- 1. Zum realen Gegenstandsbezug der Logik
- 2. Ursprung der Materie der Begriffe
- 3. Die Form empirischer Begriffe
- 4. Die Begriffsanalyse: Deutlichkeit der Begriffe
- 5. Die logische Referenz empirischer Begriffe
- 6. Empirische Einheit begrifflicher mentaler Repräsentationen
- 7. Objektive Einheit begrifflicher Repräsentationen
- 8. Koinzidenz der formalen und realen Synthesistypen
- 9. Homöomorphie begrifflicher & anschaulicher Objektsynthesis
- 10. Transzendentale Grammatik
- 11. Erststufige und höherstufige Synthesistypen
- 12. Substanz-Akzidenz-Relation als basale Synthesis
- 13. Subjektbegriffe als Einsetzungen in Substanzvariablen
- 14. Logisches — formales — reales Wesen
- 15. Synthesis der bestimmenden Urteilskraft
- 16. Empirische, mathematische und transzendentale Schemata
- 17. Synthetisch-apriorische Grundsätze
Zum realen Gegenstandsbezug der Logik
Nach Klärung der formalen Wahrheit (siehe vorheriges Untermenu) ist nun die Bestimmung der Aufgaben und der Systemstellen der formalen Begriffslogik im realen Verstandesgebrauch das Thema. Wir haben bereits den mittelbaren Gegenstandsbezug – nach inhaltlichem Ursprung und nach Anwendung – der formalen Begriffslogik besprochen. Um diesen geht es hier zunächst. Dieses Untermenu bietet somit eine Übersicht über die objektsprachlichen und metasprachlichen Leistungen und Systemstellen der formalen Begriffslogik im realen Verstandesgebrauch. Die vielleicht gründlichste, auf jeden Fall aber einflussreichste Behandlung dieses Themas bietet die kantische Theorie der Erfahrung. Es erscheint daher sinnvoll und förderlich, die kantische Argumentation betreffs des empirischen realen Verstandesgebrauchs (= Kognitionspsychologie und Wahrnehmungsurteil) und betreffs des objektiven realen Verstandesgebrauchs (= Transzendentalphilosophie und Metaphysik überhaupt) überschaubar zu verdichten und wiederzugeben. Dies ermöglicht die differenzierte Bestimmung der objektsprachlichen und metasprachlichen Funktionen der formalen Logik im reinen [transzendentalen], mathematischen und empirischen Verstandesgebrauch, d.h. die indirekte Referentialität – nach inhaltlichem Ursprung und Anwendung – der formalen Logik. Wir werden auf dieser Basis fortlaufend auch die Diskussion der extensionalen Semantik, d.h. der realen Referenz oder des realen Gegenstandsbezuges in der modernen formalisierten Logik einbinden.
Ursprung der Materie der Begriffe
Hintergrund und Kontext
Woher stammt die Materie, woher kommen die Inhalte von Individuentermen, Prädikaten, Propositionen, metasprachlichen Begriffen (Abstraktoren)? Die Aufklärung und Sichtung dieser Thematik fällt bei Kant in den Zuständigkeitsbereich der Metaphysik: „Der Ursprung der Begriffe in Ansehung ihrer Materie, nach welcher ein Begriff entweder empirisch oder willkürlich oder intellectuell ist, wird in der Metaphysik erwogen.“ (AA IX, 94) Die Erörterung der Entstehung der begrifflichen Kognition rücksichtlich der begrifflichen – nicht aber der von derselben zu unterscheidenden anschaulichen Form! – Form hingegen fällt in die Zuständigkeit der Logik und wird in Folge behandelt:
„Da die allgemeine Logik von allem Inhalte des Erkenntnisses durch Begriffe, oder von aller Materie des Denkens abstrahiert: so kann sie den Begriff nur in Rücksicht seiner Form ... erwägen; nicht wie er durch ein Merkmal ein Object bestimmt, sondern nur, wie er auf mehrere Objecte kann bezogen werden. Die allgemeine Logik hat also nicht die Quelle der Begriffe zu untersuchen; nicht wie Begriffe als Vorstellungen entspringen, sondern lediglich, wie gegebene Vorstellungen im Denken zu Begriffen werden“ (AA IX, 94).
Die kantische Logik erläutert das näher: Die „Materie der Begriffe [...] ist der Gegenstand“ (AA IX, 91) [§ 2]. Die Logik unterscheidet nun 1 „Gegebene (conceptus dati) Begriffe“ [§ 4]. „Alle Begriffe sind der Materie nach entweder gegebene (conceptus dati) oder gemachte Begriffe (conceptus factitii). Die erstern sind entweder a priori oder a posteriori gegeben.“ (IX, 93) Es ist also weiter zu unterscheiden 1.1 „Erfahrungsbegriffe“: „empirisch oder aposteriori gegebene[n]“ (IX, 93) [§ 4] und 1.2 „Notionen“: „a priori gegebene“ Begriffe (IX, 93) [§ 4] Letztere sind 1.2.1 „reine Verstandesbegriffe“: „Ein reiner Begriff [purus/intellectualis] ist ein solcher, der nicht von der Erfahrung abgezogen ist, sondern auch dem Inhalte nach aus dem Verstande entspringt.“ (IX, 92) [§ 3] Oder 1.2.2 „Vernunftbegriffe oder Ideen“: regulative, nicht konstituitive Prinzipien (IX, 92) [§ 3]. Der zweite große Bereich sind schließlich 2 „Gemachte Begriffe“ (IX 93) [§ 4]: Dieses Machen ist entweder mathematische „Construction“ oder technische „Declaration“ [§§ 102 und 103]. [Bild oben: Christian August Crusius, 1715—1775, Universität Leipzig, Logiker und antirationalistischer Kritiker von Leibniz und Wolff mit Einfluss auf Kants Denkweg. Auch Vordenker orthodoxer, traditionsorientierter Bibelexegese und Hermeneutik]
Zunächst folgende kurze Erläuterung dieser Vorgaben. Gegebene Begriffe sind zum einen aposteriorisch gegebene Erfahrungsbegriffe. Das heißt: Empirische Begriffe sind der Materie nach sinnliche Vorstellungen, Anschauungen (bzw. Teilvorstellungen, Teilanschauungen) und der Form nach logisch, intellektuell. Davon unterscheidet Kant (potentiell) apriorisch gegebene konstitutive Verstandesbegriffe: Diese Begriffsklasse der reinen Verstandesbegriffe enthält die Kategorien und wird später umfassend thematisiert. Ferner unterscheidet Kant davon apriorisch gegebene regulative Vernunftbegriffe: Der systematische Ort dieser Begriffsklasse liegt ebenfalls sehr viel später und wird an gegebener Stelle behandelt.
Materie empirischer Begriffe
Die empirischen Begriffe sind dabei wie ersichtlich die der Anschauung nächststehende begriffliche Ebene. Die Kant-Jäsche-Logik unterscheidet bei diesen wie auch sonst einen zweifachen Gesichtspunkt der Erkenntnis: Materie und Form. Die Form ist entweder Anschauung oder Begriff. Die Materie, der intensionale und referentielle Sachgehalt der Erkenntnis ist – auf der untersten Wahrnehmungsebene und nur da – bei beiden Formen identisch:
„Sieht z.B. ein Wilder ein Haus aus der Ferne, dessen Gebrauch er nicht kennt: so hat er zwar eben dasselbe Object wie ein Anderer, der es bestimmt als eine für Menschen eingerichtete Wohnung kennt, in der Vorstellung vor sich. Aber der Form nach ist dieses Erkenntnis eines und desselben Objects in beiden verschieden. Bei dem Einen ist es bloße Anschauung, bei dem Andern Anschauung und Begriff zugleich.“ (Logik, AA IX, 33) – Materie jeder Erkenntnis, der Anschauung und des Begriffs, ist „der Gegenstand“ (IX, 33)
Damit hängt zusammen, dass gilt: Kognition von atomaren inhaltlichen Begriffen (semantic markers, conceptual primitives) erfolgt nicht durch diskursive Formanalyse (Komparation & Reflexion), sondern durch intuitives Gewahrwerden: „Vor aller Analysis unserer Vorstellungen müssen diese zuvor gegeben sein, und es können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen“ (A 77/B 103, vgl. Stuhlmann-Laeisz: Kants Logik, 1976, 73, 82, 84). Dasselbe gilt – so Kant – übrigens auch von den obersten Verstandesbegriffen: Die semantischen Ausgangspunkte, die begriffliche Basisebene einerseits und die abstrakteste kategoriale Ebene andererseits können nicht diskursiv gewonnen werden, sondern sie sind uns inhaltlich gegeben (aposteriorisch in der sinnlichen Anschauung oder apriorisch in der reinen Kognition), wobei die Verstandesreflexion diese Inhalte allerdings fixiert und explizit macht. Selbstverständlich kann ich mit den ursprünglich gegebenen, elementaren Begriffen – mittelbar – diskursive logische Operationen durchführen, sie können in Relationen der verknüpfenden (synthetischen) oder vergleichenden (analytischen) Beiordnung (Koordination) und Unterordnung (Subordination) gesetzt werden.
