekte. Die Sinneswahrnehmung ist für Platon und Aristoteles eine Welt sui generis mit eigenen Inhalten, Gesetzen und kognitiven Vermögen. Sinnesdaten und Wahrnehmungsmuster können zwar auch auf Allgemeinbegriffe gebracht werden, aber dies ist eine Umkodierung in ein abstraktes Repräsentationsformat. Sie vermag weder die originalen Phänomene der Wahrnehmung begrifflich abzubilden noch ihre räumliche Dislozierung und zeitliche, geschichtliche Sukzession begrifflich abzuleiten. Diese sowohl neurowissenschaftliche wie begriffliche Irreduzibilität der phänomenalen Qualia (Sinnesqualitäten) und der raum-zeitlichen phänomenalen Erfahrung mit der indexikalischen Perspektivität (wahrnehmungsbasierte Subjektzentriertheit) der phänomenalen aktualen Welt sind bekanntlich auch Forschungsschwerpunkte der gegenwärtigen Kognitionswissenschaft und Philosophie des Geistes.  

Die Kernthese von Die Moderne und Platon ist daher: Der Platonismus bestimmt korrekt das distinkte und wirkliche Sein der Dinge als nur und genau nichtsinnlicher begrifflicher Sachgehaltskomplex (platonische Idee resp. aristotelisches Eidos). Erkenntnistheoretische Gegenstandskonstitution als rationale, kritisch gesicherte, distinkte Erkenntnis von Gegenständen ist unterscheidende intentionale (objektgerichtete) Analyse und Synthese der begrifflichen Struktur und Funktion am Leitfaden begrifflicher Kriterien von Rationalität (= reflexionslogisches Instrumentarium der platonischen Universalmathematik resp. der aristotelisch-thomistischen Transzendentalientheorie).

Für Platon und auch Aristoteles ist die Welt der Erfahrung daher nicht insgesamt und durchgängig logisch und mathematisch, und damit begrifflich rekonstruierbar und berechenbar. Die lebensweltliche Welt der Sinneswahrnehmung ist das bleibende Vorfeld des Begriffs, aus dem die dialektische Logik vorsichtig, umsichtig, prüfend, selbstkritisch Wissenschaft destilliert, wie gerade die erstrangig einschlägigen platonischen Dialoge Parmenides und Sophistes zeigen. Aber auch die aristotelische Theorie der Induktionslogik in der Topik und Theorie der Deduktionslogik in den Analytiken zeigen dies, denn sie sind die Fortführung und Ausarbeitung der dialektischen Logik seitens Aristoteles. Einschlägig Ch. Pietsch: Prinzipienfindung bei Aristoteles. Methoden und erkenntnistheoretische Grundlagen, Stuttgart 1992. Das triadische Denkschema ist hier nicht primär als Algorithmus zu verstehen, sondern als ein induktiver Heurismus, eine Heuristik der Prinzipienfindung, was Thema der Topik ist. Nur und genau auf die Begriffslagen bzw. Verhältnisse der so gewonnenen Subjekt- und Prädikatbegriffe können formallogische Formeln und Algorithmen angewandt werden (syntaktische Formationsregeln, semantische Prädikationsregeln, deduktive Schlussregeln ...). Das ist ebenfalls Thema in der aristotelischen Topik, aber dann v.a. in der Kategorienschrift und in den Analytiken als Theorie deduktiver Logik und wissenschaftlichen Beweisens.

Und auch nach oben transzendiert Platons und Plotins Erkenntnistheorie das diskursive begriffliche Denken, insofern das Absolute und in anderer Form der Nous nichtdiskursive, differenzlose intuitive lebendige Einheit ist. Auch die menschliche Kognition bewegt sich idealerweise nach dem Durchgang durch das dialektische Denken in diese Sphäre hinein, die unsere eigene eigentliche Identität und Tiefenstruktur ist. Vgl. noch einmal Beierwaltes: Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt a. M. 2001. 

Schellings Schwanengesang

Zwei-Aspekte-Theorie avant la lettre

Schellings [Bild links, als Pour le merite-Träger] Denkweg in seinen verschiedenen Phasen blieb im Grundsätzlichen näher an Kant und der Tradition, insofern er von Anfang neben dem dem subjektiven Geist (Bewusstsein und seine ideellen Inhalte) den objektiven Geist (Ideen, Information, Teleologie in der Natur) stark macht, die beide im absoluten Geist zusammenfallen (siehe oben). Schelling mit Pour le meriteDies erscheint heute der Philosophie der Naturwissenschaften sehr attraktiv, sodass speziell Schellings frühe Naturphilosophie hier — in einem monistischen Rahmen — eine Renaissance erfährt. Sie war schon einmal, von 1800 bis 1830, das dominante philosophische und wissenschaftstheoretische Paradigma der Naturwissenschaften auf dem Kontinent: Schelling war sowohl ausgebildeter Philologe und Orientalist sowie Philosoph und Theologe als auch mehr oder minder gelernter Mathematiker, Naturwissenschaftler und Mediziner. Heute wird in der Physik aufgrund der Herausforderungen der Quantenmechanik (Kopenhagener Interpretation) der Zusammenhang von Geist, Bewusstsein und physikalischer Realität intensiv erörtert. Eine verbreitete Diskussionsgrundlage ist dabei die Zwei-Aspekte-Theorie (Dual-Aspect-Theorie), die auch in der Philosophie des Geistes diskutiert wird. Man ist überrascht, wie sehr sie tatsächlich bis in die Einzelheiten in Schellings Naturphilosophie vorausgedacht ist:

(1) Mentales / Geist – 1. Person-Perspektive
(2) Physisches / Materie – 3. Person-Perspektive
(3) Information / Bedeutungen – Gemeinsame Basisebene (Ideen)

Die Ebene (3) Information gilt als die gemeinsame Basisebene von (1) und (2). Mentales und Physisches werden als durch eine prästabilierte Harmonie auf der Basis von (3) verbunden gedacht. Die Ebene (2) Physisches verkörpert eine ontologische Ordnung oder Information implizit im zeitlosen, holistischen, virtuellen Quantenuniversum. Explizit gemacht wird diese Information aber erst in der Beobachtung oder Messung als epistemische oder Erkenntnisordnung in der zeitbestimmten, lokalen, aktuellen Realität. Auch die Ebene (1) Mentales verkörpert eine ontologische Ordnung oder Information implizit im zeitlosen, kollektiven Unbewussten. Explizit gemacht wird diese Information aber erst durch Emergenz als epistemische oder Erkenntnisordnung in der bewussten, zeitlichen Kognition. Vertreter i.w.S. — monistisch oder theistisch — der Zwei-Aspekte-Theorie waren und sind: Leibniz, Fechner, Wundt, Whitehead, Feigl, Smart, Jung, Pauli, Strawson, Atmanspacher, C. F. v. Weizäcker, Primas, Bohm, Chalmers, Görnitz. Wir haben gesehen, dass das letztlich mehr Berührungspunkte auch mit Fichte hat als vordergründig sichtbar.

David Chalmers auf dem Denkweg Schellings

Schellings frühe mehr oder minder pantheistische Phasen erinnern vielleicht am meisten an David Chalmers‘ The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory (New York / Oxford 1996), eine der differenziertesten und einflussreichsten Theorien zur Sache mit Leitfunktion für nichtreduktionistische Ansätze des Mentalen. Chalmers erörtert intensiv den Zusammenhang von objektivem Geist (Information, Bedeutungen), subjektivem Geist (Bewusstsein) und physikalischer Natur. Er präzisiert die auch von ihm geteilte Zwei-Aspekte-Theorie dahingehend, dass zum einen subjektiver Geist (Bewusstsein) nicht auf objektiven Geist (Information) reduzierbar ist, sondern eine eigene ursprüngliche Realität darstellt. Zum anderen dass die physikalische Natur zwar wesentlich objektiven Geist (Information, Bedeutungen) verkörpert, aber als zentrierte raum-zeitliche Welt der Erfahrung zugleich von subjektivem Geist (Bewusstsein) abhängt.

Chalmers ‚Schelling'sche‘ Synthese von objektivem Geist, subjektivem Geist und physikalischem Universum ist ursprünglich einer ultimativ physikalistischen Ontologie verpflichtet. Sie war damit eine Variante des nichtreduktionistischen Physikalismus, der die reale Existenz mentaler Eigenschaften und Prozesse anerkennt — aber nur als Emergenzen einer ultimativ physikalischen Substanz der Realität. Die Frage, ob man in der Philosophie der Physik beim holistischen Quantenuniversum Halt machen kann als der ultimativen physikalischen Ontologie, lag zunächst außerhalb seines Bildungsganges und seines Horizontes. Ebenso die Frage, ob in der Philosophie des Geistes ein kollektives Unbewusstes o.ä. als ultimative Ontologie des Geistes akzeptiert werden kann. Hier ist Schelling weitergegangen zu einer sich ihm sachlogisch auferlegenden Transzendierung der monistischen Ontologie. Die platonische Erkenntnistheorie v.a. zeigte ihm nicht nur apriorische transzendentale Bedingungen des Wissens und der Wissenschaft, sondern auch  eine metaphysische Formatierung des Geistes und damit die Möglichkeit und Tatsächlichkeit einer transzendenten Ontologie.

