- 1. Kant: Kritik der teleologischen Urteilskraft
- 2. Analytik der teleologischen Urteilskraft
- 2.1. Transzendentales Anthropisches Prinzip
- 2.2. Der Teleologiebegriff (KU § 61)
- 2.3. Formale objektive Zweckmäßigkeit (KU § 62)
- 2.4. Materiale objektive Zweckmäßigkeit (KU § 63)
- 2.5. Dinge als Naturzwecke (KU § 64)
- 2.6. Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen (KU § 65)
- 2.7. Definition der Zweckmäßigkeit organisierter Wesen (KU § 66)
- 2.8. Beurteilungsprinzip der äußeren Naturzwecke (KU § 67)
- 2.9. Teleologie als inneres Prinzip der Naturwissenschaft (KU § 68)
- 3. Dialektik der teleologischen Urteilskraft
- 4. Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft
- 5. Zur aktuellen Interpretation der teleologischen Urteilskraft
- 6. Aristoteles' Ansatz zur Evolutionsbiologie
- 7. Die aktuelle Debatte zur Evolutionsbiologie
Kant: Kritik der teleologischen Urteilskraft
Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) [in Folge abgekürzt: KU] ist — neben dem riesigen lebenswissenschaftlichen und biophilosophischen Lebenswerk des Aristoteles — die vielleicht einflussreichste philosophische Analyse zur Biologie und Ökologie. Kants Analyse entstand zeitgleich mit dem ersten großen Entwurf der Evolutionsbiologie durch einen der Begründer der modernen Biologie, J.-B. de Lamarck (1744—1829) [Zeichnung links]. Lamarck versteht den Begriff Evolution etwa im Sinne moderner Langzeit-Schöpfungslehren mit der zielgerichteten Erzeugung von sukzessiv höher entwickelten Grundtypen des Lebens, welche sich anschließend durch mikroevolutive Entfaltung und Anpassung weiter ausdifferenzieren. Träger und Motor der Lebensfunktionen und -aktivitäten ist ein Lebensprinzip, das etwa der vegetativen und animalischen Psyche in der aristotelischen Biologie entspricht. Lamarcks Ideen weisen so Parallelen auf zu den Analysen Aristoteles', aber noch mehr zu Kants Lehre, welche im zweiten Teil o.g. Werkes entwickelt wird, betitelt: Kritik der teleologischen Urteilskraft.
Die hier angesprochene Urteilskraft ist der Denk- und Argumentationstyp, der, so Kant, in der Biologie zum Einsatz kommt. Und zwar mit epistemischer Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit. Kant nennt sie genauer die reflektierende transzendentale Urteilskraft. Dazu ist zunächst wichtig, ihren Sinn, ihre Struktur und ihre wissenschaftsgeschichtliche Einbettung zu verstehen. Allgemein aufschlussreich hierfür ist z.B. Peter McLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989. Er zeigt kompakt und kompetent, worum es methodisch geht. Und dass und warum Kant sich mit der KU in die aktuellsten lebenswissenschaftlichen und biophilosophischen Debatten des 17./18. Jh. einschaltete. Ferner und drittens, dass das Thema auch im 21. Jh. für die Biologie zentral ist, und die bei Kant vorfindliche Problemaufbereitung bis heute erhellend. Man sieht das sofort und unmittelbar, wenn man McLaughlins Studie mit der schon früher erwähnten aktuellen Diskussion des Themas bei David Frank vergleicht: Der Topos der Information in den Lebenswissenschaften. Eine Studie am Beispiel der Biosemiotik und der Synthetischen Biologie, Wiesbaden 2019.
Allerdings konzentriert sich McLaughlin ziemlich — und mit eher ungewohnten Schwerpunkten — auf die wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkte: Die ontologischen und metaphysischen Beweisziele, denen in der KU ein enormes Gewicht zukommt, werden nur gestreift, aber nicht eigens erörtert. Immerhin besteht ein Drittel des Werkes, nämlich die gesamte Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft, in einer sehr ausführlichen Würdigung der Gottesbeweise, und des welttranszendenten Lebenszweckes und Endzweckes der Natur. Im Folgenden soll hingegen die KU zwar sehr verdichtet, aber vollständig skizziert werden.
In systemimmanenter Hinsicht bietet die Erörterung der Urteilskraft in der Logik Kants eine erste allgemeine Orientierung zu Stellung und Leistung der reflektierenden Urteilskraft. Die Urteilskraft wird in der Logik unter der Schlusslehre behandelt, da unter
„Schließen ... diejenige Funktion des Denkens zu verstehen [ist], wodurch ein Urtheil aus einem andern hergeleitet wird. Ein Schluß ist also die Ableitung eines Urteils aus einem andern.“ (AA [Akademieausgabe der Werke Kants] IX, 114)
Dies geschieht nun sowohl in der bestimmenden Urteilskraft, die aus einem allgemeinen Urteil ein besonderes Urteil herleitet, als auch in der reflektierenden Urteilskraft, die aus besonderen Urteilen ein allgemeines ableitet. Die Urteilskraft [§§ 81—84 der Logik] wird wie folgt vorgestellt:
„Die Urtheilskraft ist zwiefach: die bestimmende oder die reflectierende Urtheilskraft. Die erstere geht vom Allgemeinen zum Besondern, die zweite vom Besondern zum Allgemeinen. Die letztere hat nur subjective Gültigkeit, denn das Allgemeine, zu welchem sie vom Besondern fortschreitet, ist nur empirische Allgemeinheit – ein bloßes Analogon der logischen.“ (AA IX, 131—132)
Die besonderen Schlüsse der Urteilskraft als solche beziehen sich nur auf die reflektierende Urteilskraft: „Die Schlüsse der Urtheilskraft sind gewisse Schlußarten, aus besonderen Begriffen zu allgemeinen zu kommen. Es sind also nicht Functionen der bestimmenden, sondern der reflectierenden Urtheilskraft; mithin bestimmen sie auch nicht das Object, sondern nur die Art der Reflexion über dasselbe, um zu seiner Erkenntnis zu gelangen.“ (AA IX, 132)
Das Prinzip oder Axiom der Schlüsse der Urtheilskraft [§ 83] ist: „Das Princip ... ist dieses: daß Vieles nicht ohne einen gemeinschaftlichen Grund in Einem zusammenstimmen, sondern ... aus einem gemeinschaftlichen Grunde nothwendig sein werde.“ (AA IX, 132)
Die Schlussarten der reflektierenden Urteilskraft sind Induktion und Analogie [§ 84]: „Die Urtheilskraft ... schließt entweder von vielen auf alle Dinge einer Art, oder von vielen Bestimmungen und Eigenschaften, worin Dinge von einerlei Art zusammenstimmen, auf die übrigen, sofern sie zu demselben Prinzip gehören. Die erstere Schlußart heißt der Schluß durch Induction, die andre der Schluß nach der Analogie.“ (AA IX, 132, vgl. die gleichlautenden Ausführungen in der Einleitung der KU B XXV–XXVIII, Abschnitt IV (Von der Urteilskraft ... ). Ein Beispiel für einen Induktionsschluss: Wenn ich eine Reihe von Raben sehe, die alle schwarz sind, forme ich irgendwann die Schlussfolgerung: Alle Raben sind schwarz. Diese verallgemeinernde Hypothese wurde induktiv aus einer Reihe von Beobachtungen (B1, B2, B3, ..., Bn) abgeleitet. Dieser Schluss hat aber keine logische Notwendigkeit, da ich irgendwo und irgendwann nichtschwarze Raben antreffen könnte, wie z.B. die afrikanischen Schildraben mit weißem Brustgefieder. Ein Beispiel für einen Analogieschluss: Alle Meerestiere mit Flossen haben Kiemen. Mantas sind — unbeschadet ihrer Nichtfischgestalt — Meerestiere mit Flossen. Also haben Mantas Kiemen. Auch dieser Schluss ist nicht zwingend, wie das Gegenbeispiel der Wale zeigt, die zwar Meerestiere mit Flossen — und sogar in Fischgestalt — sind, aber keine Kiemen besitzen.
Die in Rede stehende transzendentale reflektierende Urteilskraft ist, so Kant, Bedingung für Wahrnehmung und begriffliche Erfassung der Wirklichkeit: Die „Gegenstände der empirischen Erkenntnis“ unterliegen:
(1) „als zur Natur überhaupt gehörig“ der „formalen Zeitbedingung“ als der einzigen Leistung der bestimmenden Urteilskraft. Mehr leistet die gesamte Analytik der Kritik der reinen Vernunft nicht!
(2) als „spezifisch verschiedene Naturen“, d.h. für alle anderen Bestimmungen oder „unendlich mannigfaltige[n] empirische[n] Gesetze[n]“, dem „Prinzip der Zweckmäßigkeit“ der reflektierenden Urteilskraft! (KU B XXXII—XXXIV) — Vgl. KU B 319: Diese reflektierende Urteilskraft ist ein notwendiger Leitfaden „selbst auch nur ... um ihre [= der Natur] Beschaffenheit durch Beobachtung kennenzulernen“.
Zusätzlich zu den Grundsätzen der transzendentalen bestimmenden (Axiomen und Antizipationen) und regulativen (Analogien und Postulate) Urteilskraft in der KrV wird von Kant selbst registriert, dass für das — erstrangig wichtige — Universum systemisch organisierter Objekteinheiten eine zusätzliche transzendental-reflektierende Analytik eingeführt werden muss. Diese wird von ihm als Voraussetzung der gewöhnlichsten lebensweltlichen Erfahrung wie systematischer, wissenschaftlicher Erfassung des organisch-biologischen Universums und „auch nur eines Gräschens“ (KU B 353) vorgestellt. All dies ist durch quantitative und mechanisch-kausale Kategorien nicht greifbar.