Kant zeigt dies an der aufsteigenden Abstraktion bzw. absteigenden Konkretion eines Begriffsbaums in Allgemeine Metaphysik Mrongovius (AA XXIX, 742), die unsere Interpretation bestätigt: Etwas – Körper – Stein – Kalkstein – Marmor – marmorne Säule. Die beiden Endpunkte der begrifflichen Abstraktion sind der abstrakteste Begriff des „Etwas“ und der konkreteste Begriff der – in vorliegendem Beispiel Kants – „marmornen Säule“. Der abstrakteste Begriff des „Etwas“ ist als der „oberste Grund der Erkenntnis“ a priori gegeben und Gegenstand der Allgemeinen Metaphysik oder Transzendentalphilosophie (siehe in Folge) Der konkreteste Begriff ist als „letzte Folge der Erkenntnis“ Teilvorstellung einer „unmittelbaren Erfahrung“ und a posteriori gegeben.
Vgl. hierzu Prauss: Erscheinung bei Kant. Ein Problem der KrV, Berlin 1971, 186—187, 194; Aquila: Kant’s Theory of Concepts. In: Kant-Studien 65 (1974), 1—19; Proust: Analyse et Definition chez Kant. In: Kant-Studien 66 (1975), 3—34; Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge (Mass.) 1987, 162—166; Hanna: Kant’s Theory of Empirical Judgment and Modern Semantics. In: History of Philosophy Quarterly 7 (1990), 335—351; Carpenter: Kant’s (Problematic) Account of Empirical Concepts. In: Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Memphis 1995, II, Milwaukee 1995, 227—234.
Vorkantische, antik-scholastische Diskussion
Auch die Antike, etwa Aristoteles, spricht von nichtdiskursiver Erfassung – modern gesprochen – von sensorischen Merkmalen (simple oder local features) und atomarer begrifflicher Prädikatoren (semantic units oder markers), im Sinne abstraktiver Analysis (noesis). Erst diese analytisch elementaren sensorischen und begrifflichen Einheiten (units, features) stellen das Material für die diskursive Synthesis der Apprehension zu Wahrnehmungsobjekten (Bild, phantasma, perceptual pattern) und die diskursive Synthesis der Apperzeption zu Objektbegriffen (griech: eidos, lat.: conceptus, engl.: semantic pattern) – und die sekundäre begriffsanalytische Distinktion (dihairesis und synthesis, divisio und compositio). Siehe in Folge sowie Oehler: Die Lehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken bei Plato und Aristoteles, 2. Aufl. Hamburg 1985; Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988. Diese primäre Analysis als unterscheidendes Erfassen geht sowohl der kantischen synthetischen Einheit der Apperzeption voran als auch der neuzeitlichen und kantischen – sekundären – Begriffsanalysis. Hierzu folgende Skizze der aristotelischen Theorie, in deren Wirkungsgeschichte auch obige kantische Konzeption steht.
Aristoteles bestimmt als das Letztgegebene den Inhalt des intuitiven Verstandes (im weiten Sinn). Dieser Inhalt ist doppelt. Es ist einmal in der Dimension der begrifflichen Kognition der Intellekt bzw. intuitive Verstand (im engen Sinn: nous). Und zum anderen gibt es ein Letztgegebenes in der Dimension der empirischen Erfahrung: die elementare Wahrnehmung: „Der intuitive Verstand ist auf das Letztgegebene in beiden Richtungen bezogen. Denn die obersten Begrifflichkeiten sowohl wie die letzten Einzelgegebenheiten – beide sind Gegenstand des intuitiven Verstandes und nicht des schlußfolgernden [= diskursiven] Denkens: der intuitive Verstand im Rahmen des wissenschaftlichen Beweisverfahrens erfaßt die unveränderlichen und obersten ‘Grenzmarken’, während der intuitive Verstand im Gebiete [der Wahrnehmung und] des Handelns sich entfaltend, das letztlich Einzelgebene, Veränderliche ... erfaßt [...] Man muß also eine Wahrnehmung des Einzelgegebenen haben und diese ‘Wahrnehmung’ ist intuitiver Verstand.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch VI, Kapitel 12. Übersetzung v. F. Dirlmeier, Stuttgart 1990) Das Angelegtsein der aristotelischen Theorie ihrerseits in der platonischen Dialektik zeigt Gadamer (a.a.O. 1990, 409—422).
Die Scholastik thematisierte diese kognitive Leistung unter dem Begriff simplex apprehensio (= einfache Erfassung) bzw. prima operatio intellectus (= erste Verstandesoperation, d. h. begriffsbildender Verstand, noesis, intellectus) – im Unterschied zur diskursiven, urteilenden ratio (dianoia). Ausgangspunkt (principium) der Kognition ist also die apprehensio (Erfassung) auf drei Prozessstufen: Wahrnehmung/Sinne (apprehensio sensitiva) – Vorstellung/Einbildungskraft (apprehensio imaginativa) – Begriff/Verstand (apprehensio intellectiva) (Vgl. Weidemann: Metaphysik und Sprache. Eine sprachphilosophische Untersuchung zu Thomas von Aquin und Aristoteles, Freiburg/München 1975, 116—117)
Vorkantische, neuzeitliche Diskussion
Diese Vorgaben der Tradition werden von Kant nicht nur aufgrund der kritischen Aneignung von deren impliziter Wirkungsgeschichte aktualisiert. Auch explizit liegen diese im wissenschaftshistorischen Kontext des 18. Jahrhunderts vor – sowohl in der kontinentalen analytischen Philosophie, etwa in den Nouveaux Essays von G. W. Leibniz (vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (übers. u. hrsg. v. E. Cassirer), 4. Aufl. Hamburg 1972, 327, 406, 412, 419—420, 425, 429, 519, 467), als auch im angelsächsischen Empirismus, etwa in John Lockes Essay concerning Human Unterstanding, Buch IV, Of Knowledge (IV/2, 1; IV/3, 2—4; IV/7, 4, 10—11; vgl. I/8, 10 und II/5; II/8, 9. Vgl. Brüning: Das Universalienproblem im Empirismus. In: Kant-Studien 52 (1960/61), 411—425). [Bild rechts: John Locke, 1632—1704]
Nachkantische und aktuelle Diskussion
Die Überlegungen und Einsichten der Tradition zur Materie der Begriffe sind nicht nur von wissenschaftshistorischem Interesse, sondern kommen auch mit zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Vorstellungen und kognitionswissenschaftlichen Modellen überein. Deren Ausgangsbasis bildet eine finite Menge analytisch erster, atomarer Grundterme, aus denen mittels Definitionsregeln abgeleitete Terme erzeugt werden und darüber hinaus Bildungsregeln für höherstufige Molekularausdrücke formuliert sind. Denn jedes diskursive Aussagensystem (Theorie) setzt ein begriffliches Konstitutionssystem von Ausdrücken voraus (vgl. Bochenski 1993, 51—55, 81—82). Dies ist das Kompositionalitätsprinzip oder Fregeprinzip.
Vgl. das Untermenu: Logisches Universum, sowie Davidson: Theories of Meaning and Learnable Languages. In: Bar Hillel, Y. (ed.): Proceedings of the 1964 Congress for Logic, Methodology and Philosophy of Science, 383–394; Richmond (ed.): Formal Philosophy. Selected Papers by Richard Montague, New Haven 1976; Bealer / Mönnich: Property Theories. In: Gabbay / Guenthner: Handbook of Philosophical Logic, Bd. IV.2: Topics in the Philosophy of Language, Dordrecht/Boston/London 1989, 133–251; Bochenski: Die zeitgenössischen Denkmethoden, 10. Aufl. Tübingen/Basel 1993; Fodor: The Compositionality Papers, Oxford 2001; Werning / Machery / Schurz (eds.): The Compositionality of Meaning and Content, Frankfurt a. M. 2005.
Das Kompositionalitätsprinzip muss zwar durch das ebenfalls auf Frege zurückgehende Kontextprinzip ergänzt werden, um der enormen Rolle der holistischen, begriffsgesteuerten Informationsverarbeitung von oben nach unten gerecht zu werden. Aber dies hebt nicht die Einsicht und partielle Bedeutung des ersteren Prinzips auf.
Siehe auch das Menu Biologische Psychologie mit der Übersicht zum kognitionswissenschaftlichen Design der menschlichen Informationsverarbeitung mit den (1) analytisch irreduziblen sensorischen (und piktorialen) Merkmalen (local features); (2) analytisch irreduziblen konzeptuellen Intensionen (semantic markers); (3) analytisch irreduziblen logischen Funktoren bzw. Syntaxformen (relational primitives). Weiterführend Werning: The Compositional Brain: A Unification of Conceptual and Neuronal Perspectives, Paderborn 2009.