Auch David Chalmers' jüngste Entwicklung wiederholt Schellings späteren Denkweg. Er glaubt inzwischen, dass gute Gründe dafür geltend gemacht werden können, dass (i) die physikalische Natur in ihrem Wesen ein globales Netzwerk von Informationen ist, ein kosmisches Computerprogramm, eine Matrix. Auf jeden Fall sei diese Hypothese widerspruchsfrei. Wenn sie zutrifft, impliziere sie die zwei weiteren Thesen, dass (ii) unser Geist ontologisch unabhängig von der Materie ist, und (iii), dass unsere Existenz von höheren Akteuren oder Mächten abhängt, die einer für uns nicht sichtbaren, metaphysischen Dimension der Realität angehören. Die Gotteshypothese und die Hypothese einer transzendenten Schöpfung der Welt der Erfahrung sei widerspruchsfrei und plausibel. Der Idealismus Platons und Berkeleys sei eine absolut Ernst zu nehmende Theorie (The Matrix as Metaphysics. In: Ch. Grau (ed.): Philosophers Explore the Matrix, Oxford University Press 2005)

Ursprung & Urgrund: Willen und Leben

Öfters wird gesagt, dass Schellings Philosophieren ebenfalls die nachmetaphysische, lebens- und triebphilosophische Epoche des 19. Jh. vorbereitet. Wir haben dies schon erwähnt, sind aber der Meinung, dass Schellings intellektuelle Biographie eher als Korrektur überzogener metaphysischer Erkenntnisansprüche und neue Schwerpunktsetzung zu lesen ist, und nicht als grundsätzliche Metaphysikskepsis. Dass die Wirkungsgeschichte eines Denkers im Gravitationsfeld des Zeitbewusstseins in eine andere Richtung abgelenkt werden kann als von diesem beabsichtigt, steht auf einem anderen Blatt. Das wird in unserem Fall allerdings dadurch begünstigt, dass Schelling selbst schon unter dem Einfluss der Gravitationskräfte steht, von deren Beschleunigungsrichtung dann Schellings und Fichtes Schüler Arthur Schopenhauer (1788—1860) erfasst wird und in dieselbe einschwenkt. Dessen Welt als Wille und Vorstellung tritt als hybride Willensmetaphysik auf, die zwar Schellings metaphysischen Neuansatz aufgreift, aber zugleich — unbeschadet ihres quasireligiösen Gewandes — im Kern säkularisiert und mit inkonsistenten naturalistischen Anleihen versieht. Schellings Neuansatz ist dabei: Das unmittelbare und ursprüngliche "Seyn besteht ... eben im Wollen [...] Wollen ist die Grundlage aller Natur [...] Wollen ist Ursein [...] Der Wille ist ... Ursache von Sein [... Er ist] der Grund von allem ... das einzige im Menschen, das Ursache von Seyn ist" (zit. Schulz a.a.O. 1984, 380—381, 383, 385). Der neue Ansatz wird erstmals in der Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 vorgestellt, die — in Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegel und Franz von Baader — die Koordinaten für Schellings weiteren Denkweg absteckt. Hier grenzt er auch seine Weltanschauung gegen diejenige Spinozas ab und erklärt sich gegen den Pantheismus, mit welchem man seiner Auffassung nach auch Spinoza nicht pauschal identifizieren dürfe.

Dieser Grundsatz Schellings ist dann Ausgangspunkt der Schopenhauer'schen — und in anderer Wertung Nietzsches — Philosophie wie überhaupt der Lebensphilosophie des 19. und frühen 20. Jh. Im Prinzip sagt das auch schon Fichte. Fichte und Schelling verstehen dies allerdings in dem Sinn einer über dem Dasein der Erscheinungswelt stehenden göttlichen Macht bzw. Ur-Wollens, die Fichte als ethisches Lieben und Sollen fasst, Schelling aber als ursprünglich neutrale und ambivalente Kraft, welche erst nach Abschluss eines theogonischen Prozesses als das siegreiche absolute Gute hervortritt. Bei Schopenhauer ist dieser Urgrund immanent und im jetzigen faktischen Zustand widergöttlich, egoistisch, böse, amoralisch.

Was Schopenhauers Entgegensetzung von Oberflächenstruktur: Erkennen / Vernunft / Geist einerseits und Tiefenstruktur: irrationales Leben / Willen / Trieb andererseits angeht, ist dies daher trotz formaler Parallelen nicht Fichtes Position, sondern ein Bruch mit der Sinnkontinuität der Tradition, in der Fichte prinzipiell steht. Denn für Fichte erfahren wir, wie gesagt, die Tiefenstruktur nicht als irrationales Leben und blindes Wollen, sondern als unbedingtes Sollen der absoluten Vernunft, das unsere Freiheit erweckt und uns als autonomes Bild Gottes begreifen lässt. Dass Fichte bis zuletzt damit beschäftigt war, hier pantheistisches und theistisches Gedankengut widerspruchsfrei zusammenzubringen, steht auf einem anderen Blatt und wird von bedeutenden Teilen der modernen Fichteforschung als unerledigte und in systematischer Hinsicht noch zu leistende Aufgabe angesehen.

Dass Schelling das absolute Sein v.a. mit dem Willen identifiziert, ist im Übrigen ebenfalls durchaus Geist vom Geiste Platons, der Gott mit der Idee des Guten an sich, also absolutem ontologischem Wert / Güte und ethischem Wollen desselben und Handeln nach demselben identifiziert. Und auch Geist vom Geiste Plotins, für den "die eigentliche Natur des Ur-Einen ... der Wille" ist. "Plotin hat eine eigene Abhandlung über Freiheit und Wille im Ur-Einen geschrieben (Enn. VI, 8) [...] Von hier ab ... hebt die Willensmetaphysik an" und fließen Augustin die Begriffe zu, Gott als die Liebe .. zu verstehen [...] Sein Wille und seine Substanz sind also dasselbe." (J. Hirschberger: Geschichte der Philosophie I, Freiburg 1991, 309). 

Erkenntnisprinzipien Geschichte und Offenbarung

Andererseits ist noch einmal festzuhalten, dass Schelling seiner Anlage nach als Kritiker Hegels und Fichtes in kantischem Geist gedeutet werden kann (vgl. z. B. Seebohm: Schelling’s „Kantian“ Critique of Hegel’s Deduction of Categories. In: Clio 8, 1979, 239—255). Und Schellings spätes Denken ist sowieso der Schwanengesang des Deutschen Idealismus (insoweit er spinozistisch im weiten Sinne war), indem er das begriffliche Erfassen des Absoluten inkl. der deduktiven Ableitung des Universums als fundamentalen Irrtum korrigiert. Vgl. Th. Buchheim: Eins von allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992. Nach eigener Aussage ist er schließlich wieder bewusst zu Kants Philosophie als dem überzeugenderen Koordinatensystem für Wissenschaft und Philosophie zurückgekehrt. Vgl. A. Hutter: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt / M. 1996. Dass dies keine Verleugnung seiner idealistischen oder platonischen Einsicht in den Zusammenhang von Geist, Leben und Sein ist oder sein muss, zeigt B. Dörflingers schon erwähnte Interpretation der kantischen Vernunft als dynamisch organisiertes System des Geistes und teleologisches Lebensprinzip: Das Leben theoretischer Vernunft, Berlin / New York 2000.