Die transzendentale reflektierende Urteilskraft leistet mithin die hypothetisch-deduktive Begriffsbildung und Klassifizierung systemischer Objekte der Erfahrung . Epistemische Kriterien sind dabei die systemische Einheit des Ganzen, d.h. eine nicht auf Empfindungsdaten und deren quantitative Anhäufung und geregelte Abfolge rückführbare organische Struktur und die funktionale Finalität der Elemente und Teilstrukturen. Kant greift dabei auf das traditionelle Vokabular der Substanzenmetaphysik (Ideen — Entelechien) und ihrer kognitiven Kriterien zurück, deren ursprüngliche Einführung auch tatsächlich aus der begrifflichen Bewältigung organischer Erfahrungsobjekte herstammt. Diesselben stellen etwa bei Aristoteles die eigentlich echten und einzigen Kandidaten des Substanzbegriffs. Hier wird m.a.W. von Kant das Prinzip der induktiven begrifflichen Noesis etwa bei Aristoteles verändert aufgegriffen:
„Also hat in Beziehung auf solche Fälle die reflektierende Urteilskraft ihre Maximen, und zwar notwendige, zum Behuf der Erkenntnis der Naturgesetze in der Erfahrung, um vermittels derselben zu Begriffen zu gelangen, sollten diese auch Vernunftbegriffe [! = Ideen, Entelechien] sein; wenn sie solcher durchaus bedarf [!], um die Natur nach ihren empirischen [!] Gesetzen bloß kennenzulernen [!]“ (KU B 312).
NB: Die „reflektierende Urteilskraft, die von dem Besonderen in der Natur zum Allgemeinen aufzusteigen die Obliegenheit hat“ (KU, B XXVI–XXVII), hat in der kantischen Theorie eine mehrfache Funktion. Wir sehen sie auch in zwei anderen Kontexten in Aktion treten: (1) im induktiv-deduktiven Vernunftgebrauch der Hypothesenbildung (vgl. Kap. 19.5 meines Systematischen Kommentars zur KrV), und (2) in den transzendentalen Vernunftprinzipien der Prädikabilientheorie (vgl. Kap. 28.1.1 ebenda).
Es ist wichtig, diese Leistungen der reflektierenden Urteilskraft zu unterscheiden. Im Falle (1) der empirischen Hypothesenbildung geht es um die Bildung objektsprachlicher theoretischer Terme als ursächlicher Erklärungsinstanzen von Merkmalen und Wirkungen. Es geht nicht um die theoretische Konstitution von systemischen Erfahrungsobjekten, sondern um empirische Gesetzesbeziehungen zwischen bereits konstituierten Objekten und ihren Prädikaten. In der Funktion (2) der transzendentalen Vernunftprinzipien geht es um die Bildung und Anwendung metatheoretischer Abstraktoren als höherstufige Organisationsprinzipien der objektsprachlichen Theorien/Hypothesen. Auch diese Funktion hat nicht mit der ursprünglichen Konstitution von systemischen Erfahrungsobjekten zu tun, sondern setzt diese voraus. Die hier in Rede stehende Funktion (3) leistet dagegen die ursprüngliche kognitive Konstitution von biologischen Erfahrungsobjekten als „Ideen“, d.h. von Individuen als hierarchisiertem Netzwerk von teleologisch integrierten begrifflichen Einzelaspekten, und deren höherstufige (ökologische) systemische Organisation.
Ein weiteres ist wichtig: Der transzendentalen reflektierenden Urteilskraft ist die objektive Zweckmäßigkeit (Teleologie) der Natur selbst als heuristisches Prinzip vorgeordnet. Die Kernaussage ist: „Der Begriff einer objektiven [!] Zweckmäßigkeit der Natur ist ein kritisches Prinzip [!] der Vernunft für die reflektierende Urteilskraft [...] und dieser Begriff ist ... schon für den Erfahrungsgebrauch [!] unserer Vernunft eine schlechterdings notwendige [!] Maxime.“ (KU § 75, 332—333)
Wenn die auf Ideen und Entelechien führende Urteilskraft empirische Erkenntnis mit Wahrheitsanspruch sein soll, müssen übersinnliche teleologische Ideen als intelligible Struktur (Eidos) und immanente Entelechie der transzendental-empirischen Realität selbst verstanden werden. Es muss sich um die „idealische Zweckmäßigkeit der Natur“ (KU Einleitung, B XLI) selbst qua Erfahrung handeln. Ideen sind dann in der Dimension der organischen Natur (Flora — Fauna — menschliche Physis) nicht nur notwendige regulative Prinzipien bzw. Bedingungen der Erkenntnis der Totalität der Erfahrung, sondern auch als apriorische Maximen bzw. Reflexionsbegriffe notwendige Bedingung der Erkenntnis der Einzelgegenstände. Ohne Ideen als heuristischen Prinzipien ist „die gemeinste Erfahrung ... nicht möglich“ (Einleitung KU, B XL; § 78, 355). Das heißt, Erfahrung, lebensweltlich naive wie kritisch wissenschaftliche, ist nur durch teleologisch reflektierende Urteilskraft möglich, welche intelligible und teleologische Strukturen von Einzelobjekten, das heißt noumenale kognitive Konzepte, Ideen, voraussetzt. Vgl. KU B 334 und Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 2. Aufl. Bonn 1986, 51—101).
Analytik der teleologischen Urteilskraft
Transzendentales Anthropisches Prinzip
Kants transzendentales anthropisches Prinzip ist: „Man hat, nach transzendentalen Prinzipien, guten Grund, eine subjektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihren besondern Gesetzen, zu der Faßlichkeit für die menschliche Urteilskraft, und der Möglichkeit der Verknüpfung der besondern Erfahrungen in ein System derselben, anzunehmen“ (KU 267)
Natur ist dabei verstanden „als Inbegriff der Gegenstände der Sinne“, d.h. als transzendental-idealistische „Vorstellung der Dinge ... in uns“ (267/8).
Der Teleologiebegriff (KU § 61)
Die Zweckbestimmtheit oder Teleologie ist:
(1) aposteriorisch: „Wie aber Zwecke, die nicht die unsrigen sind, und die auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen, doch eine besondere Art der Kausalität, wenigstens eine ganz eigne Gesetzmäßigkeit derselben ausmachen können oder sollen, läßt sich a priori gar nicht ... präsumieren.“ (268)
(2) ontologisch zufällig: „Überdem ist die objektive Zweckmäßigkeit, als Prinzip der Möglichkeit der Dinge der Natur, so weit davon entfernt, mit dem Begriffe derselben notwendig zusammenzuhängen: daß sie vielmehr gerade das ist, worauf man sich vorzüglich beruft, um die Zufälligkeit derselben (der Natur) und ihrer Form daraus zu beweisen.“ (268)
(3) epistemisch notwendig: „Gleichwohl wird die teleologische Beurteilung, wenigstens problematisch, mit Recht zur Naturforschung gezogen; aber nur, um sie nach der Analogie mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien der Beobachtung und Nachforschung zu bringen, ohne sich anzumaßen, sie darnach zu erklären. Sie gehört also zur reflektierenden, nicht der bestimmenden, Urteilskraft.“ (269) Sie ist ein „regulatives Prinzip für die bloße Beurteilung der Erscheinungen“ (270).
(4) keine Realerklärung: Die teleologische Beurteilung ist nicht ein „konstitutives Prinzip der Ableitung ihrer Produkte von ihren Ursachen“ (270). Denn dann würden wir „eine neue Kausalität in der Naturwissenschaft einführen, die wir doch nur von uns selbst entlehnen und andern Wesen beilegen, ohne sie gleichwohl mit uns als gleichartig annehmen zu wollen.“ (270)
Formale objektive Zweckmäßigkeit (KU § 62)
Objektive Zweckmäßigkeit ist entweder formal (intellektuell, begrifflich) oder material (real, empirisch). Erstere meint die apriorische Korrelation unserer Erkenntnis und Praxis zu den Objekten im Bereich der Mathematik, den geometrischen Figuren (Kreis, Trigonometrie, Kegelschnitte: Parabel, Ellipse) und den arithmetischen Zahlen. Sie thematisiert also die platonischen mathematischen Ideen und das Teilhabeverhältnis der Erfahrungswelt an denselben. Mathematik stellt sich dabei als Verbindung (a) begrifflicher Einsicht mit (b) konventionalistischer Festlegung und (c ) formaler transzendentaler Anschauung dar:
„Die Zirkelfigur ist eine Anschauung, die durch den Verstand nach einem Prinzip bestimmt worden [a]: die Einheit dieses Prinzips, welches ich willkürlich annehme [b] und als Begriff zum Grunde lege, angewandt auf eine Form der Anschauung (den Raum), die gleichfalls bloß als Vorstellung und zwar a priori in mir angetroffen wird [c]), macht die Einheit vieler sich aus der Konstruktion jenes Begriffs ergebender Regeln, die in mancherlei möglicher Absicht zweckmäßig sind, begreiflich“ (274/75)
Vgl. auch KU 276: „Die Figur, die ich einem Begriffe angemessen zeichne“ oder die „Bestimmung“ des Raumes, „vermittelst der Einbildungskraft, gemäß der Begriffe“. Allerdings gilt auch hier: Die Übereinstimmung zwischen Anschauungsform und Verstand ist nicht nur für „uns unerklärlich, sondern überdem noch für das Gemüt erweiternd ..., noch etwas über jene sinnliche Vorstellungen Hinausliegendes gleichsam zu ahnen, worin, obzwar uns unbekannt, der letzte Grund jener Einstimmung angetroffen werden mag“ (277)
Materiale objektive Zweckmäßigkeit (KU § 63)
Die Bedingung und der Anstoß zur Formulierung dieses Begriffs ist ein „Verhältnis der Ursache zur Wirkung“ (279). Diese Kausalbeziehung kann sich in sich, absolut und notwendigerweise aufdrängen — so in der Biologie das Faktum von „Dingen als Naturzwecken“. Sie kann aber auch relativ, zufällig, äußerlich, hypothetisch sein — so in der Ökologie und Ökonomie das Faktum von Nahrungsketten etc. (Wenn Löwen existieren, dann muss es auch Gnus / Beutetiere geben).