Die Form empirischer Begriffe
Begriffsbildung
Anschauliche Bestimmungen werden zu begrifflichen Merkmalen durch die Form der Allgemeinheit: Die Kant-Jäsche-Logik benennt als einzige kognitive Leistung, die durch die Form den Begriffen der Basisebene zuwächst, die (a) „Allgemeinheit“ [§ 2]. Diese Form (= Allgemeinheit) ist (b) immer „gemacht“ [§ 4]: „Die Form eines Begriffs als einer diskursiven Vorstellung ist jederzeit gemacht.“ (AA IX, 93) Diese Form ist ferner (c) „logisch“, nicht genetisch, d.h. unabhängig von und (d) nichtzuständig für die Genese der Begriffsinhalte [§ 5]. Die Form der Allgemeinheit wird erzeugt durch die Verstandesakte der Komparation, Reflexion, Abstraktion. Zunächst die entscheidende Passage aus der Elementarlehre der Logik:
„DIE LOGISCHEN VERSTANDES-ACTUS, WODURCH BEGRIFFE DER FORM NACH ERZEUGT WERDEN“ [§ 6]: „1) die Comparation, d.i. die Vergleichung der Vorstellungen untereinander im Verhältnisse zur Einheit des Bewußtseins; 2) Die Reflexion, d.i. die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in Einem Bewußtsein begriffen sein können; und endlich 3) Die Abstraction oder die Absonderung alles Übrigen, worin die gegebenen Bedingungen sich unterscheiden.“ (AA IX, 94)
Beispiel: „Begriff vom Baume“ – „Ich sehe z.B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde.“ (1) Comparation: „Indem ich diese Gegenstände zuvörderst untereinander vergleiche, bemerke ich, daß sie von einander verschieden sind in Ansehung des Stammes, der Äste, der Blätter u. dgl. m.“ (2) Reflexion: „nun reflektiere ich aber hiernächst nur auf das, was sie unter sich gemein haben, den Stamm, die Äste, die Blätter selbst“ (3) Abstraktion: „und abstrahiere von der Größe, der Figur derselben u.s.w.“ (AA IX, 94—95)
ERÖRTERUNG DER ABSTRAKTION [§ 6]: „Man braucht in der Logik den Ausdruck Abstraction nicht immer richtig. Wir müssen nicht sagen: Etwas abstrahiren (abstrahere aliquid), sondern von Etwas abstrahiren (abstrahere ab aliquo). [...] Die Abstraction ist nur die negative Bedingung, unter welcher allgemeingültige Vorstellungen erzeugt werden können, die positive ist die Comparation und Reflexion. Denn durchs Abstrahiren wird kein Begriff, die Abstraction vollendet ihn nur und schließt ihn in seine bestimmten Grenzen ein.“ (AA IX, 95)
Letztere Erörterung zeigt, dass durch die logische Form nicht nur eine anschauliche Teilvorstellung isoliert wird (Etwas abstrahieren), sondern dass diese auch reflektiert wird und so die anschauliche Teilvorstellung auch inhaltlich zu einem begrifflichen Gehalt wird.
Vorbewusste [dunkle] und bewusste [klare] Begriffe
Die Unterscheidung dunkler vs. klarer Begriff bildet den Rahmen für die Erörterung des Begriffsbildungsverfahrens: Die kantische Begriffsbildungstheorie geht analog zum selben Sachverhalt im Bereich der Anschauung von der Existenz unbewusster, d.h. dunkler Begriffe aus (AA IX, 33). Die nächste kognitive Ebene sind bewusste, d.h. klare Begriffe (AA IX, 33). Und hier setzt das logische Lehrstück der Verstandesoperationen Komparation – Reflexion – Abstraktion an, denn durch diese werden Allgemeinbegriffe allgemein und somit als solche bewusst und damit klar. Hierzu sind ferner erstrangig die Ausführungen der Logik zu: Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Qualität nach [= Klarheit und Deutlichkeit der Erkenntnis] heranzuziehen:
„Das menschliche Erkennen ist von Seiten des Verstandes diskursiv, d.h. es geschieht durch Vorstellungen, die das, was mehreren Dingen gemein ist, zum Erkenntnißgrunde machen, mithin durch Merkmale als solche. Wir erkennen also Dinge nur durch Merkmale ... Ein Merkmal ist dasjenige an einem Dinge, was einen Theil der Erkenntniß desselben ausmacht, oder – welches dasselbe ist – eine Partialvorstellung, sofern sie als Erkenntnisgrund der ganzen Vorstellung betrachtet wird. Alle unsere Begriffe sind demnach Merkmale und alles Denken ist nichts anderes als ein Vorstellen durch Merkmale.“ [...] Alle Merkmale, als Erkenntnisgründe betrachtet, sind von zwiefachem Gebrauche, entweder einem innerlichen oder einem äußerlichen. Der innere Gebrauch besteht in der Ableitung, um durch Merkmale, als ihre Erkenntnißgründe, die Sache selbst zu erkennen. Der äußere Gebrauch besteht in der Vergleichung, sofern wir durch Merkmale ein Ding mit anderen nach den Regeln der Identität oder Diversität vergleichen können.“ (AA IX, 58)
Ferner enthält wesentliche Informationen zu klaren (= bewussten) Begriffen die Begriffstheorie der Logik, insbesondere zu Inhalt und Umfang der Begriffe [§ 7], d.h. zur Doppelfunktion der Begriffe: Partialvorstellung (betr. Inhalt) und Merkmal/Erkenntnisgrund (betr. Umfang): " Ein jeder Begriff, als Theilbegriff, ist in der Vorstellung der Dinge enthalten, als Erkenntnißgrund, d.i. als Merkmal sind diese Dinge unter ihm enthalten. In der erstern Rücksicht hat jeder Begriff einen Inhalt, in der andern einen Umfang. Inhalt und Umfang eines Begriffes stehen gegen einander in umgekehrtem Verhältnisse. Je mehr nämlich ein Begriff unter sich enthält, desto weniger enthält er in sich und umgekehrt.“ (AA IX, 95) – „So wie man von einem Grunde überhaupt sagt, daß er die Folge unter sich enthalte: so kann man auch von dem Begriffe sagen, daß er als Erkenntnißgrund alle diejenigen Dinge unter sich enthalte, von denen er abstrahirt worden, z. B. der Begriff Metall das Gold, Silber, Kupfer u.s.w.“ (AA IX, 96)
Forschungsbericht
An dieser Stelle ist eine Präzisierung insbesondere zur kantischen Terminologie der kognitiven Kompetenzen im Zusammenhang der Begriffslogik geboten, da sonst die sachliche Schlüssigkeit der Gedankenführung durch terminologische Verwirrungen unterlaufen zu werden droht. Dies fängt bereits dann an, wenn Kant oft allgemein und summarisch für diese Verstandesaktivitäten Komparation, Reflexion, Abstraktion auch nur den Terminus Reflexion verwendet, wobei Reflexion – noch einmal allgemeiner und summarischer – oft auch die kategorialen (und reflexionsbegrifflichen und reflexionsteleologischen) Verstandesaktivitäten als zusätzliche Begriffsinhalte umfasst und damit für jede Verstandeshandlung überhaupt steht. Im aktuellen Forschungshorizont diskutieren Broecken: Das Amphiboliekapitel der „Kritik der reinen Vernunft“, Köln 1970, 25—68, 117—133; Reuter: Kants Theorie der Reflexionsbegriffe, Würzburg 1989, 47–56, und Kugelstadt: Synthetische Reflexion, Berlin/New York 1998, 19, 24—35, 55—84, den begriffsgeschichtlichen und sachlichen Kontext der kantischen Terminologie und Theorie der Begriffsbildung im vorliegenden Punkt.
Der Übergang von der Anschauung zu Begriffen ist nicht nur eine der wichtigsten Schnittstellen einer Wissenschaftstheorie und Philosophie der Logik, wenn nicht die wichtigste, sondern auch einer der in der aktuellen Forschung kontroversesten bzw. aporetischsten Punkte in der Deutung von Kants Behandlung dieses Übergangs. Zu Letzterem hier nur soviel: Die Leistung der Begriffe ist die kognitive Analysis und Synthesis und analytische und synthetische Einheit des Begriffs (Einheit der Apperzeption). Die Materie realer Begriffe ist der sinnlich wahrnehmbare, d.h. durch die sinnliche Synthesis der Apprehension und sinnlich-empirische Synthesis der Einbildungskraft gebildete Gegenstand in der Erscheinung. Dies macht die kantische Behauptung der Gleichförmigkeit von sinnlicher Apprehension und Synthesis einerseits und begrifflicher Synthesis und Analysis der Apperzeption andererseits schlagartig durchsichtig und selbstverständlich. Zur Erinnerung noch einmal der markanteste Textbeleg hierzu, KrV B 162, Anmerkung: „Auf solche Weise wird bewiesen: daß die Synthesis der Apprehension, welche empirisch ist, der Synthesis der Apperzeption, welche intellektuell ... ist, notwendig gemäß sein müsse.“
Wichtige Beiträge dazu stammen von Schrader: Kant’s Theory of Concepts. In: Kant-Studien 49 (1957/58), 264—278; Vuillemin: Reflexionen über Kants Logik. In: Kant-Studien 52 (1961/62), 310—335; Mittelstraß: Spontaneität. Ein Beitrag mit Blick auf Kant. In: Kant-Studien 56 (1965), 474—484; Broecken a.a.O. 1970; Andersen: Ideal und Singularität, Berlin/New York 1983, 93—94; Reuter a.a.O. 1989; Carpenter: Kant’s (Problematic) Account of Empirical Concepts. In: Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Memphis 1995, II, Milwaukee 1995, 227—234; Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin / New York 2003, 203—213.