Das Universum ist für Schelling jetzt — mit ausdrücklicher Bezugnahme auf und im Sinne des prophetischen Theismus — positive, freie Setzung des persönlichen Gottes und souveränen Herrn des Seins, die nur durch Erfahrung und Offenbarung in Natur und Geschichte erfasst werden kann. Vgl. J. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Bonn 1954; W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings, Freiburg 2010 [11965]; M. Gabriel: Der Mensch im Mythos: Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewusstseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie, Berlin / New York 2006; J. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Kap. XIX: Freiheit als Transzendez, Tübingen 2015, 351—368, und G. Kozdra: "Herr des Seins". Eine Untersuchung zur philosophischen Gottesfrage in F. W. J. Schellings Münchener Vorlesungen, München 2016: "In seiner Spätphilosophie unternimmt Schelling den Versuch, einen überzeugenden Gottesbegriff zu entwickeln. Das System der positiven Philosophie beansprucht, eine 'höhere Geschichte' des göttlichen Seins darzustellen. Dies ist kein bloßes Sein, es ist vielmehr 'Leben', welches sich als schöpferische Freiheit manifestiert. Gott ist 'Geist und Leben' oder ein 'lebendiger Geist' [...] Die absolute Transzendenz des Geistes ist ... absolute Existenzbemächtigung, totale Macht über die Existenz." [Abstract]

Zur Schelling'schen Spätphilosophie insgesamt ist jetzt auch die monumentale Untersuchung Dirk Cürsgens zu nennen: Letztbegründung und Geschichte. Schellings Philosophie der Mythologie und Offenbarung', E-Publikation Berlin 2017. Sie verbindet eine schlüssige Interpretation unter Diskussion der gesamten Literatur mit Erhellung des ideengeschichtlichen Kontextes seit der Antike.

Transzendentaler Idealismus in der Philosophia perennis

Es ist nicht uninteressant, dass damit der Deutsche Idealismus denselben selbstkritischen, aporetischen und offenen Abschluss findet wie der Neuplatonismus bei Damaskios (ca. 460—550 n.C.), dem letzten Vordenker und Schuloberhaupt desselben. Es ist die These von Cürsgen (a.a.O. 2007, 37), dass Damaskios "die genuine Defizienz und Inadäquatheit ...unserer Denkstrukturen" hinsichtlich der begrifflichen Erfassung des Absoluten und des Universums systematisch zur Darstellung bringt, "wodurch der Neuplatonismus an sein inneres Ende gelangt."

Nicht wenige, die von der kantischen Philosophie herkommen, werden wie vor den Kopf geschlagen sein, dass Damaskios' selbstkritisches Fazit praktisch den transzendentalen Idealismus Kants vorwegnimmt — in der Gesamtanlage und oft auch im Detail. Und zwar sowohl hinsichtlich der immanenten Erkenntnistheorie der transzendentalen Analytik wie auch hinsichtlich der transzendenten Metaphysik bzw. Ideenlehre der transzendentalen Dialektik. Und er vollzieht die zentrale Korrektur Aristoteles' — und natürlich auch Kants — an Platon, dass nicht metaphysische Ideen und das Absolute, sondern die Seele als personale Lebensform und erkennendes Subjekt Ausgangspunkt und Basis unserer Erkenntnis und Metaphysik ist. Metaphysik ist nun wie für Aristoteles durch Erkenntniskritik methodisch kontrollierte Ontologie der Substanzen = lebender, erkennender und handelnder Subjekte. Die Philosophie des Geistes ist nun die Kerndisziplin einschließlich einer negativen Theologie bzw. Philosophie des göttlichen Seins, Lebens und Geistes. Letztere negative Theologie ist sehr ähnlich jener, die später Thomas Aquinas und der Hauptstrom der Scholastik vertritt. Eine kompakte Übersicht hierzu bietet D. Cürsgen: Grundkonzepte platonischen Denkens am Ende der Antike: Das System des Damaskios. In: Perspektiven der Philosophie 38 (2012), 87—124. Cürsgen hat wohl auch Recht mit der Einschätzung, dass Damaskios nicht nur wegen seiner denkgeschichtlichen Aktualität, sondern überhaupt nach Umfang und Qualität seines Werkes Plotin und Proklos ebenbürtig an die Seite gestellt werden muss.

Es ist ferner interessant, dass der Platonismus / Aristotelismus von da an erst seine eigentliche ganz große Wirkungsgeschichte als Kultur wissenschaftlicher Exzellenz entfaltet. Wie später bei Schelling zurückgebracht auf den Boden von Erfahrung und Offenbarung, wird er — neu ausbalanciert — das begriffliche Instrumentarium der globalen messianischen alias christlichen Zivilisation: In der hier mit dem platonischen Instrumentarium geschaffenen Wissenschaftskultur forschen und arbeiten heute alle geisteswissenschaftlichen, mathematischen, naturwissenschaftlichen Hochschuldisziplinen, Akademien, Firmen und Kliniken. Sie steht im Hintergrund aller Verfassungen und Rechtsordnungen der Erde. Die Exzellenz der Literatur, Kunst und Musikkultur dieses Denkraumes ist beispiellos und seine Attraktivität deklassiert weltweit alle Konkurrenten um Dimensionen. In den Worten des Pioniers der interkulturellen Philosophiegeschichte Kurt Schilling (Weltgeschichte der Philosophie, Berlin 22006 [11964]):

"Die griechische Philosophie [... als] Seinslehre ist bei den Griechen in allen ihren Möglichkeiten bis ins Letzte hinein durch- und ausgebildet. Die griechische Philosophie ist also nicht nur historisch und philologisch gesehen die Philosophie eines beliebigen Volkes — der Griechen — also eine Philosophie, wie es noch unzählige andere Philosophien geben kann: der Chinesen, Inder, Araber usw. [...] Die griechische Philosophie ist vielmehr streng philosophisch und sachbedingt die Philosophie (Seinslehre) der sichtbaren Natur schlechthin. Es gibt nicht beliebig viele andere Seinslehren von der Natur daneben [...] Die Griechen haben wirklich alle Möglichkeiten, die in einer begrifflichen Auffassung der Natur liegen, in ihrer Entwicklung erschöpft. Wer je wieder von der Natur philosophisch reden will, kann das überhaupt nur tun, indem er eine der Möglichkeiten und Wege benützt, die im Verlauf der griechischen Entwicklung vorgekommen und ausgebildet sind; eventuell diese Möglichkeit weiter ausbaut und nuanciert, aber doch immer nur sich in ihrem Rahmen hält. Das ist eine streng sachliche philosophische Notwendigkeit, die es gilt, sich von vorneherein mit allen ihren Folgen klarzumachen." (Geschichte der Philosophie I, München 1943, 202—203)

Aquinas revisited

Wenn man so will, zitiert Schellings Identifizierung Gottes mit souveräner dynamischer Existenz oder Wille der Sache nach das zentrale thomistische Axiom vom Vorrang der Existenz vor der Essenz (Idee) und der vorrangigen Definition Gottes als absolute Existenz oder Kraft oder Tätigkeit: actus purus subsistens und nicht als summa essentia: Höchste Idee oder Wesen. Anders ausgedrückt: Gottes Essenz ist gerade absolute, unbeschränkte Energie, Kraft, Leben, Wirken, Wille und Liebe. Denn die bekannte These des philosophiegeschichtlichen Altmeisters Etienne Gilson ist grob gesagt richtig, dass das Absolute bei Platon und Plotin zuerst und vor allem begrifflich, essentiell bestimmt wird, weil der Begriff für sie die höchste Form der Existenz ist; die Existenz kommt hingegen zur Essenz hinzu. Dagegen ist das Absolute oder Gott bei Thomas von Aquin „das esse, er ist nichts anderes, und seine existentielle Radikalität und Reinheit unterscheidet ihn von allen anderen Seienden, von denen jedes nur ein qualifizierter und eingeschränkter Akt des esse ist, um ein ‚solches Seiendes‘ zu sein durch eine Essenz, die sich ihm hinzufügt.“ (E. Gilson: L'Etre et l'Essence, Paris 1987, 115—116, Übersetzung von mir) Gilsons These ist allerdings tatsächlich nur grob gesagt richtig: Es wurde gezeigt, dass (i) gerade Platon und Plotin Begründer der Willensmetaphysik sind, dass (ii) das platonische Ur-Eine zugleich das Ur-Gute und Wollen resp. Sollen ist, dass (iii) der Geist oder nous im Platonismus zugleich Leben, d.h. dynamisches Sein und Selbstbewegung ist, dass (iv) in der späteren Wirkungsgeschichte Platonismus bzw. Augustinismus für den Primat des Willens und der Liebe stehen, während man den Aristotelismus als Intellektualismus versteht.