Dinge als Naturzwecke (KU § 64)
Die Rede vom Ding als Naturzweck und zwar in sich, nicht nur in Beziehung zur Umwelt entstammt der Einsicht, dass wir „die Kausalität seines Ursprungs nicht im Mechanism der Natur, sondern in einer Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird, suchen ... müssen“ (284). Seine ontologische Form und seine epistemische Erklärung ist nicht aus allgemeinen Naturgesetzen und Erfahrungsprinzipien, also nicht aus der transzendentalen Ästhetik und Analytik ableitbar (284/85). — Diese Art von Kausalität tritt auf drei Ebenen auf: (1) Gattung (Phylogenese) — (2) Individuum (Ontogenese) — Organ (Physiologie) (286-288)
Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen (KU § 65)
Sie zeigen neben der Wirkursache (nexus effectivus) eine Endursache (nexus finalis). Hierfür sind zwei Bedinungen nötig:
(1) Das Ding ist ein intentionales begriffliches Ganzes, das mehr als die Teile ist: „Das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befaßt“ (290), so dass „die Teile (ihrem Dasein und ihrer Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich“ sind (290). M.a.W.: Es ist nur als „Kunstwerk, d.i. das Produkt einer von der Materie (den Teilen) desselben unterschiedenen vernünftigen Ursache [denkbar], deren Kausalität (in Herbeischaffung und Verbindung der Teile) durch ihre Idee von einem dadurch möglichen Ganzen (mithin nicht durch die Natur außer ihm) bestimmt wird“ (290) [Bild links: Carl von Linné (1707—1778), Zeitgenosse Kants und Begründer der heute noch geltenden biologischen Systematik (Taxonomie). Kants KU setzt sich auch mit Linnés Arbeiten auseinander.]
(2) Selbstorganisation: „Die Teile desselben [verbinden] sich dadurch zur Einheit eines Ganzen ..., daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.“ (291)
Das heißt: es ist erstens kein ontologisches Kunstprodukt (technisches Artefakt), obwohl es epistemisch nach Endursachen beurteilt werden muss: Es ist ein „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ (292). Und es ist zweitens keine Maschine wie eine Uhr, wo die Teile sich nicht selbst hervorbringen, sondern sich lediglich wechselseitig bewegen: „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.“ (293)
Fazit: „Der Begriff eines Dinges, als an sich Naturzwecks, ist also kein konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft, kann aber doch ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein, nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken überhaupt die Nachforschung über Gegenstände dieser Art zu leiten und über ihren obersten Grund nachzudenken“ (294/95).
Definition der Zweckmäßigkeit organisierter Wesen (KU § 66)
Definition: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.“ (295/6) Das Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen ist mithin notwendige Bedingung von Erfahrung:
Anatomen und Physiologen „können ... sich auch von diesem teleologischen Grundsatze eben so wenig lossagen, als von dem allgemeinen physischen [der transzendentalen Analytik], weil, so wie bei Verlassung des letzteren gar keine Erfahrung überhaupt, so bei der des ersteren Grundsatzes kein Leitfaden für die Beobachtung einer Art von Naturdingen, die wir einmal teleologisch unter dem Begriffe der Naturzwecke gedacht haben, übrig bleiben würde“ (296/97)
Mechanische Partialerklärungen verschieben die Frage nach dem Ziel ( telos) nur nach hinten:
„Es mag immer sein, daß z.B. in einem tierischen Körper manche Teile als Konkretionen nach bloß mechanischen Gesetzen begriffen werden könnten (als Häute, Knochen, Haare). Doch muß die Ursache, welche die dazu schickliche Materie herbeischafft, diese so modifiziert, formt, und an ihren gehörigen Stellen absetzt, immer teleologisch beurteilt werden, so, daß alles in ihm als organisiert betrachtet werden muß“ (298) [Bild oben: Titelblatt von Linnés bahnbrechendem Hauptwerk Systema naturae (1735).]
Beurteilungsprinzip der äußeren Naturzwecke (KU § 67)
Äußere und innere Teleologie sind der Art nach verschieden: „Ein Ding, seiner innern Form halber, als Naturzweck beurteilen ist ganz etwas anderes, als die Existenz dieses Dinges für Zweck der Natur halten.“ (290) Nur Ersteres, also „die Materie, sofern sie organisiert ist“ ist begrifflich ein Naturzweck, weil „ihre spezifische Form zugleich Produkt der Natur ist“ (300). Letzteres beinhaltet dagegen die „Erkenntnis des Endzwecks (scopus) der Natur, welches eine Beziehung derselben auf etwas Übersinnliches bedarf, die alle unsere teleologische Naturerkenntnis weit übersteigt; denn der Zweck der Existenz der Natur selbst muß über die Natur hinausgesucht werden“ (299)
Die „Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke“ (300) ist aber — mittelbar — ein legitimer Untersuchungsgegenstand: „weil uns die erstere Idee schon, was ihren Grund betrifft, über die Sinnenwelt hinausführt: da denn die Einheit des übersinnlichen Prinzips nicht bloß für gewisse Spezies der Naturwesen, sondern für das Naturganze, als System, auf dieselbe Art als gültig betrachtet werden muß“ (304)
Diese Untersuchung der äußeren Teleologie zeigt den Nutzen, die Schönheit und die Erhabenheit des gesamten Natursystems, „gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe.“ (304)
Teleologie als inneres Prinzip der Naturwissenschaft (KU § 68)
Kant stellt sich aus methodologischen Gründen gegen teleologische Letzterklärungen in der Naturwissenschaft. Eine methodologische Vermengung von immanenten und transzendenten Erklärungen ist für beide Seiten ohne Vorteil. Deswegen spricht die Naturwissenschaft von „Natur“ statt „Gott“ (307):
„Eine jede Wissenschaft ist für sich ein System ... architektonisch ... ein Ganzes für sich ...: Wenn man also für die Naturwissenschaft und in ihren Kontext den Begriff von Gott hereinbringt, um sich die Zweckmäßigkeit in der Natur erklärlich zu machen, und hernach diese Zweckmäßigkeit wiederum braucht, um zu beweisen, daß ein Gott sei: so ist in keiner von beiden Wissenschaften innerer Bestand; und ein täuschendes Diallele bringt jede in Unsicherheit, dadurch, daß sie ihre Grenzen in einander laufen lassen läßt“ (305)
Dagegen ist ein nachträglicher Übergang im Sinne einer interdisziplinären Verbindung resp. In-Beziehung-Setzen zur Metaphysik und Theologie „nach Vollendung der Naturwissenschaft“ (306) richtig und nützlich. In der Physik betrifft dies nun Überlegungen zur Bedingung der Möglichkeit der technischen Zweckmäßigkeit und Anwendung der Arithmetik, Geometrie und Mechanik. Wieso ist die Welt mathematisch beschreibbar und technisch beherrschbar? In der Biologie betrifft dies die Beantwortung der Frage, wieso teleologische Zweckmäßigkeit Bedingung der Möglichkeit von biologischer Erkenntnis und Erklärung ist (307/8). [Bild oben: Pierre S. de Laplace (1749—1827), ein Vordenker der immanenten mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung, bei ihm verbunden mit einer deterministischen Theorie der Natur.]
Dialektik der teleologischen Urteilskraft
Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft (KU §§ 69—71)
Die Dialektik der teleologischen Urteilskraft behandelt eine sich ergebende Antinomie, d.h. einen Widerstreit zwischen zwei regulativen Maximen der menschlichen Kognition und Wissenschaft. Die erste Maxime ist die Forderung, „alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen ... als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich“ zu beurteilen. Die zweite Maxime ist, dass eine Teilmenge materieller Naturdinge nach den kognitiven Kriterien menschlicher Subjekte neben der mechanischen, physikalischen Erklärung transzendente teleologische Ideen als zureichende Gründe erfordert.
Wenn diese subjektiven regulativen Maximen der Urteilskraft zu objektiven, ontologischen, konstitutiven Grundsätzen gemacht werden – also: Alles kann und muss mechanisch erklärt werden versus Einiges kann nicht rein mechanisch erklärt werden – ist der Widerspruch, die Antinomie, da (KU § 70, B 313–316).