Die Materie realer Begriffe besteht aber nicht nur aus beziehungslosen Empfindungen, sondern ist auf der Wahrnehmungsebene bereits in komplexen Relationen organisiert, räumlich, zeitlich und affin-assoziativ synthetisiert. Die begriffliche Apperzeption macht nun nichts anderes als diese sinnliche Organisation, soweit sie kategoriensynchron ist (dies gilt an sich nur für eine Teilmenge der sinnlichen Empfindungsmannigfaltigkeiten) reflexiv nachzeichnen, objektivieren und nezessitieren: sowohl ihren synthetischen Verbindungen nach – zu empirischen oder kategorial-gegenständlichen Objekten und Prozessen –, als auch in der analytischen Vergleichung von prädikativen Gemeinsamkeiten und Unterschieden. [Bild rechts: Bernard Bolzano, Prag, 1781-1848, bedeutender Logiker, Weiterführer von Leibniz und Kritiker kantischer Begriffsanalytizität, mit großem Einfluss auf Husserls Logik und Kantverständnis]
Vgl. dazu Adickes: Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich als Schlüssel zu seiner Erkenntnistheorie, Tübingen 1929; Baum: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie, Königstein/Ts. 1986, 21—22, 62—63, 159—163; Krausser: Transzendentale und evolutionäre Erkenntnistheorie. In: Lütterfelds, W. (Hrsg.) Transzendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie?, Darmstadt 1987, 334–357; Bickmann: Differenz oder das Denken des Denkens, Hamburg 1996, 54—58; Westphal: Affinity, Idealism, and Naturalism: The Stability of Cinnabar and the Possibility of Experience. In: Kant-Studien 88 (1997), 139—189; Kugelstadt: Synthetische Reflexion, Berlin/New York 1998, 15—35, 41—45, 304—312; Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin / New York 2003, 166—170.
Analytische Einheit des Begriffs resp. der Apperzeption
Eine wichtige transzendentale Bedingung der Form der Allgemeinheit des Begriffs ist die Analytische Einheit der Apperzeption oder der begrifflichen mentalen Repräsentation. 'Analytische Einheit der Apperzeption' hat bei Kant verschiedene Bedeutungen. Hier ist Folgendes gemeint (KrV B 133, Anmerkung) : „Die analytische Einheit des Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an, z.B. wenn ich mir rot überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann; also nur vermöge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen. Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben, folglich muß sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenn gleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann.“
Wichtig ist hierbei, dass nach Kant die der analytischen Einheit vorausgehende synthetische Einheit des Bewusstseins jener analytischen Einheit nicht aktuell, sondern nur der Möglichkeit nach vorausgehen muss (Strawson: The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London 1966, 95, 98; Baum: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur „Kritik der reinen Vernunft“, Königstein/Ts. 1986, 98-102). Das Denken in Allgemeinbegriffen setzt aktuell erstmals mit der analytischen Einheit des Bewusstseins ein! Aber: Insofern die synthetische Einheit der Apperzeption einschlussweise die Voraussetzung aller anderen Denkoperationen ist, gilt: „Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.“ (B 133, Anm.) Die analytische Einheit der Apperzeption besteht im Fall der Allgemeinbegriffe also darin, dass sie (a) ein begriffliches Merkmal B herauslöst und für sich nimmt und zwar als Partialvorstellung aus einer Menge (einem Umfang) von Objekten, die anschaulich oder bereits anderweitig begrifflich erfasst sind. Die analytische Einheit der Apperzeption beinhaltet so (b) auch eine Relation zwischen dem Inhalt des Allgemeinbegriffs (als Partialvorstellung oder Merkmal) und seinem (anschaulich oder begrifflich erfassten) Umfang, für den er Erkenntnisgrund ist.
Die Begriffsanalyse: Deutlichkeit der Begriffe
Definition der Deutlichkeit
Undeutliche Begriffe sind definiert als: Bewusstsein „der ganzen Vorstellung ..., nicht aber des Mannigfaltigen, das in ihr enthalten ist“ (Logik, AA IX, 34). Kant: „Wollen wir ein Beispiel der Undeutlichkeit in Begriffen: so möge der Begriff der Schönheit dazu dienen. Ein jeder hat von der Schönheit einen klaren Begriff. Allein es kommen in diesem Begriffe verschiedene Merkmale vor, unter andern, daß das Schöne etwas sein müsse, das 1) in die Sinne fällt und das 2) allgemein gefällt. Können wir uns nun das Mannigfaltige dieser und anderer Merkmale des Schönen nicht auseinandersetzen, so ist unser Begriff davon doch immer noch undeutlich.“ ( Logik, AA IX, 34)
Deutliche Begriffe sind definiert als Klarheit [= Bewusstheit] der Teilbegriffe oder Partialvorstellungen des Gesamtbegriffs. Kant nennt dies: „intellectuelle ... Deutlichkeit in Begriffen oder Verstandesdeutlichkeit. Diese beruht auf der Zergliederung des Begriffs in Ansehung des Mannigfaltigen, das in ihm enthalten liegt.“ (Logik AA IX, 35): „So sind z.B. in dem Begriffe der Tugend als Merkmale enthalten 1) der Begriff der Freiheit, 2) der Begriff der Anhänglichkeit an Regeln (der Pflicht), 3) der Begriff von Überwältigung der Macht der Neigungen, wofern sie jenen Regeln widerstreiten. Lösen wir nun so den Begriff der Tugend in seine einzelnen Bestandtheile auf, so machen wir ihn eben durch diese Analyse uns deutlich. Durch diese Deutlichmachung selbst aber setzen wir zu einem Begriffe nichts hinzu; wir erklären ihn nur.“ (Logik AA IX, 35)
Extensive und intensive Deutlichkeit
Die extensive Deutlichkeit ist die Klarheit [= Bewusstheit] der unmittelbaren koordinierten Teilbegriffe / Partialvorstellungen. Die Logik nennt Merkmale koordiniert, „sofern ein jedes derselben als ein unmittelbares Merkmal der Sache vorgestellt wird“. – „Die Verbindung coordinierter Merkmale zum Ganzen des Begriffs heißt ein Aggregat, [...] macht die Totalität des Begriffs aus ... in Ansehung synthetischer empirischer Begriffe nie vollendet“ – „Mit der Synthesis jedes neuen Begriffs in der Aggregation coordinierter Merkmale wächst die extensive oder ausgebreitete Deutlichkeit“ (AA IX, 59).
Die intensive Deutlichkeit ist die Klarheit [= Bewusstheit] der mittelbaren subordinierten Teilbegriffe / Merkmale. Die Logik nennt Merkmale subordiniert, „sofern ein Merkmal nur vermittelst des anderen an dem Dinge vorgestellt wird“. – „Die Verbindung subordinierter Merkmale [heißt] eine Reihe“. – „Mit der weiteren Analysis der Begriffe in der Reihe subordinierter Merkmale [wächst] die intensive oder tiefe Deutlichkeit.“ (AA IX, 59)
„Die Reihe subordinierter Merkmale stößt a parte ante, oder auf Seiten der Gründe, an unauflösliche Begriffe, die sich ihrer Einfachheit wegen nicht weiter zergliedern lassen“ (AA IX, 59). „Die Reihe subordinierter Merkmale“ ist „a parte post, oder in Ansehung der Folgen ... unendlich, weil wir zwar ein höchstes genus, aber keine unterste species haben.“ (AA IX, 59)
Wichtig für die intensive Deutlichkeit sind ferner einschlägige Passagen der Logik zur Begriffstheorie [§§ 9—13]: „Der höhere [auch: „weitere“] Begriff heißt in Rücksicht seines niederen Gattung (genus), der niedere [auch: „engere“] Begriff in Ansehung seines höheren Art (species). So wie höhere und niedere, so sind ... auch Gattungs- und Artbegriffe nicht ihrer Natur nach, sondern nur in Ansehung ihres Verhältnisses zu einander ... in der logischen Subordination unterschieden.“ (AA IX, 97). Wichtig auch die Subordinationsregeln [§ 14]: „Allgemeine Regeln in Absicht auf die Subordination der Begriffe [...]: 1) Was den höhern Begriffen zukommt oder widerspricht, das kommt auch zu oder widerspricht allen niedrigern Begriffen, die unter jenen höhern enthalten sind; und 2) umgekehrt: Was allen niedrigern Begriffen zukommt oder widerspricht, das kommt auch zu oder widerspricht ihrem höhern Begriffe.“ (AA IX, 98)
Wichtig sind ferner die methodischen Bedingungen der intensiven Deutlichkeit: Logische Abstraktion und logische Determination in der Begriffslogik [§ 15]: „Durch fortgesetzte logische Abstraction entstehen immer höhere, so wie dagegen durch fortgesetzte logische Determination immer niedrigere Begriffe. Die größte mögliche Abstraction giebt den höchsten oder abstractesten Begriff – den, von dem sich keine Bestimmng weiter wegdenken läßt. Die höchste vollendete Determination würde einen durchgängig bestimmten Begriff ... geben [...] Da nur einzelne Dinge oder Individuen durchgängig bestimmt sind: so kann es auch nur durchgängig bestimmte Erkenntnisse als Anschauungen, nicht aber als Begriffe, geben“ (AA IX, 99).
Logische Einteilung vs. Begriffsdistinktion
Die analytische Deutlichkeit als Teilung des Begriffs (= Begriffsdistinktion = Begriffsanalyse) ist nicht identisch und zu verwechseln mit der logischen Einteilung des Begriffs (vgl. § 110 der Logik). Zur Identität der logischen Einteilung Folgendes: „Ein jeder Begriff enthält ein Mannigfaltiges unter sich [...] Die Bestimmung eines Begriffes in Ansehung alles Möglichen, was unter ihm enthalten ist, sofern es einander entgegengesetzt, d.i. von einander unterschieden ist, heißt die logische Eintheilung des Begriffs.“ (AA IX, 146) - Die logische Einteilung bezieht sich also auf den Umfang, d.h. die (intensionale) Referenzmenge eines Begriffs und ist zu unterscheiden von der (intensionalen) logischen Distinktion des Inhalts des Begriffs (= der koordinierten und subordinierten Teilbegriffe).