Mit diesen Kautelen zitieren wir als weiteren Gewährsmann den vielleicht besten deutschsprachigen Kenner der Philosophie Thomas von Aquins im 20. Jh., Josef Pieper: Im thomistischen Ansatz hat Existenz nicht primär mit begrifflichem Wesen zu tun, sondern „es handelt sich um etwas prinzipiell Anderes [...] es ist >Tun< in einem ausgezeichneten und völlig einzigartigem Sinn. Die Alten haben es das Tun schlechthin genannt ... sie haben es einfach actus genannt.“ (Pieper: Thomas von Aquin. Leben und Werk, München 1981, 128) Auch und vor allem die Natur des Absoluten ist nicht erstrangig Essenz, Wesen, sondern Existenz, Sein. Gott ist „der Seiende, der Existierende. ‚Ich bin, der ich bin‘ ... heißt es in ... Exod. 3, 13“ (Pieper 1981, 129) — „Gottes Wesensbeschaffenheit selber ist das Wirklichsein; Er ist sein Wirklichsein [...] In Gott sind Wesen und Existieren nicht zweierlei“ (Pieper 1981, 130) – „Das zu sagen, ist eine >Revolution< in der Geschichte der Metaphysik [...] möglich geworden durch ein Weiterdenken der aristotelischen Unterscheidung zwischen Seinkönnen und wirklichem, tathaftem Sein, zwischen dynamis und enérgeia“ (Pieper 1981, 130). Pieper:

„Von Platon her jedenfalls, dessen Denken fasziniert ist von dem Gedanken der Ur-Bilder, das heißt, der reinen Wesenheiten, fern aller existentiellen Realisierung ... war eine solche Interpretation des Seinsbegriffes schlechthin unerwartbar [...] Vor allem sei, so sagt Gilson, das [platonische] Denken über das Sein bei Augustinus und bei Anselm, im Vergleich mit Thomas, völlig ‚essentialistisch‘ [... denn] in den Büchern über die Trinität hat Augustinus [sein Denken so] zusammengefasst: ‚Vielleicht sollte man sagen, Gott allein sei essentia‘ [...] Das ist eine klar >essentialistische< Deutung des Seinsbegriffs: das Äußerste an Sein ist anzutreffen in der unwandelbaren Wesenheit“ (1981, 131). Im Fazit: „Nicht also die inhaltliche Fülle des Wesens ist primär entscheidend [...] Das Entscheidende ist der actus, das Tun schlechthin, die tathafte Verwirklichung des Wesensbestandes [...] Wahrhaftig und endgültig >da< sind die Dinge nicht durch das, was sie [begrifflich] sind, sondern durch den actus essendi [...] das heißt der baren Existenz ebendies ist Erschaffung im vollen Sinn [...] Das platonische Denken liebt die Vorstellung des Aufstiegs zu Gott durch die hierarchische Stufenordnung der Wesenheiten, einer allmählichen Annäherung an das unwandelbare Sein Gottes. Thomas hingegen sagt: Jedes existierende Ding ob lebendig oder nicht, ob materiell oder geistig, ob vollkommen oder armselig ... alles was Dasein hat, konfrontiert mich auf höchst unmittelbare Weise mit der Ur-Wirklichkeit Gottes“ (Pieper 1981, 132—134) — „Die Welt ist, weil ihr Sein Teilhabe ist an dem sie innerlichst durchwaltenden göttlichen Sein, nicht allein eine gute Welt, sie ist, in einem sehr präzisen Sinn, heilig.“ (1981, 134)

Unbeschadet der im Vorhergehenden angesprochenen Parallelen finden sich bis in Schellings Spätphase immer noch pantheistische und theosophische — je nach Standpunkt — Perspektiven oder Schlacken, insofern in manchen Notizen die Geschichte nicht nur Theophanie ist, sondern auch Theogonie, also ein Prozess, in dem das Absolute sich selbst entfaltet und sein Potential ausdifferenziert (s.o.). Das ist sehr nahe an Hegel (nach einer verbreiteten und nicht unbegründeten Deutung desselben), mit dem Unterschied, dass Schelling den Prozess als freie Kreativität versteht und Hegel als logische Notwendigkeit. Davon abgesehen sind — wie im Vorhergehenden schon angedeutet — maßgebliche Interpreten der Auffassung, dass nicht Hegel, sondern Schelling und seine Spätphilosophie der Abschluss des Deutschen Idealismus ist. So Walter Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 1955, und Werner Beierwaltes a.a.O. 1972, 67—82. Und diesen Abschluss kann man — mit o.g. Kautelen — tatsächlich so deuten, dass sich ein doppeltes Déjà-vu-Erlebnis einstellt. Einmal erinnert er spontan an Aristoteles' Ergänzung der platonischen Ideenmetaphysik durch eine Existenz- oder Aktmetaphysik. Und zum anderen an die verwandte Überbietung der augustinischen Ideen- oder Essenzmetaphysik durch die oben skizzierte Existenz-, Tat- und Willensmetaphysik bei Thomas Aquinas.

Spirituelle Motivation

Wir sagten eingangs: Der Deutsche Idealismus ist insbesondere auch Analyse und Kritik des säkularisierten Zeitbewusstseins und der Wille zu einer kritisch fundierten Neubegründung von Religion, Spiritualität und Metaphysik. Schon Hegels großes und programmatisches Erstlingswerk Phänomenologie des Geistes (1807) erhält dadurch seine Signatur. Schellings spirituelles Interesse ist notorisch und in komplizierter Brechung gilt das sogar und ganz besonders für Schopenhauer. Aber wahrscheinlich ist Fichtes Weltanschauung besonders beeindruckend hinsichtlich ihrer spirituellen Hochgesinntheit und in Berlin immer konkreter werdenden religiösen Motivation, nachdem er in der Jenaer Frühphase Religion mit Ethik identifiziert hatte und Gott mit der moralischen Weltordnung und vielen als Atheist gegolten hatte. 

Fichte versucht In die Perspektive der WL auch die theistische Religion der Bibel und Tradition einzurücken, was Einsichten des Neuen Testamentes und Erfahrungen der spirituellen Gotteswissenschaft der Mystik scharfsinnig und bewegend reproduziert: "Nach seiner [= Christi] Lehre existiert der Mensch außer Gott und Ihm, gar nicht, sondern er ist tot, und begraben [...] Wer aber in Jesum, und dadurch in Gott, sich verwandelt, der lebet nun gar nicht mehr, sondern in ihm lebet Gott [...] So fällt ... das Christentum ... zusammen mit der absoluten Wahrheit, ... daß jedermann zur Einheit mit Gott kommen, und das Dasein desselben selber, oder das ewige Wort, in seiner Persönlichkeit werden könne und solle." (Anweisung zum seligen Leben, Hamburg 2001, 101—102). Es finden sich aber ebenso philologisch, historisch und theologisch gewaltsame Neuinterpretationen, die ihn den größten Teil der Bibel einschließlich der Zentralthemen Trinität, Schöpfung und Erlösung verwerfen lassen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass demgegenüber die Schüler Schelling und v.a. Schopenhauer gerade die Themen des Vernunftwidrigen und Bösen und der Erlösung in das Zentrum rücken, die Fichte einer äußeren Sphäre irrealen Scheins zugeordnet hatte. Eine produktive Rezeption der WL seitens der Theologie ist Günther Storck: Die Gottesidee in der Wissenschaftslehre J. G. Fichtes. Darstellung des Absoluten und Entfaltung der Relevanz der Wissenschaftslehre in der Erörterung theologischer Grundfragen. Diss. München 1976.

Zu vergleichen ist hier stets die mehrfach erwähnte Religionsphilosophie Fichtes in der Vorlesungsreihe Die Anweisung zum seligen Leben oder auch eine Religionslehre (1806), die zugleich die vielleicht beste Einführung in die schlussendliche Fassung der WL ist. Deren höchste und abschließende Stufe in der neunten Vorlesung zeigt noch einmal die immer bewusstere platonische Inspiration von Fichtes Denken. Sie zeigt zugleich die von Fichte ebenfalls mitvollzogene Integration des Platonismus in die Weltanschauung der messianischen Zivilisation des Neuen Testamentes. Man hat hier eine Parallele zur Schlussszene der bekanntesten deutschen Dichtung, Goethes Faust, wo das platonische Weltbild Goethes ebenfalls in dem ethischen und ästhetischen Archetyp der allerseligsten Jungfrau Maria und ihrer transzendenten Präsenz kulminiert: "Gottes inneres und absolutes Wesen tritt heraus als Schönheit; es tritt heraus als vollendete Herrschaft des Menschen über die ganze Natur; es tritt heraus als der vollkommene Staat, und Staatenverhältnis; es tritt heraus als Wissenschaft: kurz, es tritt heraus in demjenigen, was ich die Ideen ... nenne [...] Sie [= Schönheit] tritt heraus in dem Gemüte der von ihm Begeisterten. Denken Sie sich z.B. eine heilige Frau, welche, emporgehoben in die Wolken, eingeholt von den himmlischen Heerscharen, die entzückt in ihr Anschauen versinken, umgeben von allem Glanze des Himmels, dessen höchste Zierde und Wonne sie selbst wird; welche— allein unter allen — nichts zu bemerken vermag von dem, was um sie vorgeht, völlig aufgegangen, und verflossen in die eine Empfindung: Ich bin des Herren Magd, mir geschehe immerfort, wie er will; und gestalten Sie diese eine Empfindung, in dieser Umgebung, zu einem menschlichen Leibe, so haben Sie ohne Zweifel die Schönheit in einer bestimmten Gestalt." (Anweisung zum seligen Leben, Hamburg 2001, 139—140)