Theorien zur Zweckmäßigkeit der Natur (KU §§ 72—77)
Kant diskutiert die logisch möglichen und historisch vorfindlichen wissenschaftstheoretischen und philosophischen Paradigmen hinsichtlich der Naturwissenschaft (KU §§ 72—73). Er benennt als Ursache der Unmöglichkeit des Übergangs zur objektiven ontologischen Interpretation der Teleologie die Unentscheidbarkeit für unsere Erkenntnis der Frage, ob die Materie und ihre Mechanismen ein dynamisches Prinzip der teleologischen Evolution besitzen oder nicht (KU B 328—329). Wir können nur „nach der Beschaffenheit und den Schranken unserer Erkenntnisvermögen“ sagen, dass wir ein solches Prinzip schlicht nicht entdecken können und die Teleologie der Naturdinge daher nur als direkt verursacht „durch einen obersten Verstand als Weltursache“ (KU B 329) erklären können. Aber eventuell bewirkt jener oberste Verstand auch indirekt diese Teleologie. Aber genau das können wir nicht erkennen, aber vielleicht „könnte ein anderer (höherer) Verstand, als der menschliche, auch im Mechanism der Natur, d.i. einer Kausalverbindung ... den Grund der Möglichkeit solcher Produkte der Natur antreffen“ (KU B 346). [Bild oben: Karl Ernst v. Baer (1792—1876), und 1817—1834 wie Kant Professor an der Universität Königsberg. Baer gilt als einer der, wenn nicht der bedeutendste Naturwissenschaftler des 19. Jh..Er ist Begründer der Entwicklungsbiologie (Embryologie), Entdecker der menschlichen Eizelle (1827), und sein Grundbuch Entwicklungsgeschichte der Tiere (1828/37) gilt als "the most important biological work of the century" (American Academy of Arts and Sciences 1876/77, 335). Er widerlegte im Voraus das sog. biogenetische Grundgesetz Haeckels und nimmt "als der glänzendste Gegner der darwinistischen Orthodoxie" (Stephen Jay Gould) die unten vorzustellende aktuelle Kritik Fodors, Piattelli-Palmarinis und Thomas Nagels an der darwinistischen Selektionstheorie praktisch komplett vorweg: Evolutive Plastizität ist in begrenztem Umfang Fakt, aber eine naturalistische universelle Evolution ohne Zielursächlichkeit ist unhaltbar. Baers, an der Embryonalentwicklung illustriertes Axiom ist:.Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn ohne den Teleologiebegriff. A fortiori sprengt die Psyche und die mentale Sphäre, so von Baer, jeden materialistischen Rahmen.]
Aber selbst dann wird die teleologische Erklärung und Kausalität „keineswegs entbehrlich“. Man kann an einem teleologisch oder systemisch organisierten Wesen oder Ding mit gutem Erfolg „zwar alle bekannte und noch zu entdeckende Gesetze der mechanischen Erzeugung versuchen“. Trotzdem ist man „niemals ... der Berufung auf ... Kausalität durch Zwecke, für die Möglichkeit eines solchen Produkts überhoben“ (KU B 353). Kant will damit sagen, dass es denkbar ist, dass die Natur „durchgängig nach beiderlei allgemein zusammenstimmenden Gesetzen (den physischen und den Endursachen) möglich sei“ (KU B 362). Das heißt: alles ist sowohl mechanisch als auch teleologisch verursacht.
Aber auch eine durch den Mechanismus der materiellen Natur verwirklichte Teleologie unterscheidet sich von (zumindest vordergründig) nicht teleologisch organisierten Produkten der Materie, und ist damit sachlich und begrifflich ein eigenständiger Sachverhalt, der einen hinreichenden Grund verlangt.
KU § 77 bietet die abschließende Theorie und Abgrenzung der teleologischen Ideen und unserer Kognition derselben:
Die Vernunftgegenstände „betreffen Ideen, denen angemessen kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, und die alsdann nur zu regulativen Prinzipien in Verfolgung der letzteren dienen konnten. Mit dem Begriffe eines Naturzwecks verhält es sich ebenso, was die Ursache der Möglichkeit eines solchen Prädikats betrifft, die nur in der Idee liegen kann; aber die ihr gemäße Folge (das Produkt selbst) ist doch in der Natur gegeben, und der Begriff einer Kausalität der letzteren, als eines nach Zwecken handelnden Wesens, scheint die Idee eines Naturzwecks zu einem konstitutiven Prinzip desselben zu machen: und darin hat sie etwas von allen andern Ideen Unterscheidendes.
Dieses Unterscheidende besteht aber darin: daß gedachte Idee nicht ein Vernunftprinzip für den Verstand, sondern für die Urteilskraft, mithin lediglich die Anwendung eines Verstandes überhaupt auf mögliche Gegenstände der Erfahrung ist; und zwar da, wo das Urteil nicht bestimmend, sondern bloß reflektierend sein kann, mithin der Gegenstand zwar in der Erfahrung gegeben, aber darüber der Idee gemäß gar nicht einmal bestimmt (geschweige völlig angemessen) geurteilt, sondern nur über ihn reflektiert werden kann.“ (KU B 344—345)
Entscheidend für die Bewertung unserer Kognition der teleologischen Ideen ist die Unterbestimmtheit unserer Wahrnehmung und unseres Denkens: Wir haben epistemisch einen sekundären, diskursiven Verstand (intellectus ectypus), der vom analytisch Allgemeinen zum Besonderen fortgeht, ohne dieses durch das Allgemeine zu bestimmen. Wir haben keinen urbildlichen, intuitiven Verstand (intellectus archetypus), m.a.W. keine intellektuelle Anschauung, welche vom synthetisch Allgemeinen zum Besonderen geht, und dieses dabei bestimmt (vgl. KU B 348—349, 352).
Gemeinsame Basis von Mechanismus & Teleologie (KU § 78)
Die gemeinsame Basis, das gemeinschaftliche Prinzip der Mechanik und Teleologie schließlich ist ein „transzendent[es]“ übersinnliches „Prinzip“ (KU B 357), von dem wir in unserer Kognition nur den „unbestimmten Begriff eines Grundes“ fassen können (KU B 358—359, 387). Es ist allerdings eine „erlaubte Hypothese“ diesen gemeinsamen transzendenten Grund als „allgemein[es] Prinzip der reflektierenden Urteilskraft für das Naturganze (die Welt) anzunehmen“ (KU B 361).
Diskussion der Theorie der Evolution (KU §§ 80—81)
Die §§ 80 und 81 von KU bieten die kantische Stellungnahme zur Theorie der Evolution (v.a. B 366—373). Terminologisch ist darauf hinzuweisen, dass Kant den Term „Evolutionstheorie“ nicht für den heutigen Bedeutungsgehalt verwendet. Evolution im modernen Sinn ist bei Kant generatio univoca und aequivoca (vgl. KU B 370 Anm.). Evolution(stheorie) bedeutet bei Kant hingegen eine Theorie zur biologischen Zeugung und Ontogenese, welche diese interpretiert als Entfaltung einer individuell determinierten, präformierten Keimanlage. Die Gegenthese ist die Theorie der Epigenesis, die die Zeugung und Ontogenese als Entfaltung einer nur generisch präformierten, genetischen Potenz interpretiert, als Zusammenspiel von mechanischer Bildungskraft und einem unerkennbaren teleologischen Bildungstrieb. Beides sind Varianten der philosophischen Prästabilismustheorie (siehe in Folge) (vgl. KU § 81, v.a. B 376). [Foto oben: Gregor Mendel (1822—1884), Begründer der Genetik und der nach ihm benannten Erbgesetze.]
Das entscheidende Argument Kants zur Sache ist nun, dass das Faktum der Evolution des Lebens und der Lebensformen, die Kant so beschreibt, wie sie auch heute gedacht wird, akzeptiert werden kann, ohne dass sich logisch die Situation gegenüber einer Theorie der direkten Erzeugung oder Erschaffung der Arten ändert. Auch die Evolutionstheorie muss dem „Mutterschoß der Erde“ und ihrem ursprünglichen „chaotischen Zustande“ eine „auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist“ (KU B 369). Dann hat der Evolutionstheoretiker aber „den Erklärungsgrund nur weiter aufgeschoben, und kann sich nicht anmaßen, die Erzeugung jener zwei Reiche von der Bedingung der Endursachen unabhängig gemacht zu haben“ (KU B 369—370). Die logische Einzelanalyse der Evolutionsmodelle (KU B 370 Anm.) resultiert in diesem Fazit:
(1) Die Urzeugung (generatio aequivoca), also die Entstehung von Leben aus nichtorganischer Materie kann sich Kant — im Gegensatz zur Antike und Scholastik — nicht vorstellen; er hält sie für „ungereimt“ (vgl. auch KU B 379).
(2) Die Hypothese von der Evolution anderer bzw. höherer Lebensformen aus früheren oder niedrigeren (generatio univoca) beurteilt Kant als „a priori, nach dem Urteile der bloßen Vernunft“ nicht widersprüchlich.
(3) Dennoch ist diese Hypothese empirisch schwerlich bestätigbar, da sie „soweit unsere Erfahrungserkenntnis der Natur reicht, nirgend angetroffen wird“. Empirisch kennen wir positiv nur die artenerhaltende Zeugung (generatio homonyma). Wahrscheinlich wäre Kant in diesem Punkt heute etwas optimistischer, aber die Frage ist interessant und keinesfalls trivial, wo Kant in der gegenwärtigen Grundlagenforschung Stellung beziehen würde.
Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft
Wissenschaftstheorie der inneren Teleologie (KU §§ 79—81)
Diese Paragraphen greifen noch einmal das Thema der letzten Abschnitte der Analytik der Urteilskraft in methodologischer Rücksicht auf. Vgl. hierzu auch die einleitenden Wissenschaftstheoretischen Vorbemerkungen!