Kant-Jäsche macht hierzu die „Anmerkung 1. Einen Begriff theilen und ihn eintheilen ist also sehr verschieden. Bei der Theilung des Begriffs sehe ich, was in ihm enthalten ist (durch Analyse), bei der Eintheilung betrachte ich, was unter ihm enthalten ist [...] So enthalten ... die Glieder der Eintheilung mehr in sich als der eingetheilte Begriff. 2. Wir gehen von niedrigern zu höhern Begriffen hinauf und nachher können wir wieder von diesen zu niedrigern herabgehen – durch Eintheilung.“ (AA IX, 146)
Noch einmal: Analytische Einheit der Apperzeption
Auch der logischen Distinktion der Allgemeinbegriffe in Begriffsanalyse und analytischen Urteilen entspricht eine analytische Einheit der Apperzeption oder begrifflichen mentalen Repräsentation. Das Deutlichmachen von allgemein, d.h. zu formalen Allgemeinbegriffen gemachten, semantischen Merkmalen durch Unterscheidung und Identifizierung ihrer koordinierten und subordinierten Teilbegriffe fällt ebenfalls unter die analytische Einheit der Apperzeption: Der „Verstand“ bringt „in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zustande“ (KrV B 105). Die analytische Einheit der Apperzeption besteht im Fall der logischen Distinktion der Allgemeinbegriffe darin, dass das Merkmal B in obigem Beispiel bzw. dessen intensionaler Inhalt eine Menge von begriffslogischen, koordinierten oder subordinierten Implikaten als Prädikate C, D, E, ... auswirft, wobei natürlich das Verhältnis zwischen B und C, D, E, ... analytisch ist.
Die logische Referenz empirischer Begriffe
Umfang der Begriffe
Basis und Medium der verstandesmäßigen Identifizierung und Diskriminierung von realen Gegenständen der Erfahrung (Erscheinungen) ist die logische Begriffstheorie. Reale Verstandeserkenntnis ist nur durch Begriffe möglich. Der Begriff als Erkenntnisgrund hat einen Umfang – Der Umfang der Begriffe ist durch die Menge der potentiellen realen Referenzobjekte definiert. Hier ist die zugrundeliegende kantische Konzeption die der Doppelfunktion der Begriffe: Partialvorstellung (Inhalt) und Merkmal/ Erkenntnisgrund (Umfang) [Logik / § 7]
Analytische Merkmale
Die intensionale logische Distinktion des Inhalts des Begriffs (= der koordinierten und subordinierten Teilbegriffe) bezieht sich über den Umfang der Begriffe mittelbar auf deren realen Referenzbereich: analytisches Merkmal des realen Verstandesgebrauchs. Analytische Merkmale sind koordinierte oder subordinierte Teilbegriffe von Begriffen (= Merkmale = Erkenntnisgründe) von Erscheinungen (und/oder Erfahrungsobjekten). Dies ist die „Analysis eines gegebenen Begriffs“, „womit sich die Logik allein beschäftigen kann“, und dies heißt: „einen Begriff deutlich machen“. Vgl. Logik AA IX, 63—64.
Analytische Urteile
Analytische Urteile sind eine urteilslogische Explikation von begrifflichen Implikaten eines begrifflichen Merkmals von Erscheinungen (und/oder Erfahrungsobjekten). Das begriffliche Merkmal ist dabei der logische Subjektbegriff, und die begrifflichen Implikate dieses Merkmals die logischen Prädikate. Was hiervon dann realer Subjektbegriff sein wird, das entscheidet erst die transzendentale Logik. Hier ist wiederum erstrangig einschlägig die Logik zu den analytischen Sätzen [§ 36] „deren Gewißheit auf Identität der Begriffe (des Prädicats mit der Notion des Subjects) beruht.“ (AA IX, 111): „Alles x, welchem der Begriff des Körpers (a + b) zukommt, dem kommt auch die Ausdehnung (b) zu, ist ein Exempel eines analytischen Satzes.“ (AA, IX, 111)
Eine Bestätigung des bereits oben Gesagten ist die Aussage: Analytische Sätze „vermehren das Erkenntniß ... bloß formaliter ... enthalten ... nur logische Prädikate.“ (AA IX, 111) Dabei ist zu unterscheiden zwischen „ausdrückliche[r] (explicita)“ „Identität der Begriffe“: „virtualiter leer oder folgeleer“ oder „tautologisch“ (AA IX, 111) [§ 37]; und „nichtausdrückliche[r] (implicita)“ „Identität der Begriffe“ [§ 37]. Diese Sätze sind „nicht folge- oder fruchtleer, denn sie machen das Prädicat, welches im Begriffe des Subjects unentwickelt (implicite) lag, durch Entwickelung (explicatio) klar.“ (AA IX, 111) Wie wichtig und referentiell verlässlich diese analytischen Sätze für die menschliche Kognition sind, verdeutlicht eine schon andernorts zitierte Passage in KrV B 9—10: „Ein großer Teil, und vielleicht der größte, von dem Geschäfte unserer Vernunft, besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unsern Begriffen (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden, wiewohl sie der Materie, oder dem Inhalte nach die Begriffe, die wir haben, nicht erweitern, sondern nur aus einandersetzen.“ Und: „dieses Verfahren“ gibt „eine wirkliche Erkenntnis a priori, die einen sichern und nützlichen Fortgang hat“.
Auch hier in Folge (B 11—12) wieder das Standardbeispiel: „Z.B. wenn ich sage: alle Körper sind ausgedehnt, so ist dies ein analytisch Urteil“. Und auch in diesem Standardbeispiel die Betonung der referentiellen Gegründetheit, Gültigkeit und Fruchtbarkeit analytischer Sätze: Empirische Begriffe als Merkmale und Erkenntnisgründe von Erscheinungen (und Erfahrungsobjekten) sind: (a) aus der Erfahrung abgezogen: „indem ich auf die Erfahrung zurücksehe, von welcher ich diesen Begriff des Körpers abgezogen hatte“ (B 12); (b) bezeichnen einen Gegenstand der Erfahrung: Der „Begriff eines Körpers ... bezeichnet ... einen Gegenstand der Erfahrung durch einen Teil derselben“ (B 12). Analytische Urteile sind somit: (c) der kognitive Kern der Erfahrung: „Ich kann den Begriff des Körpers ... analytisch durch die Merkmale der Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc. die alle in diesem Begriffe gedacht werden, erkennen“ (B 12); (d) um den sich die synthetischen Urteile gruppieren:
„Nun erweitere ich aber meine Erkenntnis, und, indem ich auf die Erfahrung zurücksehe, von welcher ich diesen Begriff des Körpers abgezogen hatte, so finde ich mit obigen Merkmalen [= analytische „Merkmale der Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc.“] auch die Schwere jederzeit verknüpft, und füge also diese als Prädikat zu jenem Begriffe synthetisch hinzu.“ (B 12).
Die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile geschieht relativ zur Definition des Subjektbegriffs (bzw. relativ zu einer den Subjektbegriff enthaltenden Theorie als kulturell oder wissenschaftlich fixiertem Begriffssystem). Die Synthesis kann im Subjektbegriff oder im Urteil vorgenommen werden. Die Merkmale „euklidisch“ und „Ebene“ beispielsweise können als Bestandteile der Definition in den Begriff des Dreiecks eingehen und sind dann analytische Merkmale. Oder sie treten als Weiterbestimmungen zur Definition des Begriffs des Dreiecks hinzu und sind synthetisch. Im ersten Fall erfolgt die Synthesis im Subjektbegriff, im zweiten Fall im Urteil. Schulthess (Relation und Funktion, Berlin/New York 1981, 81) und Loebbert (s.u. 1989, 115) demonstrieren an Reflexion 3928 den methodischen Zweifel bzw. die vorsichtige Umsicht Kants selbst hinsichtlich der für ihn zentralen Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile:
„Wenn man den ganzen Begriff hätte, wovon die notionen des Subjektes und Prädicates compartes seyn, so würden die synthetischen Urteile sich in analytische verwandeln. Es frägt sich, wie weit hier willkürliches sei.“
Loebbert verweist auf diese kantische Reflexion als Beleg, dass die Analytisch-synthetisch-Unterscheidung auch nach Kant willkürlich je nach Subjektinhalt sein könne (Loebbert 1989, 124). Methodisch und praktisch ist die Unterscheidung – diesseits der ultimativen Grundlagenfragen – wichtig, berechtigt und begründet: dies ist bereits ein Ergebnis des Untermenus 'Logische Grammatik'.
Wichtige Forschungsbeiträge hierzu sind ansonsten Sternberg: Über die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen. Ein Beitrag zur Klärung des Problems der Urteilsmodalität. In: Kant-Studien 31 (1926), 171—200; Beck: Can Kant’s synthetic Judgments Be made analytic? In: Kant-Studien 47 (1955/56), 168—181; Proust: Analyse et Definition chez Kant. In: Kant-Studien 66 (1975), 3—34, und dies.: Logic and the Analytic Proposition from Kant to Carnap, Minneapolis 1989; Loebbert: Wie ist die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile möglich? Eine Untersuchung zur Kantischen Theorie des Urteils, Rheinfelden 1989; Wendel: Synthesis als Bedingung möglicher Analysis. Über die Abhängigkeit der Unterscheidung von Erkenntniserweiterung und Begriffserläuterung vom Erkenntnisstand. In: Logos 5 (1998), 52—88; Robinson, H.: Kant on Apriority, Syntheticity, and Judgments. In: Wiegand, O. u.a. (Hrsg.) Phenomenology on Kant, German Idealism, Hermeneutics and Logic. Philosophical Essays in Honor of Thomas M. Seebohm, Dordrecht 2000, 225—247; Rott: Vom Fließen theoretischer Begriffe: Begriffliches Wissen und theoretischer Wandel. In: Kant-Studien 95 (2004), 29—52; Proops: Kant’s Conception of Analytic Judgment. In: Philosophy and Phenomenological Research 70 (2006), 588—612.