Auch und besonders die hier thematische Rolle und erkenntnistheoretische Stellung der Schönheit ist genuin platonisches Gedankengut. Dazu die klassische Interpretation H.-G. Gadamers: Wir finden "in der platonischen Philosophie eine enge Verknüpfung ... der Idee des Guten mit der Idee des Schönen. Beide sind über alles Bedingte und Viele hinaus [...] Plato ... hat ... doch auch einen Unterschied zwischen beiden im Auge, und dieser Unterschied enthält einen eigentümlichen Vorzug des Schönen [...] Das Schöne unterscheidet sich ... dadurch von dem schlechthin ungreifbaren Guten, daß es eher zu ergreifen ist. Es hat in seinem eigenen Wesen, Erscheinendes zu sein. In der Suche nach dem Guten zeigt sich das Schöne [...]: 'Der Schönheit allein ist dies zuteil geworden, daß sie das am meisten Hervorleuchtende (ekphanestaton) und Liebenswerte ist' [Phaidr 250 d 7]" (Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, ebd. 482—485). Diese Beziehung zwischen Schönheit und dem Guten (Sittlichkeit) ist übrigens auch ein Lehrstück in Kants Ästhetik. Siehe den Abriss zu Kants ästhetischer Theorie im Menu Ästhetik.

Weiter Gadamer: "In dieser anagogischen Funktion des Schönen [...] wird nun ein ontologisches Strukturmoment des Schönen [...] sichtbar [... Es hat] die wichtigste ontologische Funktion, die es geben kann, nämlich die der Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung [...] Es ist die Maßhaftigkeit des Seienden, die es nicht allein sein läßt, was es ist, sondern es auch als ein in sich bemessenes, harmonisches Ganzes hervortreten läßt [...] Schönheit hat die Seinsweise des Lichtes. Das meint nicht nur, daß ohne Licht nichts Schönes erscheinen ... kann. Es meint auch, daß die Schönheit des Schönen als Licht, als Glanz an ihm erscheint [...] Es ist ... die Erscheinungsweise des Guten überhaupt, des Seienden, wie es sein soll." (Gadamer ebd. 486, Hervorhebungen in Fettdruck von mir, PN).

Einen aktuellen Überblick zur theologischen bzw. spirituellen Ebene im Deutschen Idealismus und zuvor Platonismus und deren systematische Relevanz bietet J. Halfwassen: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Teil I: Profile der Metaphysik, Tübingen 2015, 11—90.

Der Sachstand im 21. Jahrhundert

Werner Beierwaltes sagte mir vor Jahrzehnten einmal, dass seiner Überzeugung nach der Neuplatonismus auch erkenntnistheoretisch ein interessantes und noch weithin unerschlossenes Feld der Philosophie der Zukunft ist. Dass hier auf höchstem Niveau eine Synthese der gesamten Philosophie der Antike vorliegt, die Maßstäbe für wissenschaftliches Denken setzt und zur Standardtheorie der Wissenschaftsgeschichte wurde. Dass das im 19./20. Jh. vorübergehend aus dem Blickfeld geriet, sei nicht überzubewerten. Ich glaube, dass diese Einschätzung in allen Gesichtspunkten bedenkenswert und nachvollziehbar ist. Ein Indiz unter anderem ist die Anerkennung der intensionalen Begriffslogik und die Renaissance der Metaphysik in der ursprünglich per definitionem metaphysikfreien und antiplatonischen Analytischen Philosophie. Die ersten Etappen auf diesem Weg zeichnet das nächste Kapitel zu Carnaps Erkenntnistheorie nach.

Aber ich vermute auch, dass der nicht nur historisch-philologische, sondern systematische Zugang zu dieser Wissenschaftstradition für das gegenwärtige Zeitbewusstsein in der Regel wohl über die Drehscheibe der kantischen Philosophie laufen muss. Sie ist einfach — international und interkulturell — der systematische Bezugsrahmen modernen Philosophierens. Dass und wie das kantische Werk diese Funktion erfüllen kann, war ein Thema und Beweisziel meines Systematischen Kommentars zur Kritik der reinen Vernunft. Ebenso ist es das methodische und didaktische Leitmotiv des vorliegenden Netzportals zum Studium generale. Der Kommentar bzw, das E-Portal sind in dieser Hinsicht ein Pendant zu Gerhard Krügers Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik (Tübingen 21967 [11939]). Krüger ist der neben Gadamer und Schadewaldt wahrscheinlich bedeutendste Platoniker der ersten Hälfte des 20. Jh. Dennoch hält er sich für sein systematisches Hauptwerk an Kant, (i) "weil Kants Kritik ... einen Versuch darstellt, die[se] Frage zu beantworten", wie im geschichtlichen Gegenwarts-Bewusstsein "Philosophie möglich sei". Und (ii), "weil die heutigen Möglichkeiten der Philosophie durch die Wirkung Kants geschichtlich bedingt sind", sowie (iii) weil sich mit Händen greifen lasse, dass Kant nicht der Zertrümmerer, sondern der Verteidiger der Metaphysik sei (a.a.O. 1967, 1)     

Die Vermittlung der normativen Rationalität der Tradition für das moderne Bewusstsein ist auch eine durchgängige Motivation Arbogast Schmitts, des bedeutendsten Schülers Werner Beierwaltes'. Ausdrücklich und ex professo geschieht dies in den epochalen Werken Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität (2007) und Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (2016). Auf dieselben treffen Hegels Sätze zu: "Aufgabe der Philosophie ist es, ihre Zeit in Begriffe zu fassen", und: "Die Wahrheit ist das Ganze". Hinter ihnen steht eine siebenköpfige Forschergruppe profilierter Lehrstuhlinhaber mit über 20 wissenschaftlichen Mitarbeitern, welche das von Arbogast Schmitt konzipierte interdisziplinäre Forschungsprogramm 'Neuzeitliches Selbstverständnis und Deutung der Antike' verkörpern, das an der Universität Marburg angesiedelt ist. Es ist mit bisher (2016) 60 Monographien und Sammelbänden, 300 Zeitschriftenaufsätzen und Lexikonartikeln sowie einschlägigen Tagungen und Kongressen eine der produktivsten Schulen der Gegenwart.

Beierwaltes' und Schmitts umfangreiches Oeuvre wird international stark rezipiert und erfährt Übersetzungen in viele Sprachen. Sie bestimmen mit ihren zahlreichen renommierten Schülern – zusammen mit der Heidelberger Schule des Neuplatonismus: J. Halfwassen, T. Dangel, D. Cürsgen u.a. – zunehmend die Diskussion. Sie werden wahrscheinlich in spätestens einer Generation — ähnlich wie die Konstruktivistische Wissenschaftstheorie Paul Lorenzens, Jürgen Mittelstraßs und Peter Janichs — in ihrem Feld eine neue Weltgeltung der Lehre und Forschung in Deutschland begründen. Damit kann dieses innovative Forschungsprogramm die internationale Erfolgsgeschichte der Tübinger Platonschule fortsetzen: W. Schadewaldt, H.-J. Krämer, K. Gaiser, Th. A. Szlezák u.a. Auch inhaltlich. Denn die bahnbrechenden Forschungen der Tübinger Schule zu Platons ungeschriebener Prinzipienlehre als Metatheorie der Ideenlehre standen und stehen mit Pate für die aktuelle Marburger Schule.  

Das vorliegende Kapitel 'Fichte / Schelling / Hegel: Platonische Kernsanierung' ist als eigenes E-Buch verfügbar. Es kann unter dem folgenden Titel heruntergeladen werden:

Carnap: Alternatives Bauen auf dem Weg zu Platon

Der logische Aufbau der Welt

Paul Rudolf Carnap (1891—1970) ist „der führende Kopf und das Arbeitstier des Wiener Kreises, in dem er all das zur Geltung bringen kann, worauf er intendiert: strenge Wissenschaftlichkeit, logische Präzision und kooperative Zusammenarbeit.“ (Geier: Der Wiener Kreis, Hamburg 1992, 34). Carnap ist aber wahrscheinlich auch der wichtigste Vordenker der Analytischen Philosophie überhaupt. Sein Werk Der logische Aufbau der Welt von 1928 (2. Aufl. 1961) ist mit Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre von 1918 das Grundbuch dieser Tradition. Diese entstand bekanntlich Anfang des 20. Jh. in Wien (Schlick, Carnap, Wittgenstein), Berlin (Reichenbach) und Cambridge (Russell) als Programm einer metaphysikfreien wissenschaftlichen Philosophie, die sich ausschließlich auf exakte Sinnesdaten und mathematische Logik stützt.