Wissenschaftstheorie der äußeren Teleologie (KU §§ 82—84)
KU § 82 weitet das Thema Teleologie, zielgeleitete Ordnung auf die Gesamtnatur aus, näherhin auf die Perspektive eines globalen ökologischen Systems (vgl. Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 2. Aufl. Bonn 1986, 102—205). Paragraph 83 frägt folgerichtig nach „dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems“. Ansatzpunkt ist die Feststellung, dass der Mensch nicht nur ein Naturzweck, ein biologisches System ist, sondern wir auch genügende Anhaltspunkte haben, um zu sagen, dass er in dieser Welt der „letzte[n] Zweck der Natur“ ist (KU B 388).
Welchen Dienst leistet die Natur also diesem ihrem letzten Zweck? Ist sie sein Ziel, seine Glückseligkeit, oder ist sie Mittel und Material seiner Selbstdisziplin und Tüchtigkeit, kurz seiner individuellen, körperlichen und weltbürgerlichen Kultur. Kants Antwort erkennt ihr aus allgemein nachvollziehbaren Gründen den zweiten Status zu. Hinterfragen ließe sich freilich die strikte dichotomische Gegenüberstellung (Ziel oder Mittel) zugunsten der Sicht, dass die Natur nicht nur Mittel ist, sondern mindestens vorläufige, partielle, untergeordnete Ziele verkörpert. Vgl. Düsing (1986, 212—228).
Der Kulminationspunkt der teleologischen Analyse der Wirklichkeit ist die Frage nach dem „Endzweck“ nicht nur der teleologisch organisierten Dinge und der Welt, sondern nach dem Endzweck der teleologischen Organisation der Dinge und der Welt selbst (§ 84) seitens des Urhebers dieser Welt und ihrer Organisation (KU B 397). Die Antwort geht von der Beobachtung aus, dass ein einziges Lebewesen auf der Welt teleologische Kausalität zeigt, die zugleich unbedingt geltend und frei, d.h. unabhängig von Naturbedingungen ist: „der Mensch ... als Noumenon“ (KU B 398) und „Subjekt der Moralität“ (KU B 399): „Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich“ (KU B 398) und man kann nicht weiterfragen, welchem weltimmanenten Zweck er seinerseits dient.
Wissenschaftstheorie der Physikotheologie (KU § 85)
Die §§ 85—91 (KU B 400—482) erörtern die Gottesbeweise und Natur und Status der Theologie. Sie sind eine Parallele zur tranzendentalen Dialektik (4. Antinomie und transzendentales Ideal) sowie zur transzendentalen Methodenlehre (Kanon der reinen Vernunft) der Kritik der reinen Vernunft (KrV). Wie dort differenziert Kant in diesem Paragraphen die Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises vom Dasein Gottes im Sinne einer positiven Erkenntnis Gottes im menschlichen Begriff (KrV B 648—658). Kant gibt ansonsten das Argument im Prinzip zu:
„Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, ... daß sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses Erstaunen auflösen muß. Allerwärts sehen wir eine Kette von Wirkungen und Ursachen, von Zwecken und den Mitteln, Regelmäßigkeit im Entstehen oder Vergehen, und, indem nichts von selbst in den Zustand getreten ist, darin es sich befindet, so weiset es immer weiter hin nach einem anderen Dinge, als seiner Ursache, welche gerade eben dieselbe weitere Nachfrage notwendig macht, so, daß auf solche Weise das ganze All im Abgrunde des Nichts versinken müßte, nähme man nicht etwas an, das außerhalb diesem unendlichen Zufälligen, für sich selbst ursprünglich und unabhängig bestehend, dasselbe hielte, und als die Ursache seines Ursprungs ihm zugleich seine Fortdauer sicherte.“ (KrV B 650, vgl. KrV B 651—652 ). [Foto oben: Philipp Ch. Zeller (1808—1883), bahnbrechender Entomologe, welcher in 13 monumentalen Bänden die unvorstellbar große Biodiversität der Insekten beschrieb und klassifizierte.]
Kants wichtigster Vorbehalt geht denn auch nicht gegen den Beweis, sondern nur gegen eine Modalität des Beweises, nämlich ihm logisch zwingende Notwendigkeit, also „apodiktische Gewißheit“ ohne Rekurs auf und ohne Einbeziehung praktischer Einstellungen, zuzuschreiben. Demgegenüber möchte Kant den Beweis in „Mäßigung und Bescheidenheit“ auf die Modalität eines „zur Beruhigung hinreichenden ... Glaubens“ herabstimmen (B 652–653; ähnlich in der Methodenlehre, KrV B 768—774). Siehe dazu die ausführlichere Erörterung zu Kants negativer Theologie im Menu Negative Theologie.
Kant nimmt als korrekteste Analogie beim Denken des Ersten Prinzips die o.g. Analogie mit unserer, uns am besten bekannten Kausalität aus Freiheit und rationalen Zwecken an. Die Alternative wäre die Zuflucht zu unbekannten, „dunkeln und unerweislichen Erklärungsgründen“ (KrV B 654). Kants zweiter Vorbehalt ist nun, dass dieser Beweis dennoch streng genommen nur einen „Weltenbaumeister“, nicht aber einen „Weltschöpfer“ dartun könne (KrV B 655). Der dritte Vorbehalt Kants ist, dass auch dieses analoge Erschließen eines unermesslich intelligenten und unendlich mächtigen Weltprinzips keinen positiven, bestimmten Begriff Gottes bietet, da wir nicht positiv „nach Umfang sowohl als Inhalt“ die „Allmacht“, die „höchste[n] Weisheit“ und „absolute[n] Einheit“ des Urhebers einsehen (B 656): „Also kann die Physikotheologie keinen bestimmten Begriff von der obersten Weltursache geben, und daher zu einem Prinzip der Theologie, welche wiederum die Grundlage der Religion ausmachen soll, nicht hinreichend sein.“ (KrV B 656, siehe auch B 665—667) Eine parallele Ausarbeitung zur Physikotheologie findet sich hier in KU § 75 und § 85 (B 400—410) — einschließlich einer systematischen Analyse Kants zum Pantheismus und speziell Spinozismus.
Wissenschaftstheorie der Ethikotheologie (KU §§ 86—91)
In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant zum ersten Mal ausführlich den ethikotheologischen Gottesbeweis entwickelt. Siehe hierzu den Abschnitt Negative Theologie bei Immanuel Kant im Untermenu Negative Theologie.
Eine parallele und sehr ausführliche Darstellung der Ethikotheologie bieten nun die abschließenden Paragraphen der Kritik der Urteilskraft (§§ 86—91: 410—419). Paragraph 87 entwickelt den moralischen Gottesbeweis an der „Nomothetik der Freiheit“. Paragraph 88 restringiert auch den so gewonnenen Gottesbegriff auf eine analoge Erkenntnis Gottes. Paragraph 90 wiederholt obiges Argument, dass alle theoretischen Beweisgründe (Kant nennt in absteigender Gewissheit: 1) logischer Vernunftschluss, 2) Analogieschluss, 3) Wahrscheinlichkeit, 4) Hypothese) kein Fürwahrhalten des Satzes von der „Existenz eines Urwesens, als eines Gottes, in der dem ganzen Inhalte dieses Begriffs angemessenen Bedeutung, nämlich als eines moralischen Welturhebers“ erzeugt (KU B 447, ebenso B 465—466, 470—471, 475—476). Kant lässt interessanterweise die KU auf eine abschließende Konfrontation zulaufen zwischen dem aristotelischen Beweis des indifferenten Begriffs eines ersten Bewegers der Natur und dem ethikotheologischen Beweis des personalen und ethischen Gottesbegriffs der Theologie (KU B 479—482). Vgl. Schmucker (Die primären Quellen des Gottesglaubens, Freiburg/Basel/Wien 1967, 48—50, 55) und Höffe (Architektonik und Geschichte der reinen Vernunft (A832/B860—A856/B884). In: Mohr, G./Willaschek, M. (Hrsg.) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 617—645).
Zur aktuellen Interpretation der teleologischen Urteilskraft
Die ausführlichsten Kommentare zur KU sind einmal M. Frank / V. Zanetti (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Text und Kommentar, Frankfurt am Main 2009. Zum anderen I. Goy: Kants Theorie der Biologie [= Kantstudien-Ergänzungsheft 190], Berlin / Boston 2017. Unter den klassischen monographischen Bearbeitungen dieses Lehrstücks ist v.a. Klaus Düsing zu nennen: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 2. Aufl. Bonn 1986. Es ist bis heute die systematisch orientierte Standarddarstellung der KU. Außerdem Peter McLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989. Eine mehr einführende angelsächsische Darstellung ist Douglas Burnham: An Introduction to Kant’s „Critique of Judgment“, Edinburgh 2001. Alberto L. Siani: Kant e Platone. Dal mondo delle idee all'idea nel mondo, Pisa 2007, und Amy Lund: Reflective Judgement and Non-Discursive Intelligibility in Kant’s Third Critique, Phil. Diss.: University of New Mexico 2002/03, stellen die KU in einen wirkungsgeschichtlichen Horizont, der die Kantforschung am Beginn des 20. Jh. schon einmal sehr beschäftigte (s.u.). Christian Wohlers: Kants Theorie der Einheit der Welt. Eine Studie zum Verhältnis von Anschauungsformen, Kausalität und Teleologie bei Kant, Würzburg 2000, erarbeitete eine Zusammenschau von transzendentaler Ästhetik, transzendentaler Logik und Teleologie in der kantischen Theorie. Wohlers greift der Sache nach die umfassende Kantinterpretation Gottfried Martins auf: Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 4. Aufl. Berlin 1969. Eine aktuelle monographische Behandlung bietet auch Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Untersuchung zu Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei Kant, Berlin/New York 1992. Die Integration von mechanischer, kausaler und finaler, teleologischer Erklärung wird ausführlich erörtert in der Interpretation der kantischen Wissenschaftstheorie durch Robert E. Butts: Kant and the double Government. Methodology — Supersensibility and Method in Kant’s Philosophy of Science, Dordrecht/Boston/Lancaster 1984. Wolfgang Bartuschat: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1972, diskutiert die Systemstelle der KU im kritischen Gesamtwerk Kants. Ähnlich John D. McFarland: Kant‘s Concept of Teleology, Edinburgh 1970.