Notwendigkeit und Apriorität analytischer Urteile
Analytische Urteile sind (a) keine synthetischen Erfahrungsurteile, (b) nicht zufällig, sondern notwendige Urteile, (c) a priori feststehende Sätze: „Daß ein Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der a priori feststeht und kein Erfahrungsurteil.“ Vgl. besonders Prolegomena, § 2 b, AA IV 267: „Alle analytischen Urteile beruhen gänzlich auf dem Satze des Widerspruchs und sind ihrer Natur nach Erkenntnisse a priori, die Begriffe, die ihnen zur Materie dienen, mögen empirisch sein oder nicht. Denn weil das Prädikat eines bejahenden analytischen Urteils schon vorher im Begriffe des Subjekts gedacht wird, so kann es von ihm ohne Widerspruch nicht verneint werden; ebenso wird sein Gegenteil in einem analytischen, aber verneinenden Urteile notwendig von dem Subjekt verneint, und zwar auch zufoge dem Satze des Widerspruchs. So ist es mit den Sätzen: Jeder Körper ist ausgedehnt, und: Kein Körper ist unausgedehnt (einfach), beschaffen. Ebendarum sind auch alle analytischen Sätze Urteile a priori, wenngleich ihre Begriffe empirisch sind, z.B. Gold ist ein gelbes Metall; denn um dieses zu wissen, brauche ich keiner weiteren Erfahrung, außer meinem Begriffe vom Golde, denn dieses machte eben meinen Begriff aus, und ich durfte nichts tun, als diesen zu zergliedern, ohne mich außer demselben wonach anders umzusehen.“ Diesen Sachverhalt hat in der aktuellen Diskussion Scheffer (Kants Kriterium der Wahrheit: Anschauungsformen und Kategorien a priori in der „Kritik der reinen Vernunft, Berlin/New York 1993) neuerdings gegen Missverständnisse betont: Urteilsanalytizität ist mit empirischem Begriffsursprung vereinbar. Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit einschlägigen Kritiken von Patzig und Strawson betont Scheffer zurecht: „Daß ein analytisch wahres Urteil einen aufgrund von Erfahrungen gebildeten Subjektsbegriff hat, tut seinem analytischen Status und d.h. seiner unter Voraussetzung dieses Begriffs notwendigen logischen Wahrheit keinen Abbruch. (vgl. Prol. § 2, 267)“ (1993, 55; ebenso Cramer: Die Einleitung (A1/B1—A16/B30). In: Mohr, G./Willaschek, M. (Hrsg.) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 73.
Letztgenannte Frage wurde, wie bekannt, auch noch in einer ganz besonderen Hinsicht aktuell, nämlich durch die Infragestellung eines notwendigen Zusammenhanges zwischen Apriorität und Notwendigkeit seitens Saul Kripke. Ähnlich Hilary Putnam (Die Bedeutung von Bedeutung, Frankfurt a. M., 2. Aufl. 2004). Kripkes externalistische Semantik fordert die Einführung einer metaphysischen aposteriorischen Notwendigkeit. Sie bezieht sich einmal auf Terme für Individuen (Namen): vgl. Kripke: Identity and Necessity. In: Schwartz , S. P. (ed.) Naming, Necessity and Natural Kinds, Ithaca and London 1977, 66–101. Diese Argumentation ist sehr überzeugend und hat weite Zustimmung gefunden; nicht dagegen die weitergehende These Kripkes einer ähnlichen Notwendigkeit im Fall natürlicher Stoffe (natural kinds) und natürlicher Artbegriffe (sortal expressions), welche nach Kripke eine Notwendigkeit ohne deskriptive Bedeutung sein soll: die Termini werden in Wahrnehmungssituationen exemplarisch zugeordnet und starr fixiert (analog zu rigiden Designatoren für Individuen). Die Präzisierung der metaphysischen Notwendigkeit durch Kripke verwendet jedoch deskriptive Bedeutungen, sodass diese letztlich doch eine semantische analytische Notwendigkeit im beschriebenen Sinn ist (vgl. Churchland: A Neurocomputational Perspective. The Nature of Mind and the Structure of Science, Cambridge (Mass.) / London (Engl.). 1992, 281—295, und Tugendhat/Wolf: Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1993, 257—258). Letzteres gilt im Übrigen auch für die kripkesche Theorie der Individuenterme, die faktisch letztlich auf wesentliche deskriptive Attribute (essential properties) zurückgreift: vgl. Kripke a.a.O. 1977, 94, 97, 99, und Wendel: Apriorische Einsicht und metaphysische Notwendigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Kripkes Kant-Kritik. In: Kant-Studien 82 (1991), 63—80.
Mittelbare analytische Urteile
Mittelbare analytische Sätze sind kategorische Vernunftschlüsse. Die kantische Theorie des kategorischen Vernunftschlusses ist die syllogistische Ausweitung der analytischen Sätze. Einschlägig ist hierzu insbesondere, wie sich zeigen läßt, das Prinzip der kategorischen Vernunftschlüsse der Logik [§ 63]. Dazu ist zu beachten, dass Kant in der Logik (AA IX, 121) den Obersatz als „Regel“ fasst, und diese versteht als „eine Assertion unter einer allgemeinen Bedingung“. Prädikatenlogisch ist dies als generalisiertes Konditional übersetzbar: Vx (Ax ⊃ Bx). Die allgemeingültige analytische Implikation zwischen den Merkmalen oder Prädikaten A und B lässt sich so als prädikatenlogische formale Implikation fassen. Den Untersatz fasst Kant als „Subsumption“, und diese versteht er als „die Erkenntnis, daß die Bedingung (irgendwo) stattfinde“ (prädikatenlogisch: Aa). Dies bedeutet: Das Merkmal A hat einen nicht leeren Begriffsumfang, oder: das Merkmal A ist Erkenntnisgrund für eine referentielle Menge von Objekten. Der „Schluß“ ist dann „Die Verbindung desjenigen, was unter der Bedingung subsumiert worden [= a] mit der Assertion der Regel“ (prädikatenlogisch: Aa ⊃ Ba). Das heißt: der begriffsanalytische Zusammenhang zwischen A und B gilt für alle Objekte des Referenzbereiches (= Umfang) des Merkmals A. Mit diesem Hintergrund nun das Prinzip der kategorischen Vernunftschlüsse:
„Was dem Merkmale einer Sache zukommt, das kommt auch der Sache selbst zu; und was dem Merkmale einer Sache widerspricht, das widerspricht auch der Sache selbst (nota notae est nota rei ipsius; repugnans notae, repugnat rei ipsi).
Anmerkung. „Aus dem so eben aufgestellten Princip läßt sich das sogenannte Dictum de omni et nullo leicht deduciren [...]
Die Gattungs- und Art-Begriffe sind nämlich allgemeine Merkmale aller der Dinge, die unter diesen Begriffen stehen. Es gilt demnach hier die Regel: Was der Gattung oder Art zukommt oder widerspricht, das kommt auch zu oder widerspricht allen den Objecten, die unter jener Gattung oder Art enthalten sind. Und diese Regel heißt eben das Dictum de omni et nullo.“ (AA IX, 123)
Empirische Einheit begrifflicher mentaler Repräsentationen
Rückblick und Kontext
Im logischen Horizont des transzendentalen Subjektes Ich (ursprüngliche Einheit der Apperzeption), was noch kein inhaltliches, reales Erkennen beinhaltet, sondern nur das bewusste kognitive Universum des diskursiven Denkens (attention + memory + logical functions) haben wir bisher nur den analytischen Verstandesgebrauch in Aktion treten sehen und erörtert. Inhaltliche Voraussetzung für den analytischen Verstandesgebrauch war neben den sensorischen Daten oder Empfindungen (sensation) lediglich die nicht verstandes- oder begriffsgeleitete Wahrnehmungsorganisation der Sinne (perception) und der Einbildungskraft (imagery / mental model). Durch diesen analytischen Verstandesgebrauch stehen uns nun kognitive Allgemeinbegriffe zur Verfügung (concept formation), um die Gegenstände und Ereignisse der Wahrnehmungswirklichkeit mittels Begriffen (semantic markers) zu markieren und mittels analytischen Urteilen (= koordinierte und subordinierte Relationen zwischen Teilvorstellungen der Begriffe) die logische Binnenstruktur der Begriffe zu analysieren (hierarchical semantic network).
Was jetzt noch aussteht, ist die Theorie der realen Binnen- und Außenrelationen der durch die Begriffe markierten Gegenstände und Ereignisse der nichtbegrifflichen Wahrnehmungswirklichkeit (object identification + spatio-temporal mapping). Die Frage ist nun: Wie lassen sich begrifflich bzw. verstandesmäßig die realen Relationen der begrifflichen Merkmale in und zwischen den Gegenständen und Prozessen der durch Wahrnehmung vermittelten Wirklichkeit beschreiben? Die Theorie der realen Binnen- und Außenrelationen ist die Theorie des synthetischen realen Verstandesgebrauchs. Sie ist die Theorie der synthetischen Urteile als realer Relationen und somit eine formale Ontologie.