Carnap besaß außerordentliche intellektuelle Redlichkeit. Sie ließ ihn zeitlebends eigene Positionen und auch Hintergrundannahmen revidieren, wenn er sie als sachlich nicht zutreffend oder undurchführbar erkannte. Diese Revisionen lassen sich sehr gut an Hand der zwei Dogmen des Empirismus zeigen, wie sie in W. V. O. Quines (1908—2000) einflussreichstem Aufsatz 'Two Dogmas of Empiricism' genannt und kritisiert wurden und denen Donald Davidson (1919—2003) ein drittes Dogma hinzufügte. Diese drei Dogmen bilden die Hintergrundannahmen auch des Aufbaus.

Das erste Dogma des Empirismus

Das erste dieser Dogmen des Empirismus ist nach Quine die Analytisch-Synthetisch-Unterscheidung, welche im Aufbau in der speziellen Form des Dualismus von gegebenem sinnlichem Erkenntnismaterial und der „logisch-mathematischen Formung“ (Carnap 1961, IX) auftritt. Ersteres sind realwissenschaftliche synthetische Aussagen, die Erfahrungen beschreiben, Letztere ist analytisch und formal, ja tautologisch und ohne Aussagegehalt, wie Carnaps frühe Aufsätze der 1930er Jahre immer wieder betonen. Er möchte durch unmittelbare Anwendung der als analytisch charakterisierten Mathematik und Logik auf Sinnesdaten die Metaphysik der Tradition und auch den synthetischen Apriorismus der kantischen Transzendentalphilosophie überwinden.

Carnap behielt zwar, gegen Quines Kritik, zeitlebends die Analytisch-Synthetisch-Unterscheidung bei, modifizierte sie jedoch dergestalt, dass das Analytische nun – per semantische Regeln oder Bedeutungspostulate – auch materiale sprachliche Inhalte umfasste: Begriffsintensionen und Propositionen. Carnap unterschied dabei später die beiden Ebenen (1) begriffsanalytische (intensionale) logische Wahrheit, Implikation und Äquivalenz (L-truth) in den Intensionen von Designatoren (Meaning and Necessity, 2. Auflage Chicago 1956, 1, 6, 228) und (2) synthetisch-faktische (extensionale) materiale Wahrheit, Implikation und Äquivalenz (vgl. Carnap a.a.O. 1956, 1—7). Designatoren sind (a) deklarative Sätze (propositions), (b) Individualkonzepte, (c) Prädikatoren (properties) und Abstraktoren (abstract expressions). Damit wurde bzw. blieb Carnap in diesem Punkt der große Gegenspieler Quines, der sowohl die begriffsintensionalen semantischen Regeln (Meinungspostulate) wie die logischen Operatoren als letztlich synthetisch und nicht allgemeingültig betrachtete.

Das zweite Dogma des Empirismus

Der Grund für die spätere Anerkennung des Materialanalytischen oder der Begriffsanalytizität durch Carnap liegt in der Revision des zweiten Dogmas des Empirismus, i.e. der reduktionistischen Bedeutungs- und Erkenntnistheorie. Der Aufbau war hier geradezu eine Promulgation dieses zweiten Dogmas: „In meinem Buch handelt es sich um die […] These, daß es grundsätzlich möglich sei, alle Begriffe auf das unmittelbar Gegebene zurückzuführen.“ (Carnap 1961, X) Diese Position, nämlich „die Behauptung der Übersetzbarkeit von Aussagen über Dinge in Aussagen über Sinnesdaten“ (Carnap 1961, XII) musste später wegen der Einsicht in die irreduzible Theoriehaltigkeit oder -beladenheit der Wahrnehmung und Erfahrung „aufgegeben werden [...] Analoges gilt für die physikalische These der Zurückführbarkeit von Wissenschaftsbegriffen auf Dingbegriffe.“ (Carnap 1961, XII) Vgl. auch die Thematisierung dieser Kurskorrektur in der Intellectual Autobiography II, 9, 'Liberalisierung des Empirismus' (Carnap: Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993, 88—93).

Das dritte Dogma des Empirismus

P. R. Carnap [PhillWeb]Das von Quines Schüler Donald Davidson so genannte „dritte Dogma des Empirismus“ besteht schließlich im „ Dualismus von Schema und Inhalt“ (Davidson: Der Mythos des Subjektiven, Stuttgart 1993, 59, 67). Das Schema ist dabei die Sprache, das Begriffssystem, die interpretierte Realität. Der uninterpretierte Inhalt oder das Rohmaterial ist je nach Ansatz der Beobachtungssatz oder die Protokollaussage oder die subjektive Empfindung oder – bei Quine – der proximale Reiz, der „durch das gestalthafte Feuern der Neuronen dargeboten“ wird (a.a.O. 1993, 40—64, v.a. 41—42). Dieses dritte Dogma wird von Quine, dem herausragenden Kritiker der beiden anderen Dogmen, selbst vertreten. Es steht in der quineschen Spätphilosophie Word and Object sogar im Mittelpunkt (Quine: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1998 [engl. 1960]) – als These der Unbestimmtheit (Indeterminiertheit) der intersubjektiven Symbolmanipulation im Spracherwerb, in binnensprachlicher Kommunikation und zwischensprachlicher Übersetzung. Sie ist aber im Prinzip bereits eine These Schlicks: Erscheinung und Wesen, in: Kant-Studien 23 (1919), 188—208. In gemäßigter Form wird der Sachverhalt auch bei Husserl ausführlich diskutiert, in der 6. Logischen Untersuchung § 62. Die These lautet in der handlichen Fassung Stegmüllers: „Selbst wenn die Syntax (Grammatik) sowie die Semantik der logischen Ausdrücke aus dem Studium der zu erlernenden fremden Sprache Y richtig erschlossen wurden, ist die Interpretation dieser fremden Sprache der Beobachtung des Sprachgebrauches nicht zu entnehmen [...] Der Grund dafür ist [...] daß ein Wahrnehmungsfeld auf unendlich verschiedene Weisen beschreibbar ist.“ (Stegmüller: Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten, Darmstadt 1991, 32) [Foto oben: P. R. Carnap]

Wie wir gesehen haben, geht auch Carnaps Aufbau von einem Sinnesdatenempirismus aus, über den per Quasianalyse nachträglich ein Interpretationsschema gelegt wird. Carnaps spätere Anerkennung der essentiellen Theoriehaltigkeit von Erfahrung und Naturwissenschaft überwindet zwar diesen pauschalen „Dualismus von Schema und Inhalt“. Aber relativ zur Theorieebene bleibt dieser Dualismus doch in Form zweier nur äußerlich verbundener Sprachebenen erhalten. Dies ist Carnaps berühmte Zweistufenkonzeption von empirischer Beobachtungssprache und logischer Theoriesprache. Das heißt, die begriffsanalytische Theoriesprache umfasst nur und genau die analytischen Gesetze des axiomatischen, linguistischen Begriffssystems einer Wissenschaftssprache, und ist zu sondern von synthetisch-aposteriorischen physikalischen Gesetzen der empirischen Basis einer Wissenschaftssprache (vgl. Andreas, H.: Carnaps Wissenschaftslogik: eine Untersuchung zur Zweistufenkonzeption, Paderborn 2007).