Sehr wichtig sind ferner die schon älteren Grundlagenwerke der Altmeister der Kantforschung Paul Menzer: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte, Hildesheim u.a. 2006 [1911], Emil Ungerer: Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der Biologie, Berlin 1922, Erich Adickes: Kant als Naturforscher, 2 Bde., Berlin 1924/25, Heinz W. Cassirer: A Commentary on Kant‘s “Critique of Judgement“, London 1938, Gerhard Lehmann: Kants Nachlaßwerk und die Kritik der Urteilskraft, Berlin 1939. Bekannte ältere Interpretationen sind auch Max Horkheimer: Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, Frankfurt a. M. 1925, und Konrad Marc-Wogau: Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala/Leipzig 1938. Die wichtigsten Sammelbände zum Thema sind Paul Guyer (ed.): Kant’s Critique of the Power of Judgment, Lanham 2003, R. Hiltscher et al (Hrsg.): Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants „Kritik der Urteilskraft“, Berlin 2006, E.-O. Onnasch (Hrsg.): Kants Philosophie der Natur. Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009, sowie I. Goy / E. Watkins (eds.): Kant's Theory of Biology, Berlin / Boston 2014. Für einen Überblick zur wichtigsten Aufsatzliteratur siehe den Literaturbericht (Abschnitt 1.4.2) in der in Folge genannten E-Publikation.
Dieses Kapitel zu Kants Philosophie der Biologie liegt auch als eigene Aufsatzpublikation im PDF-Format vor — unter dem Titel: Immanuel Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft.
Aristoteles' Ansatz zur Evolutionsbiologie
Intelligible Formprinzipien (eide)
Dass Kant in philosophischer und logischer Beurteilung der Evolutionstheorie weithin mit der Tradition (insbesondere Aristoteles) übereinkommt, zeigt die Spezialuntersuchung des führenden Aristotelesinterpreten Christian Pietsch (Biologische Evolution und antike Ideenlehre. In: Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption. Hrsg. v. K. Döring u.a., IV, 1994, 17—30) zum Verhältnis der antiken Ideenlehre zur biologischen Evolution. Sie bietet zugleich einen Überblick über die voraufgehende Forschung und einschlägige Literatur:
Natürliche Arten sind nach Aristoteles Komposita aus Materie (hyle) und Form (eidos), wobei die Form definitorisch vorrangig ist. Ferner ist die Form eine aus der Beobachtung der biologischen Funktionen erschlossene ideelle Ursache, keine abstrahierte Sammlung der gemeinsamen, äußeren, morphologischen Merkmale:
„Das Eidos ist ... ein funktionales, intelligibles Element, an dem sich die Ausformung des Körperlichen orientiert und das somit als ursächlich und ontologisch primär gegenüber dem körperlichen Compositum angesehen werden muß.“ (1994, 22, vgl. 25—29)
Ferner: „Dies bedeutet, daß Aristoteles’ Behauptung von der Ewigkeit der Eide sich nicht auf die körperlichen Strukturen, weder geno- noch phänotypisch, beziehen kann, sondern nur auf das intelligible Eidos. Ein solches überindividuelles, funktionales Eidos bedeutet vielmehr, daß gerade keine bestimmte körperliche Ausformung des Compositums festgelegt ist. Festgelegt ist allein das Ziel, in der Materie ein möglichst hohes Maß der funktionalen Implikate des Eidos zu verwirklichen.“ (1994, 22)
Pietschs Untersuchung argumentiert weiterhin für die These, „daß genau diese Konzeption eine Entwicklung der Arten und Gattungen ihrer körperlichen Erscheinung nach entweder als Reaktion auf veränderte Umweltbedingungen oder in dem Bestreben, das Eidos noch vollkommener in der Materie zu verwirklichen, nicht nur möglich, sondern im Grunde sogar notwendig macht.“ (1994, 22) Diese These muss u.E. allerdings sowohl philosophiegeschichtlich (siehe in Folge) wie von der empirischen Sachforschung her (siehe das Untermenu 'Lebenswissenschaften') differenziert werden. Dasselbe gilt von der Feststellung Pietschs dass Aristoteles diese Annahme überindividueller Entwicklungen in der kulturellen Evolution zur Anwendung bringe, in der Biologie jedoch mangels empirischem Anhaltspunkten keine ausdrückliche Theorie der Evolution entwickelt habe, welche — so Pietsch — „doch in der Konsequenz seines Systems“ liegt (1994, 29).
Davon abgesehen können wir Pietsch wieder ohne Einschränkung zustimmen, wenn er diese potentielle aristotelische Entwicklungstheorie, die — wie die kantische KU — die physische, mechanische und die ideelle, informationelle, teleologische Erklärung vereinigt, für überlegener und zukunftsfähiger hält als das vorherrschende Paradigma, das wenigstens ursprünglich allein mit physikalischen Erklärungen arbeitete (vgl. 1994, 29—30).
Formprinzipien und moderne Evolutionstheorien
Bei Arbogast Schmitt: Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart 2. Aufl. 2008, wird das Gesagte in einem weiteren Horizont erörtert. Schmitt geht von der im angelsächsischen Bereich sehr einflussreichen Position der Neuro- und Evolutionsbiologen resp. Psychologen Steven Rose, Richard Lewontin, Stephen Jay Gould, und Leon Kamin aus. Sie sind vielleicht als Vertreter einer Mischtheorie von evolutionistischem Konstruktionismus anzusprechen, der den Schwerpunkt auf epigenetische selbstorganisatorische Prozesse legt, und dem klassischen Darwinismus und seiner Weiterentwicklung in der Synthetischen Evolutionstheorie, welcher bekanntlich den Akzent auf die genetisch fixierte Umweltanpassung legt. Insbesondere wird von diesen Autoren die Soziobiologie kritisiert, welche psychosoziales und moralisches Verhalten als durch biologische Vorgaben determiniert betrachtet. Bekannte Publikationen sind etwa Rose. S. / Lewontin, R. / Kamin, L. J.: Not in Our Genes, New York 1985, und das bekannte Buch des Londoner Neurobiologen Steven Rose: Darwins gefährliche Erben: Biologie jenseits der egoistischen Gene, München 2000. Schmitt referiert als Roses Position, „daß die beobachtbaren oder rekonstruierbaren Abläufe der Evolution gegen ein völlig offenes und blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit sprechen, sie machen vielmehr die Annahme nötig, daß die Evolution Vorgaben hat, die ihre Möglichkeiten einschränken, ja lenken.“ (2008, 475). [Foto oben by Kathy Chapman online (Creative Commons Attribution 3.0): Stephen J. Gould, 1941—2002, Theoretiker des "unterbrochenen Gleichgewichts" (punctuated equilibrium) in der Evolutionsbiologie, also punktueller explosionsartiger Entwicklungsschübe zwischen langen Perioden von Formstabilität (Stasis); sowie des non-overlapping magisteria (NOMA) Prinzips, das Naturwissenschaften und Geisteswisssenschaften (inkl. Religion und Ethik) je verschiedene, wechselseitig unabhängige, nicht miteinander konkurrierende und konfligierende Lehrbereiche zuspricht]
Schmitt meint dann: Was diese „neueren biologischen Erklärungen von Platon und Aristoteles trennt, ist, daß sie in diesen Vorgaben der Evolution eine Art immanenter Gesetzlichkeit im Evolutionsgeschehen selbst sehen.“ (2008, 475). Da aber der Zufall „ein wesentlicher Faktor im Evolutionsgeschehen“ ist, sei diese Sicht nicht realitätsnah (ebd. 475—476). Schmitt sieht nun die überlegenere Erklärung bei der antiken Ideen- oder eidos-Lehre, welche er so darstellt: „Für Platon und Aristoteles handelt es sich bei diesen Vorgaben [sc. der Evolution] nicht um immanente Steuerungsmechanismen, sondern um rational begreifbare Möglichkeiten, sozusagen um einen Möglichkeitsraum, der bestimmte Möglichkeiten von Bewegung und Veränderung vorgibt, die in konkreten Prozessen mehr oder weniger oder auch gar nicht realisiert sein können [wobei ...] diese Bewegungsmöglichkeiten selbst nicht in einer Evolution entstehen, sondern ... jede mögliche Evolution sich ihrer immer schon bedienen muß“ (2008, 476) Hier scheint uns, dass sehr Wichtiges mit Problematischem gemischt ist, was in Folge noch zur Verhandlung kommt.
Diese Möglichkeiten der Entwicklung sind, so weiter Schmitt, die Strukturprinzipien oder Formursachen, die als hinreichende Bedingung zu der mehr oder minder großen Komplexität des vorliegenden Mediums oder der Materialursachen - als der notwendigen Bedingung - hinzukommen müssen (2008, 477—479). So „benötigt der Architekt ein möglichst genaues Materialwissen. Dazu kann die Analyse der Ziegelsteine bis hin auf ihre molekularen Bauprinzipien viel beitragen [...] Es wird aber niemand aus den Erkenntnissen, die man durch eine chemisch-physikalische Analyse der Ziegelsteine gewinnt, ein Wissen über die Auffindung derjenigen Formen ableiten wollen, die man kennen muß, damit aus diesem bereits fertigen Material Haus, Turm, Brücke, Kirche oder Schloß wird.“ (2008, 481).