Wissenschaftstheoretische Verortung
Es ist bekannt, dass die Dimension realer Relationen in der traditionellen Logik nicht aufgearbeitet erscheint, weshalb sich diese nicht in der Lage zeigte, mathematisches Denken vollständig zu analysieren, und – damit zusammenhängend – die mathematischen Naturwissenschaften formal zu bewältigen. Vgl. Martin: Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 4. Aufl. Berlin 1969; Seebohm: Philosophie der Logik, Freiburg/München 1984, 29—34 und Elementare formalisierte Logik, Freiburg/München 1991, 15—22. Aus einem doppelten Grund wird die kognitive Bewältigung realer Relationen in der Neuzeit unaufschiebbar. Einmal, von der objektiven Seite her, wegen der Entwicklung der mathematischen physikalischen Naturwissenschaft mit realen Relationen als Gegenstandsbereich, wofür eine angemessene und leistungsfähige Mathematische Logik und Mengenlehre samt ontologischer Interpretation (Formale Ontologie) bereitzustellen war. Zum anderen, von der subjektiven Seite her, werden reale Relationen durch die seit Locke entwickelte logische, psychologische und physiologische Kognitionsanalyse thematisch. Sie arbeitete die Konstitution und Topologie der Objekte und Sequenzen der realen Erfahrung zunehmend als synthetische (Re-)Konstruktion, Organisation und Interpretation des Erkenntnissubjektes heraus. Auch hierfür war eine differenzierte Theorie der sachlogischen, biogenetischen und ontogenetischen Topologien, Organisationsprinzipien und Denkformen bereitzustellen: Transzendentale Logik.
Kants kritisches Programm stellt sich dieser doppelten Herausforderung mit einer vereinheitlichten Theorie objektiver (geometrisch-physikalischer) und subjektiver (perzeptiv-kognitiver) realer Relationen. Diese vereinheitlichte Theorie besteht in der bikonditionalen Korrelation von kognitiven Topologien (= Anschauungsformen) und kognitiven Operatoren (= Urteilsformen oder Denkformen) mit der formalen Ontologie der Erfahrungswelt (= metaphysische und transzendentale Deduktion). Leibniz hatte bereits als Forschungsdesiderat die Analyse und Systematisierung der logischen Funktionen und ihrer Korrelation zu den kategorialen Gegenstandsformen (Urteilstafel und Kategorientafel) als Allgemeine transzendentale Grammatik formuliert. Siehe Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie I: Zu Logik und Methodenlehre (hrsg. v. E. Cassirer), 2. Aufl. Hamburg 1966, und ders. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (übers. u. hrsg. v. E. Cassirer), 4. Aufl. Hamburg 1972, 334, 337—338, 374—377, 394; sowie Schulthess: Relation und Funktion, Berlin/New York 1981; Huber: Leibniz (hrsg. v. I. Köck), München/Zürich 1989; Benoist: L’impensé de la représentation: De Leibniz à Kant. In: Kant-Studien 89 (1998), 300—317. [Bild oben: G. W. Leibniz, 1646—1714, Logiker von Weltrang: Denkmal in Leipzig]
Diese Konzeption, insbesondere die Fundierung der vereinheitlichten Theorie realer Relationen in der formalen Urteilstheorie und formalen Zeitordnung (Schematisierung) ist – grundsätzlich – logisch, linguistisch und realwissenschaftlich berechtigter und gültiger denn je: Es besteht kognitionswissenschaftlich ein prinzipieller Zusammenhang zwischen der Zeitsynthesis (kognitive dynamische Topologie und Chronologie), dem seriellen kognitiven Verarbeitungsmodus, dem linguistischen Repräsentationsformat und der logisch-grammatischen Syntax. Für Einzelheiten vgl. das Menu Biologische Psychologie. Weiterführend Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie, 3. Aufl. Stuttgart 1983, 138—141; Kitcher: Kant’s Transcendental Psychology, New York/Oxford 1990, 68, 71, 81, 84—86, 161—162; Tugendhat/Wolf: Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1997, 85, 97f; Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, 2003, Kap. 3.2.2, 24.1, 31 und 32.
Wahrnehmungsurteil
Kant geht bei der logischen Bewältigung realer Relationen nun in zwei Schritten vor: zuerst erstellt er eine deskriptive Inventur der faktisch vorhandenen realen Relationen zwischen den begrifflich identifizierten Merkmalen in der subjektiven empirischen Wahrnehmung, ohne diese noch auf objektive Gegenstände und Prozesse zu beziehen. Dies sind die Wahrnehmungsurteile. Diese bieten noch keinen endgültigen Unterscheidungsmaßstab von objektiver Realität und subjektivem Traum und Wahn. Diese Wahrnehmungsurteile werden in einem zweiten Schritt zu objektiven Erfahrungsurteilen durch ihre Verträglichkeit mit den Wahrheitskriterien der formalen Zeitordnung. Mit anderen Worten: durch ihre Eignung zur Positionierung und geordneten Sukzession in der formalen Zeitordnung, d.h. in der dynamischen Topologie eines identischen Subjektes oder Beobachters als Mitglied eines intersubjektiven Sprachspiels. Dies ist Gegenstand der transzendentalen Logik.
Vorläufig geht es nun um die synthetischen Funktionen des realen Verstandesgebrauchs in subjektiver Geltung. Der Übergang von subjektiven Wahrnehmungsurteilen zu objektiven Erfahrungsurteilen fügt empirisch, inhaltlich (semantisch und relational) nichts hinzu, sondern ist nur eine metaempirische Kategorisierung + Objektivierung + Nezessitierung einer dazu geeigneten Teilmenge von inhaltlich vorausgesetzten realen begrifflichen Relationen oder Synthesen – durch reflexive Bewusstmachung von deren Position und geordneten Sukzession in der formalen Zeitordnung, d.h. in der intersubjektiv verifizierten dynamischen Topologie eines identischen Subjektes.
Die Theorie des Wahrnehmungsurteils ist eine weitgehende Fehlanzeige in der herkömmlichen Kantinterpretation. Bis zu Prauss: Erscheinung bei Kant. Ein Problem der KrV, Berlin 1971, wurde sie meist verlegen eingeklammert, da angeblich nicht vereinbar mit der kantischen transzendentalen Gesamttheorie, wie man sie verstand. Eine Ausnahme war Simmel: Über den Unterschied der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile. Ein Deutungsversuch. In: Kant-Studien 1 (1896), 416—425. Dass dies so nicht geht, machen die kantischen Texte zur Kritik der theoretischen Vernunft deutlich. Das Thema wird in der Kritik der reinen Vernunft A unter dem Namen 'Empirische Rekognition im Begriffe' verhandelt (KrV A 97, 103, 115, 119), in der KrV B unter dem Namen 'Empirische Deduktion' (§ 13) und 'Empirische Einheit der Apperzeption' (§§ 18—19), in den Prolegomena unter dem Titel 'Wahrnehmungsurteil' (§§ 18—22), ebenso in der Kant-Jäsche-Logik (§ 40). Hier eine Skizze des Argumentes der Prolegomena, das besonders ausführlich ist:
Wichtige neuere Arbeiten zur Sache sind Stuhlmann-Laeisz: Kants Thesen über sein Kategoriensystem und ihre Beweise. In: Kant-Studien 78 (1987), 5—21; Loebbert: Wie ist die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile möglich? Eine Untersuchung zur Kantischen Theorie des Urteils, Rheinfelden 1989; Freudiger: Zum Problem der Wahrnehmungs-Urteile in Kants theoretischer Philosophie. In: Kant-Studien 82 (1991), 414—435; Longuenesse: Kant et les jugements empiriques. Jugements de perception et jugements d’ expérience. In: Kant-Studien 86 (1995), 278—307; Dörflinger: Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und praktische Aspekte der Erfahrungstheorie Kants, Berlin/New York 2000. Mein Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft bietet in Kapitel 16 eine ausführliche Interpretation der kantischen Belegstellen und diskutiert die prausssche Untersuchung sowie die einschlägigen Forschungsbeiträge der Gegenwart.
Materie und Form der Wahrnehmungsurteile
Ergebnis o.g. Interpretationen ist: Materie der Wahrnehmungsurteile sind begriffslogische Partialvorstellungen als empirische synthetische Merkmale. Auch synthetische Merkmale (Bestimmungen) sind keine anschaulichen Teilvorstellungen, sondern stets begriffliche Merkmale. Sie setzen mit anderen Worten die nichtdiskursive begriffliche Erfassung semantischer Merkmale (marker) und ihre formale Allgemeinmachung durch das analytische Begriffsbildungsverfahren voraus.
Empirische synthetische Sätze (= reale assertorische Urteile) sind somit anschaulich vermittelte urteilslogische Begriffssynthesen. Ein sehr schöner Beleg für empirische synthetische Sätze findet sich in Prolegomena § 7/AA IV, 281: „Denn ... die empirische Anschauung [macht] es ohne Schwierigkeit möglich, daß wir unseren Begriff, den wir uns von einem Objekt der Anschauung machen, durch neue Prädikate, die die Anschauung selbst darbietet, in der Erfahrung synthetisch erweitern, ... aber nur a posteriori und empirisch“. Die Logik behandelt die synthetischen Sätze im § 36 und bestimmt sie als solche, „deren Wahrheit sich nicht auf Identität der Begriffe gründet“ (AA IX, 111): „Alles x, welchem der Begriff des Körpers (a + b) zukommt, dem kommt auch die Anziehung (c) zu, ist ein Exempel eines synthetischen Satzes. Die synthetischen Sätze vermehren das Erkenntnis materialiter, ... enthalten Bestimmungen (determinationes)“ (AA IX, 111).