Die begriffsanalytische Axiomatik bzw. das paradigmatische Begriffssystem ist damit zwar notwendig und konstitutiv für mögliche objektive Erfahrung und wissenschaftliche Gegenstände, aber es ist nicht sachlogisch und ursprünglich mit der extensionalistischen, wahrheitswert-funktionalen Beobachtungssprache verbunden. Es handelt sich um ein Gerüst oder einen Überbau, der pragmatisch und konventionalistisch festgelegt wird. Die Zuordnung des theoretischen Netzwerks qua formaler axiomatischer Kalkül zur Beobachtungsebene geschieht durch die  nachträgliche Interpretation der theoretischen Begriffe mit Hilfe von Zuordnungsregeln (Z-Regeln): „Das Problematische liegt darin, daß er zwei Sprachen als zwei gesonderte Schichten ansetzt, eine, die sich auf Beobachtung, und eine andere, die sich auf theoretische Begriffe bezieht. Damit ist die lebendige Dialektik der Wissenschaft, in der Grundbegriffe und Beobachtungen sich gegenseitig bedingen, aufgehoben oder zum mindesten eingeschränkt.“ (Schulz: Philosophie in der veränderten Welt, 7. Aufl. Stuttgart 2001, 63)

Genau hier wäre aber zu fragen, ob Carnap dem Niveau von Freges Absichten und Einsichten, der „den stärksten Einfluss im Bereich der Logik und Semantik auf mich ausübte“, wirklich gerecht wurde. Denn Frege betont nachdrücklich die auch bereits für die Erkenntnisleistung der Wahrnehmung von beobachtbaren Gegenständen unabdingbaren intensionalen, intelligiblen Strukturen oder 'abstrakten Entitäten': „Das Haben von Gesichtseindrücken ist noch kein Sehen von Dingen […], ist zwar nötig zum Sehen der Dinge, aber nicht hinreichend. Was noch hinzukommen muß, ist nichts Sinnliches.“ (Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung. In: G. Frege: Logische Untersuchungen. Hrsg. von Günther Patzig, 3. Aufl. Göttingen 1986, 51) — Außerdem: „Tatsachen! Tatsachen! Tatsachen!“ ruft der Naturforscher aus, wenn er die Notwendigkeit einer sicheren Grundlegung der Wissenschaft einschärfen will. Was ist eine Tatsache? Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr ist […] Die Arbeit der Wissenschaft besteht in einem Entdecken von wahren Gedanken.“ (Frege a.a.O. 1986, 50) Aber: „Der Gedanke ist etwas Unsinnliches.“ (Frege 1986, 33)

Hier sind Karl Popper, Donald Davidson und Walter Schulz die Kritiker Carnaps geworden: „Die Festsetzung der Basissätze erfolgt anläßlich einer Anwendung der Theorie und ist ein Teil dieser Anwendung“ (Popper: Logik der Forschung, 9. Aufl. Tübingen 1989, 71). Und: „Es gibt keine reinen Beobachtungssätze [...] Sogar in einer sogenannten 'phänomenalen Sprache', die etwa 'jetzt ist hier rot' zuläßt, würde das Wort 'jetzt' eine (rudimentäre) Theorie der Zeit implizieren; das Wort 'hier' eine (rudimentäre) Theorie des Raumes; und das Wort 'rot' eine Theorie der Farben.“ (Popper 1989, 76).

Bei Davidson findet sich diese Kritik ursprünglich und besonders in der Gegenargumentation gegen Quines sog. Unbestimmtheitsthese. Davidson macht plausibel, dass die Bedeutung oder Interpretation zur proximalen Reizsituation nicht mehr oder minder willkürlich oder konventionalistisch hinzukommt, sondern dass die aus distalem Reiz (Gegenstand), kognitivem Subjekt und intersubjektiver sprachlicher Reaktion erwachsende intersubjektive Realität und Ontologie die Bedeutung generiert und konstituiert. Die proximalen Reize (Neuronenaktivität) haben dabei nur eine instrumentelle Rolle.

Die genannten drei Faktoren bilden als Triangulationsszenario den Kern von Davidsons externalisierter Erkenntnistheorie als „kausales Wechselspiel zwischen drei Elementen: dem denkenden Subjekt, den anderen, mit denen es kommuniziert, und einer objektiven Welt, von der sie wissen, daß sie ihnen gemeinsam ist.“ (Davidson a.a.O. 1993, 83) Ein ähnliches Triangulationsszenario zwischen „mind, body and world“ entwirft Hilary Putnams Spätphilosophie unter dem Bild einer „threefold cord“ (vgl. Putnam: The Threefold Cord: Mind, Body and World, Berkeley, Cal. 2001).

Das heißt aber, dass es nicht möglich ist, materialanalytische Bedeutungen und Propositionen aus der Beobachtungssprache herauszuhalten. Darauf zielt jedoch Carnaps Konzept der Beobachtungssprache, dessen Kritik auch in Walter Schulz' opus magnum eine zentrale Stelle einnimmt: „Gerade die Entwicklung der modernen Wissenschaft zeigt, daß die leitenden Grundbegriffe ... kein System für sich bilden [...] Der Versuch, eine Sphäre erfahrungsfreier Bestimmungen genau abzugrenzen, um sie dann der Beobachtungssprache zuzuordnen, ist also dem Vollzug der Wissenschaft nicht konform.“ (Schulz 2001, 67) Auch für empirische Bedeutungen und Propositionen der Beobachtungssprache sind somit hochstufige Schichten der Theoriesprache notwendig und wesentlich: „Auch wenn es möglich und sinnvoll ist, die Terme der ... Beobachtungssprache von den theoretischen Grundbestimmungen zu unterscheiden, so [bestimmen] beide Sphären ... sich dem Gang der sich wandelnden Forschung gemäß gegenseitig. Carnap sucht jedoch die Theoretische Sprache 'für sich zu setzen'“ (Schulz 2001, 64).

Die These der Theoriehaltigkeit der Erfahrung besagt also m.a.W.: In jeder kognitiven Aktivität kooperieren immer und überall Reizebene und theoretisch-linguistische Ebene; d.h. aber auch: sie kalibrieren, kontrollieren und korrigieren sich potenziell immer und überall wechselseitig. In Wahrnehmungspsychologie und Kognitionsforschung gibt es für diese Theoriehaltigkeit der Erfahrung und die erfahrungskonstitutive Leistung der Begriffe die Formel der durchgängigen Komplementarität von datengesteuerter Informationsverarbeitung (bottom-up-processing) und begriffsgeleiteter Informationsverarbeitung (top-down-processing). Dies heißt, dass die Wahrnehmungsorganisation und empirische Objektidentifizierung nicht ohne — auch hochstufige — „meaning“, „concepts“ und „ideational content“ möglich ist: „It is by no means clear that a bottom-up approach can provide an adequate account of the role of meaning in perception“ (Eysenck / Keane: Cognitive Psychology, 5. Aufl. Hove and London-Hillsdale 1992, 95).

Darüber hinaus ist eine vermittelnde und Kontinuität garantierende Brücke über die Kluft der Unterbestimmtheit zwischen Empfindung, Beobachtung, Realität und Interpretation, Bedeutung, Theorie einmal die vorbewusste, objektive und intersubjektive Intelligenz der Wahrnehmung (vgl. z. B. Rock: Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen, Heidelberg 1985, 187, 193, 198, und Churchland: A Neurocomputational Perspective. The Nature of Mind and the Structure of Science, Cambridge Mass. / London 1992, 255—279); zum anderen apriorische, genetische Strukturen und Kategorien der Wissensrepräsentation und -verarbeitung, also etwa die Dimension der transzendentalen Ästhetik und Logik in der Kantischen Theorie: „Die Einsicht, daß theoretische Begriffe weithin kategorialen Charakter haben, das heißt Möglichkeit der Erfahrung darstellen und daher selbst nicht erfahrbar sind, wird [von Carnap] nicht genügend herausgestellt.“ (Schulz a.a.O. 2001, 66; vgl. Searle: The Rediscovery of Mind, Cambridge, Mass 1992, v.a. 175—195; Gärdenfors: Conceptual Spaces. The Geometry of Thought, Cambridge, Mass 2000; Pinker: The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York 2002, v.a. 75—83, 210—221; Carruthers / Laurence / Stich (eds.): The Innate Mind: Structure and Contents, Oxford 2005)

Wir sagten: Carnaps Aufbau von 1928 [2. Aufl. 1961] ist ein Grundbuch des Logischen Positivismus resp. der Analytischen Philosophie. Es handelt sich dabei um eine formalisierte Wissenschaftslogik und Erkenntnistheorie auf datensensualistischer Grundlage. Carnap nennt das Werk ein „Konstitutionssystem der Gegenstände“. Im Zentrum des Aufbaus stehen die Grundrelationen als die Kategorien oder „Grundbegriffe des Systems“. Der folgende fachtechnische Aufsatz rekonstruiert Carnaps komplexe und anspruchsvolle Herleitung dieser Kategorien und verdeutlicht die Argumentation an Hand von Schemata. Abschließend wird die Selbstrevision des Kategoriensystems in Carnaps späterem Denkweg skizziert:

Erkenntnistheorie der Gegenwart

Diese soll in Form einer Thesenübersicht zu Peter Baumann: Erkenntnistheorie, 2. Auflage Stuttgart / Weimar 2006, VII + 312 S., vorgestellt werden. Ich halte sie für die beste kompakte Behandlung des Themas. Sie wird auch vielen einschlägigen Lehrveranstaltungen zu Grunde gelegt und liegt in einer dritten Auflage 2015 unter dem Dach des Springerverlages Berlin / Heidelberg vor. Weiterführend und ähnlich verlässlich ist Thomas Grundmanns (Universität Köln) Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin / Boston 22017. Eine didaktisch ausgerichtete kurze Darstellung ist Gerhard Ernst: Einführung in die Erkenntnistheorie, 5. Aufl. Darmstadt 2014.