Immanente Formursachen als dynamische Entelechien
Die Deutung der Formursache oder des Eidos als begriffliche Möglichkeit trifft nun sicher etwas Richtiges und Wichtiges. Aber es ist eine zu deflationistische oder minimalistische Deutung. Denn die Formursache ist bei Aristoteles zugleich Entelechie (= dynamische Zweck- oder Finalursache), d.h. ein aktives, zielgerichtetes Lebensprinzip mit Steuerungsfunktion. Th. Buchheim (Was heißt „Immanenz der Form“ bei Aristoteles? In: AGPh 84 (2002) 223—231) hat dies in der gegenwärtigen Diskussion neuerdings gut herausgearbeitet. Immanenz der Form heißt Ungetrenntheit qua innere sich selbst organisierende Lebensform. Es handelt sich nicht nur um eine passive, objektive begriffliche Möglichkeit. Es ist „die sich selbst erhaltende [stabile] Lebensaktivität eines sie durchführenden Körpers“ (a.a.O. 2002, 231). Ebenso zeigt H.-Th. Liske (Aristoteles‘ Philosophie des Geistes. Weder Materialismus noch Dualismus. In: Meixner U. / Newen A. (Hrsg.): Seele, Denken, Bewusstsein. Zur Geschichte der Philosophie des Geistes, Berlin/New York 2003, 20—56), dass die substantiale Form von Lebewesen auch und besonders Lebensprinzip, Seele ist. Seele meint bei Aristoteles sowohl objektive begriffliche Form, Verwirklichung, Funktion, zielgerichtetes Werk als auch subjektive charakteristische Tätigkeit, Lebensweise und Wirkursache. Sie ist „Ziel und Verwirklichung“ (2003, 39).
Franz von Kutschera (Platon. Der Vorrang des Geistigen. In: Meixner U. / Newen A. (Hrsg.): Seele, Denken, Bewusstsein. Zur Geschichte der Philosophie des Geistes, Berlin/New York 2003, 1—19) macht anhand der Quellen unmissverständlich klar, dass Platon und Aristoteles Anhänger der sog. Agenskausalität sind. Das heißt: Die ersten und eigentlichen Wirkursachen sind Handlungen beseelter Wesen. Einschlussweise bringt dies auch Schmitt zur Sprache, wenn er einerseits sagt: Platons „Ideen sind keine unveränderlichen Bauteile empirischer Gegenstände, sondern unterscheidbare Möglichkeiten. Sie können auf verschiedenen Wegen, z.T. auch durch Zufall, und in verschiedenem Maß realisiert werden". Und fortfährt: "Bei Lebewesen geschieht dies v.a. durch Wahrnehmung, Gedächtnis, Vorstellung, beim Menschen auch durch Meinung und Urteil“, also durch ein erkennendes und handelndes Lebensprinzip (2008, 496).
Richtig und bedenkenswert erscheinen weiter zwei Bemerkungen. (i) Sowohl die auf Mutation und Auslese fußende Synthetische Evolutionstheorie wie auch die auf die immanente Selbstorganisation oder Autopoiesis abhebende konstruktionistische Evolutionstheorie weisen dem Zufall „eine begrifflich falsche Systemstelle zu“ bzw. man bestimmt nicht präzise dessen „genaue Teilrolle“ und macht so „den Zufall zur Ursache des gesamten Geschehens“ (Schmitt a.a.O. 2008, 482). Und (ii): Man kann „relativ stabile Elemente oder Elementverbindungen nicht schon als ‚ewige Naturgesetze‘ verstehen [Stoa und Rationalismus] ..., genauso wenig wie die Beobachtung der Veränderlichkeit dieser ‚ewigen Gesetze und Strukturen‘ ein bloßes Spiel von Zufall und Notwendigkeit beweist [Epikureismus und Evolutionismus]“ (2008, 487)
Elementarformen und Substanzen
Schmitt betont weiter gegen manche platonisierende Deutungen der modernen Physik, dass Atome oder Elementarteilchen keine Ideen oder intelligiblen Formen resp. Strukturprinzipien sind: „Die letzten Elemente der Materie“ sind für Platon „tatsächlich nicht Materie in unserem Sinn des Wortes“ aber auch „nicht nur nicht Ideen, sondern der äußerste Gegensatz dazu“ (2008, 489-490). Es sind wie bei Aristoteles mathematisch zu definierende sog. Elementarformen: „Elementare Bausteine der Physik oder der Biologie sind ... auf jeden Fall keine platonischen Ideen. Sie sind mit Blick auf bestimmte Komplexe (Körper, Organismen, Genome usw.) letzte, in sich bereits strukturierte Einheiten und damit durch Formen geprägt. Sie sind nicht selbst Form“ (2008, 495).
Deswegen ist in der aristotelisch-thomistischen Tradition der Anwendungsbereich substantieller Formen oder Strukturprinzipien extrem eingeschränkt. Aristoteles hat den Wesensbegriff (Formprinzip) und die Substanzkategorie nur auf natürliche lebende Systeme bzw. biologische Organismen anwenden wollen, nicht auf physikalische Elemente und chemische Stoffe (Metaphysik H 3), auch nicht auf begriffslogische Gattungen (Metaphysik H 1), und auch nicht auf technische Artefakte (Metaphysik H 3). Nach Aristoteles sind also weder materielle Elemente und Stoffe noch logische Gattungsbegriffe noch technische Produkte Substanzen. Die (damals) vier Elemente, und die sogenannten (mikrophysikalischen) Elementarformen der Elementarebene sowie mineralische Körper sind für Aristoteles nicht Substanzen oder Essenzen.
Das alles zeigt aber zugleich die ungeheure Bedeutung, welche die Lebenswissenschaften und die Biophilosophie im aristotelischen Denken überhaupt haben. Lebende Organismen und Personen sind die prototypischen, ja exklusiven Kandidaten für Substanzen. Das zeigt auch und sogar ganz besonders die Metaphysik des Aristoteles. Wir habens schon anderenorts auf diesem Netzportal herausgearbeitet: Die Metaphysik des Aristoteles ist nur und genau durch Erkenntniskritik methodisch kontrollierte Ontologie der Substanzen = lebender, erkennender und handelnder Subjekte: (i) Biophilosophie und (ii) Philosophie des Geistes einschließlich der (iii) Theologie als Philosophie des göttlichen Seins, Lebens und Geistes.
Der Inhalt der Metaphysik lässt sich konsistent wie folgt
wiedergeben: Ihr Gegenstand ist das, was alle Einzelwissenschaften
unreflektiert voraussetzen: das Sein [ihrer Forschungsgegenstände] als
Sein und zwar sowohl qua Dasein oder Existenz als auch qua Sosein oder Wesen. Das Sein wird identifiziert als vielschichtiger, analoger Begriff, dessen Prototyp und Vollform die Substanz als selbststängige natürliche Existenz ist, also als biologische oder spirituelle Lebensform. Diese und nur diese Lebensformen sind Substanzen, nach deren Erkenntniskriterien und Realursachen gefragt wird. Erkenntniskriterien sind die universellen (= transzendentalen), speziellen (= kategorialen) und genetischen (= modalen) Grundbegriffe sowie die kognitiven Grundsätze oder Axiome (Identitäts- und Nichtwiderspruchsprinzip, Prinzip des ausgeschlossenen Dritten). Realursachen der Substanzen sind (i) die organisierende Struktur / Form, (ii) der zugrundeliegende Stoff, (iii) die Wirkursache(n) und (iv) der Zweck / Teleologie. Der Fehler der Vorsokratiker war die materialistische Reduktion des Seins auf den Stoff und physikalische Wirkursachen. Der Fehler der Pythagoräer und Platoniker ist die idealistische Identifizierung des prototypischen, substantiellen Seins mit mathematischen Strukturen und begrifflichen Ideen. Archetyp substantiellen Seins und Hochziel endlicher Substanzen ist "Gott, das ewige, beste Lebewesen" (Λ 7).
Die aktuelle Debatte zur Evolutionsbiologie
Wir haben bereits in dem einleitenden Menu zur Evolutionsbiologie die Kontroversen um das herrschende Paradigma vorgestellt, welche seit einem Jahrzehnt durch das explosionsartig gewachsene Wissen um Bau und Arbeitsweise der Gene und des Genoms entstanden sind. Diese Kontroversen haben inzwischen zu einer grundsätzlichen Debatte um die Leistungsfähigkeit der darwinistischen Selektionstheorie geführt. Sie wird angeführt von Fodor, Jerry / Piattelli-Palmarini, Massimo: What Darwin Got Wrong, New York 2010. Das Buch ist in Kontakt und im Gespräch mit namhaften Vertretern der evolutionsbiologischen und entwicklungsbiologischen Forschungsgemeinschaft entstanden, zu der auch der gelernte Biophysiker und Molekularbiologe Piattelli-Palmerini [Foto links, Attribution Share Alike 3.0 Unported] selbst zählt. Fodor andererseits ist einer der einflusssreichsten Vordenker der interdisziplinären Kognitionswissenschaft, dessen Einsichten und Analysen wegweisend für realwissenschaftliche Disziplinen wie die Neurobiologie wurden (z.B. das Konzept der Modularität des Gehirns). Auch der intellektuelle Übervater der modernen Sprachwissenschaft, Noam Chomsky, zählt zu den Beratern und Anregern des Werkes.