M. Schlick [PhilWeb]Ich erinnere mich an Baumanns (University of Aberdeen, heute: Swarthmore College) Koreferat zu Stewart Cohens Vortrag 'Knowledge, Speaker, and Subject' auf einer der wichtigsten internationalen Fachkonferenzen der Gegenwart zur Erkenntnistheorie: Contextualist Approaches to Epistemology (Universität Mainz, 04.—06.09.2003). Sie brachte zum ersten Mal die Vertreter des heute sehr starken Ansatzes des Kontextualismus zusammen, deren Leitfigur u.a. Cohen ist. In meiner Wahrnehmung hat Baumann dabei durch engagierte Kompetenz und intellektuelles Ethos den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, selbst gegenüber Fred Dretskes souveränem Auftritt (vgl. die Kongressakten: Brendel / Jäger (eds.) Contextualisms in Epistemology, Dordrecht 2005). Baumann hat inzwischen der Erkenntnistheorie eine ähnlich umfassende Gesamtschau zum Kontextualismus folgen lassen: Epistemic Contextualism, Oxford University Press 2016. Folgende Aussagen skizzieren Themen und Argumente der gegenwärtigen Forschung v.a. in der analytischen Erkennntnistheorie. [Foto links: Moritz Schlick, 1882—1936, Begründer des Wiener Kreises und Wegbereiter der Analytischen Philosophie und Erkenntnistheorie mit seinem Hauptwerk Allgemeine Erkenntnislehre von 1918]

(1) Möglichkeit des Wissens trotz Regress-, Zirkularitäts- und Skeptizismuseinwand gegen das Unternehmen Erkenntnistheorie.

(2) Wissen ist nicht einfach als Kenntnis der Wahrheit zu bestimmen, sondern als diskriminierte Kenntnis der Wahrheit (Diskriminitätsprinzip).

(3) Unterscheidungen des Wissens sind: Propositionales Wissen (Wissen, dass) — Praktisches Wissen (Gewusst, wie) — Erlebniswissen (Wissen, wie es ist = Phänomenales Qualia-Wissen, z.B.: Azurblau, Sandelholzduft, Kiwigeschmack).

(4) Bedingungen des Wissens sind [1] Überzeugung (Für-wahr-halten) — [2] Tatsache (Wahrheit) — [3] Rechtfertigung (Nicht-Zufälligkeit) — [4] Rechtfertiger (Wahre Rechtfertigung: nur bei internalistischen Theorien).

(5) Konzeptionen des Wissens teilen sich in externalistische und internalistische Ansätze. Letztere binden Wissen an das reflexive Bewusstsein des Wissens (kognitive Zugänglichkeit) oder an die intentionale Rationalität des Wissens (kognitive Rechtfertigung).

(6) Wissensbedingung [1] Überzeugungen meint in psychologischer Hinsicht mentale Urteile (Überzeugungen i.e.S.); in sprachlicher Hinsicht Sätze; und in logischer Hinsicht Propositionen. Bausteine der Urteile oder Überzeugungen sind Begriffe.

Bildung und Taxonomie von Allgemeinbegriffen und ihrer logischen Relationen erfordern einen mehrschichtigen Forschungsansatz: (i) logisch-definitorisch, (ii) empirisch-prototypisch, (iii) kontextuell-pragmatisch.

(7) Wissensbedingung [2] Wahrheit meint die hier v.a. interessierende logische Aussagenwahrheit (wahr, dass) und nur entfernt die ontologische Wahrheit (Echtheit, Nichtscheinhaftigkeit). Wahrheitsträger der logischen Aussagenwahrheit sind linguistische Aussagesätzementale Überzeugungen / Urteile (Überzeugungen i.e.S.) — logische Propositionen (= logisch-semantischer Inhalt von Sätzen und Urteilen).

Wahrheit ist abhängig von Propositionen.

Wahrheit ist abhängig vom objektiven Wahrsein und nicht vom Für-wahr-halten: „Wahrheit hängt nicht von uns ab“ (2006, 146).

Wahrheit ist zeitlos: „Ein und dieselbe Proposition [kann] ihren Wahrheits-Wert [nicht] in der Zeit verändern“ (2006, 147).

Eine Subjektabhängigkeit der Wahrheit als Abhängigkeit von sprechenden und denkenden Wesen gilt nur für die Urteile und Sätze als den Wahrheitsträgern, nicht für Propositionen als Wahrmachern qua objektiven Tatsachen.

Die Definition der Wahrheit (Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand) ist als Kriterium der Wahrheit unzureichend (vgl. Kant KrV B 82). Dennoch besteht zwischen Definition und Kriterium eine Abhängigkeit.

(8) Wissensbedingung [3]: Rechtfertigung und Rationalität. Sie hat die Einsicht zur Voraussetzung: Rechtfertigung ist nicht Wahrheit („Das eine impliziert nicht das andere“ (2006, 182)).

Es gibt nichtentwertbare konklusive Rechtfertigungs-Gründe, welche auf Logik und Semantik beruhen, wo also eine innere logische Beziehung zwischen Grund und Folge [Tatsache] besteht. Und es gibt entwertbare nichtkonklusive Gründe, welche auf Erfahrung, Induktion und Wahrscheinlichkeit beruhen und wo nur eine faktische kausale Beziehung zwischen Grund / Ursache und Tatsache besteht.

Damit die Rechtfertigung nicht in den Regress oder Zirkel gerät, braucht es Regressstopper, d.h. eine Basis, ein letztes Fundament der Rechtfertigung. Dieses wird durch Fundamentalismus, Kohärentismus und Kontextualismus verschieden bestimmt, wobei die Ansätze am ehesten zusammengenommen überzeugen, im Sinne eines 'pragmatischen Fundhärentismus'.

(9) Typen des Wissens: Propositionen und die dabei verwendeten Begriffsbausteine können aus der Erfahrung stammen, also empirisch, aposteriorisch sein. Oder vor der Erfahrung da sein, apriorisch sein. Nicht identisch mit dieser Unterscheidung ist die Unterscheidung notwendiges vs. kontingentes Wissen.

Reiner Empirismus, also die Anerkennung nur empirischen Wissens, ist problematisch und nicht haltbar. Dies wegen der Theoriehaltigkeit der Erfahrung, des Induktionsproblems, und der strengen Allgemeinheit von Theorien.

Die Analytisch-Synthetisch-Unterscheidung ist keine grundsätzliche Unterscheidung, sondern eine pragmatische, kontextabhängige. Sie ist sinnvoll und korrekt relativ zu einer Sprachwelt resp. Wissenstand. Der synthetische Apriorismus ist eine sinnvolle und notwendige Form des Apriorischen.

(10) Quellen des Wissens sind: WahrnehmungSchlussErinnerungIntrospektionGlaube.

Die Herkunft des vielleicht größten Teils unseres Wissens aus Glaube / Hörensagen macht deutlich, dass Wissen von sozialer Natur ist: „Ganz offensichtlich beruht zumindest ein sehr großer Teil unseres Wissens auf den Berichten anderer Personen“ (2006, 277)

(11) Skeptizismus. Das klassische Argument ist das Traumargument: Wir können nicht logisch ausschließen, dass Welt und Leben nur ein einziger Traum und damit Schein sind. Varianten des Arguments sind das Arglistige-Dämon-Argument Descartes': Ein Dämon spiegelt uns die Realität vor. Und das Gehirn-im-Tank-Argument Putnams: Wir könnten Gehirne in einem mit Nährstoffen gefüllten Tank sein, denen die Außenwelt durch eine perfekte interaktive Computersimulation virtuell suggeriert wird.

Wichtig und einsichtig ist hier die Semantische Antwort (Austin): Auch wenn das Leben ein Traum ist, gibt es zwei unterschiedliche epistemische Niveaus: Traum-total und Traum-normal.

Dann das sog. Paradigm-case-Argument: Wir verwenden und verstehen das Wort Wissen. Also besitzen wir einen Begriff von Wissen. Also muss es sinnvolle Verwendungen des Begriffswortes 'Wissen' geben, das an paradigmatischen Vorkommens-Fällen gewonnen wurde.

Und das Argument aus der Begründungspflicht des Zweifels: Der radikale und universelle Zweifel ist haltlos, „weil man zum Zweifeln Gründe braucht“ (Wittgenstein), und andererseits jeder sinnvolle Zweifel voraussetzt, dass man an manchem nicht zweifelt (Wittgenstein), wie z.B. an der Existenz des eigenen zweifelnden Ich und der Logik des Denkens im Zweifel.

Eine ausführlichere Übersicht zur aktuellen Lage der Erkenntnistheorie bietet diese Verknüpfung zu Baumanns Behandlung des Themas (Erkenntnistheorie, 2006):