Die weitgehendste und kämpferischste Gegenposition zu Fodors und Piattelli-Palmarinis Analyse ist Dennett, Daniel: Darwin‘s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life, New York 1995 [deutsch: Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens, Hamburg 1997]. Fodor und Piattelli-Palmarini sehen das auch so und nehmen ausdrücklich Bezug auf Dennetts Manifest pro globalen Adaptionismus. Wir halten Dennetts Ausführungen allerdings für nicht mehr wirklich diskursfähig. Die neueren und neuesten Entwicklungen der Evolutionsbiologie sprechen einfach zu deutlich dagegen. Nun ist Dennetts Manifest pro globalen Adaptionismus aber wirklich global, d.h. es geht ihm ganz besonders und sogar vorrangig darum, die adaptionistische These nicht nur für die Biologie als zentral und universell darzutun (was sie nach heutigen Erkenntnisstand auch dort nicht ist), sondern auch für die Psychologie, Pädagogik, Ethik, Politik. Diese Ausweitung hat nun noch einmal ihre besonderen Tücken und Fragezeichen.
Die folgende Datei bietet einen Überblick zu dieser ganz aktuellen Debatte um die Leistungsfähigkeit der darwinistischen Selektionstheorie. Sie behandelt die folgenden Themen:
(1) Aberglaube und Mächte der Finsternis
(2) Wissenschaftstheoretische Parallele zwischen psychologischer Lerntheorie und biologischer Evolutionstheorie
(3) Übergewicht interner Randbedingungen und Entwicklungsfaktoren: Evo-Devo-Revolution
(4) Genomanalyse: Genschrott mutiert zum Planungsbüro
(5) Invarianz und Robustheit der genetischen Kernmodule von Organismen
(6) Fusionierte Merkmalskomplexe (Module) statt isolierter phänotypischer Merkmale
(7) Begrenzte Entwicklungsspielräume und Gesetz der rekurrenten Variation
(8) Epigenetische Programme (software) auf Genomrechnern (hardware)
(9) Nichtmutationelle Selbstorganisation durch horizontalen Gentransfer, reverse Transkription und chemische Genregulierung
(10) Apriorische Formatierung und Optimierung: Geometrische und physikalisch-chemische Formgesetze
(11) Eine Lanze für das Konzept irreduzibel komplexer Systeme
(12) Zahlende Kunden und Trittbrettfahrer in der Natürlichen Auslese: Zur Identifizierung effektiver kausaler Rollen in koextensiven Eigenschaftskomplexen
(13) Notwendige Bedingung für erfolgreiche Auslese ist mentale Verursachung mit Intentionalität und kontrafaktischer Intensionalität
(14) Die Theorie natürlicher Auslese ist wissenschaftstheoretisch vom Typ individueller (idiosynkratischer) historischer Erklärung (explanatory story), nicht vom Typ systematischer nomologischer Erklärung (covering law)
(15) Aporetisches Dilemma und Tabuisierung der „katastrophalen“ Gretchenfrage
(16) Dennett: Darwinistischer Adaptionismus als Theorie für alles
Fodor_Piatelli_Natural_Selection.pdf
Das Papier zeigt in der Einleitung auch, dass Fodor bzw. Piattelli-Palmarini als moderner Winkelried wahrgenommen wurden, welche die feindlichen Lanzen der darwinistischen Phalanx gepackt und auf ihre Brust gerichtet haben — unter dem bekannten Ruf: "Der Freiheit [scl. der Wissenschaft] eine Gasse!". Und dass man ihre Wirkung auf Fachwelt und Öffentlichkeit zwar eher schlecht als recht, aber immerhin noch einigermaßen neutralisieren konnte. Inzwischen hat sich das Schlachtenglück gewendet, da der New Yorker Philosoph und Kognitionswissenschaftler Thomas Nagel [Foto links], ein absolutes Schwergewicht in der Wissenschaftsgemeinde, in die von Fodor und Piatelli-Palmarini geschlagene Gasse vorgeprescht ist, diese noch erheblich verbreitert hat und selbst die Leitmedien des Establishments wie die New York Times begonnen haben, die Zukunft des Darwinismus in Frage zu stellen. Nagels Offensive erfolgte mit dem in den USA breit und intensiv diskutierten Buch Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature Is Almost Certainly False, Oxford 2012 [dt.: Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013].
Nagel glaubt, dass die Biologie mit mechanischen Ursachen auf materialistischem Material nicht zu Rande kommt, sondern wie bei Aristoteles auch eine teleologische Wissenschaft sein muss. Dass sie ferner Einsichten Schellings und Hegels zum dynamischen geistigen Potenzial der Natur verarbeiten sollte. Nagel tendiert damit "zu einer 'panpsychistischen' Theorie – zu der Auffassung also, Materie verfüge über geistige Eigenschaften. Gleichzeitig sieht er die Schwierigkeit, etwas so ganzheitliches wie das Bewusstsein als Ergebnis des Zusammenspiels 'protomentaler Teilchen' zu erklären. Das religiöse Erklärungsmodell, das den Glauben an einen absichtsvollen Schöpfer voraussetzt, lehnt er ebenfalls ab [...] Es bleibt dann nur noch die Option, die Materie aufzuwerten, indem man ihr Eigenschaften beimisst, die im theistischen Modell auch Eigenschaften Gottes sind: Geist, Lebendigkeit und Zielgerichtetheit." (Rezension E. Löhr. In: Spektrum.de, 08.11.2013)
Für Kenner der Philosophiegeschichte liegt auf der Hand, dass hier über den Deutschen Idealismus der tendenziell pantheistische, näherhin idealistisch-monistische Zeitgeist der ersten Hälfte des 19. Jh. hereinspielt, den die Philosophie der Natur und speziell der Biologie Arthur Schopenhauers und Alexander von Humboldts spiegelt. In der Gretchenfrage zeigt sich der im deutschen Bildungsbürgertum wurzelnde Nagel mithin als Famulus Fausts bzw. Goethes. Nagel hält aber die Tabuisierung theistisch inspirierter Beiträge zur Philosophie der Biologie für falsch: Die Debatte zwischen Neodarwinismus und Intelligent Design "is clearly a scientific disagreement, not a disagreement between science and something else." (Nagel: Public education and intelligent design. In: Philosophy & Public Affairs 36 (2008), 187—205) Er betont, dass er Material und Argumentation seines Buches in großem Umfang Intelligent Design-Wissenschaftlern verdankt, deren beste Vertreter er ihren darwinistischen Kontrahenten überlegen betrachtet. Er nennt u.a. Michael Behe: Darwin's Blackbox. The Biochemical Challenge to Evolution, New York 2. Aufl. 2006 [dt.: Darwins Black Box. Biochemische Einwände gegen die Evolutionstheorie, Gräfelfing 2007] und hält dessen Analyse irreduzibel klomplexer Strukturen für lehrreich und überzeugend. Und 2009 wählte er für die New York Times als 'Book of the Year' Stephen C. Meyers Signature in the Cell: DNA and the Evidence for Intelligent Design, New York 2009:
"Stephen C. Meyer’s Signature in the Cell: DNA and the evidence for Intelligent Design (HarperCollins) is a detailed account of the problem of how life came into existence from lifeless matter – something that had to happen before the process of biological evolution could begin. The controversy over Intelligent Design has so far focused mainly on whether the evolution of life since its beginnings can be explained entirely by natural selection and other non-purposive causes. Meyer takes up the prior question of how the immensely complex and exquisitely functional chemical structure of DNA, which cannot be explained by natural selection because it makes natural selection possible, could have originated without an intentional cause. He examines the history and present state of research on non-purposive chemical explanations of the origin of life, and argues that the available evidence offers no prospect of a credible naturalistic alternative to the hypothesis of an intentional cause. Meyer is a Christian, but atheists, and theists who believe God never intervenes in the natural world, will be instructed by his careful presentation of this fiendishly difficult problem."
Zu Gegenkritiken nahm er ebd. wie folgt Stellung:
"I believe that neither theism, nor atheism, nor agnosticism is clearly ruled out either by empirical evidence or by a priori argument: all are rationally possible positions. If one is a theist, the question arises, what belief about God’s relation to the natural order is compatible with the scientific evidence? Deism, the view that God is responsible for the existence of the universe and its laws, but that He never intervenes, is one possible answer. Defenders of intelligent design claim that the appearance of life as a result only of chemical processes would require accidents so improbable that an interventionist answer is more likely. I am interested particularly in the negative part of this argument – scepticism about the reducibility of biology to chemistry. Though I do not share the motives of intelligent design’s defenders to identify problems with the reductive programme, the problems seem real. Atheists, too, face the question of what conception of the natural order is compatible with their beliefs." (Nagel and Stephen C. Meyer’s Signature in the Cell. In: The Times Literary Supplement, 22.08.2011).
Das Vorgefühl einer wissenschaftlichen Revolution, eines möglichen Paradigmenwechsels, wie besonders in der angloamerikanischen Rezeption Nagels spürbar, ist nicht aus der Luft gegriffen: "Nagel is trying to point the way to a scientific revolution [...] If Nagel is right, our descendants will look back on him as a prophet—a prophet whom naysayers ... were unable to recognize." (E. Sober: Remarkable Facts. Ending Science as We Know It. In: Boston Review, 07.11.2012) Vgl. dazu die weiterführende Diskussion im folgenden Untermenu: Lebenswissenschaften und im Menu: Atheismus-Debatte.