Objektive Einheit begrifflicher Repräsentationen
Die Wahrnehmungsurteile werden zu objektiven Erfahrungsurteilen durch ihre Passung hinsichtlich der Wahrheitskriterien der formalen Zeitordnung. Dies ist Gegenstand der transzendentalen Logik. Sie leistet die begriffliche Identifizierung und Zusammenfassung semantisch-begrifflicher Teilvorstellungen: qualitative Einheit des Objektbegriffs (= semantische objektive Einheit der Apperzeption), und aktives Rekapitulieren der dabei verwendeten syntaktischen Allgemeinstrukturen, Kategorien (= syntaktische objektive Einheit der Apperzeption).
Intensionale Einheit des referentiellen Objektbegriffs
Die erste Dimension der synthetischen Einheit der Apperzeption ist die intensionale Synthesis der Einheit des (Objekt-)Begriffs qua semantische Bedeutung. Dies ist (a) eine begriffliche Einheit: „Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, ... welche alles ... in einen Begriff vom Objekt vereinigt“ (B 139). Die „Einheit dieser Handlung [der Synthesis ist] zugleich die Einheit des Bewußtseins ... im Begriffe ... dadurch allererst ein Objekt ... erkannt wird.“ (B 138) (b) Sie ist eine intentionale, objektive Einheit: „... durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heißt darum objektiv“ (B 139). (c) Sie ist eine bewusste Einheit: „ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich“ (B 133). (d) Sie ist eine aktive Leistung: „Diese Beziehung [auf die syn- und diachrone Identität des erkennenden Subjektes] geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der andern hinzusetze“ (B 133). (f) Sie ist eine begriffliche Einheit mittels der Aktivität des kognitiven Selbstbewusstseins und seiner syn- und diachronen Einheit: „Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehöreten, d.i. ... in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden.“ (B 132–133) Denn „nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige derselben [= der Synthesis der Vorstellungen] in einem Bewußtsein begreifen [!] kann, nenne ich dieselbe insgesamt meine Vorstellungen; denn sonst würde ich ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin.“ (B 134)
Erstrangige Anstöße zur Interpretation der transzendentalen Einheit der Apperzeption als semantisch-intensionaler Einheit des Inhaltes der Synthesis (Begriffssynthese) enthält Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants Transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976. Er macht die wichtige Feststellung: Deiktische und relationale Bestimmungen sind keine Charakterisierungen der Objekte, denn dies ist nur durch genuine Prädikate möglich, sondern sie sind Lokalisierungen der Objekte (Henrich 1976, 29). Das Subjekt im objektkonstituierenden Urteil muss folglich ein charakterisierender Begriff, eine Bedeutung sein, nicht nur eine indizierende Kennzeichnung. Das Prädikat ferner ist als ein Quale, eine Eigenschaft anzusehen (Henrich 1976, 39). Näherhin: Das Subjekt ist als nominalisierte Prädikat-Menge anzusprechen; Subjekte sind nicht nur Einzelbegriffe/Namen als Kennzeichnungen (Henrich 1976, 41). Mit anderen Worten: Logisches Subjekt (Urteilssubjekt) = reales Objekt = nominalisiertes Prädikat der Qualia = Grund der synthetischen Einheit unterschiedlicher Prädikate, und zwar nicht erstrangig als Referenzpunkt für logisch unabhängige synthetische Bestimmungen, sondern als Grund für eine „Mannigfaltigkeit von Prädikaten“ (= bei Kant der für analytische Prädizierungen vorbehaltene Fachterm, während Bestimmung der Fachterm für synthetische Prädizierungen ist), d.h. eine begriffslogische Einheit mit innerer analytischer Komplexität (Henrich 1976, 44)
Weiter Henrich: Alle Urteile basieren auf dem (kategorialen) Elementarurteil der Subjekt-Prädikat-Verbindung. Letztere ist eine Verbindung, eine Synthese von Begriffen. Wenn nun alle anderen Urteilsformen diesen Satztyp voraussetzen, setzen somit alle Urteile Begriffssynthesen voraus! (Henrich 1976, 27) Fazit: Logisches Subjekt und Prädikat und reales Subjekt und Prädikat sind im realen Verstandesgebrauch referentiell identisch. Weitere wichtige Interpretationen bieten Schulthess: Relation und Funktion, Berlin/New York 1981, und Loebbert: Wie ist die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile möglich?, Rheinfelden 1989.
Syntaktische Einheit der kategorialen Synthesis
Diese zweite Dimension der synthetischen Einheit der Apperzeption ist die prozedurale Synthesis der syntaktischen Einheit der Urteilsformen Der klassische Belegtext ist hier § 20 KrV B. Aus diesem Paragraphen ergeben sich folgende Eckdaten:
(1) „Einheit der Anschauung allein möglich“ durch die „synthetische Einheit der Apperzeption“.
(2) B 140—142: Die „objektive Einheit der Apperzeption“ entspricht dem Urteil als der „Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen“, also: „Die Körper [Objekt] sind [Synthesis] schwer [Eigenschaft]“; im Unterschied von deren „Verhältnisse nach Gesetzen der reproduktiven Einbildungskraft“ oder der subjektiven Einheit: „Wenn ich einen Körper trage [Vorstellung 1], so fühle ich [ Assoziation] einen Druck der Schwere [Vorstellung 2]“.
(3) Objektkonstitution basiert auf Objektidentität und -konstanz, diese basiert auf Urteilen des realen Verstandesgebrauchs, Urteile des realen Verstandesgebrauchs basieren auf Begriffssynthesen, Begriffssynthesen des realen Verstandesgebrauchs basieren auf der semantischen und syntaktischen transzendentalen Einheit der Apperzeption oder begrifflichen mentalen Repräsentation.
(4) Begriffliches Urteil des realen Verstandesgebrauches und anschauliche Synthesis haben dieselbe Materie: Partialvorstellungen eines Gegenstandes der Anschauung.
(5) Begriffliches Urteil des realen Verstandesgebrauches und anschauliche Synthesis haben die selbe Form – eine der 12 Synthese- oder Urteilstypen: „Diesselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit“ (B 104—105).
(6) Automatische Homöomorphie zwischen der anschaulichen Gesamtvorstellung eines Gegenstandes (als Synthese und anschauliche Einheit von anschaulichen Partialvorstellungen) und der begrifflichen Apperzeption eines Gegenstandes (als Synthese und begriffliche Einheit von allgemein gemachten [= zu Begriffen gewordenen] anschaulichen Partialvorstellungen).
Den Objektbegriff, der in unserem Zusammenhang der formalen Synthesisformen vorrangig interessiert, da diese nichts anderes als Formen des Denkens des Objektes sind, bringt Henrich a.a.O. 1976 mit der zentralen Voraussetzung der Konstanz in Zusammenhang. Objektkonstanz bedeutet: geordnete Zusammenhänge und Abläufe (Verbindungen), d.h. Kontinuität des Daseins des Objekts trotz unterschiedlicher subjektiver und objektiver Bedingungen und Bestimmungen. Diese Konstanz ist nicht aus Empfindungen ableitbar, denn diese sind nur da oder nicht da; und auch nicht aus bloßen Vorstellungen ohne Objektbezug in der subjektiven Synthesis der Phantasie (sinnliches Bild und Wahrnehmungsurteil) (Henrich 1976, 16—18). Die objektive Synthesis oder Objektkonstanz bzw. „geregelte Datenkonfigurationen und Sequenzen“ erfordern über Datensensualismus und subjektiver Synthesis hinaus eine andere, weitere Instanz (Henrich 1976, 21; vgl. Rohs: Die transzendentale Deduktion als Lösung von Invarianzproblemen. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.) Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Tranzendentalphilosophie, 1988, 135—192). Diese Instanz findet sich im Urteil: Das Urteil ist die formale Gestalt des Geltungsanspruchs der objektiven Einheit statt der nur zufällig-assoziativen, subjektiven Vorstellungseinheit (Henrich 1976, 25).
Hoppe (Synthesis bei Kant: das Problem der Verbindung von Vorstellungen und ihrer Gegenstandsbeziehung in der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin/New York 1983) und O’Neill (Transcendental Synthesis and Developmental Psychology. In: Kant-Studien 75 (1984), 149—167) heben den Erklärungswert dieser kantischen Synthesistheorie für die Entwicklungspsychologie und Psychopathologie ins Relief. Für die Entwicklungspsychologie arbeitet Hoppe unter Anlehnung an Piaget die Abhängigkeit des Objektbewusstseins des Kindes von Synthesisleistungen und begrifflicher Interpretation heraus, also von semantischer und syntaktischer Einheit der Apperzeption (1983, 159—169). An pathologischen Störungen der Kognition wie Wahnsinn (Amentia) und Schizophrenie (Depersonalisation) macht Hoppe deutlich, dass die subjektive Einheit des Selbstbewusstseins erhalten bleibt, aber die objektive Einheit der Apperzeption verlorengeht. Diese Störungen sind geradezu definiert durch Auflösung der objektiven Zeitsynthesis und damit der objektiven Erfahrung mit dem Resultät mentaler Atomisierung und motorischer Ziellosigkeit des Verhaltens ((1983, 134—147); vgl. Vogeley: Selbstkonstrukt und Präfrontaler Cortex. In: Newen, A./Vogeley, K. (Hrsg.) Selbst und Gehirn, 2000, 217—231, und Kitcher: Kant’s Transcendental Psychology, New York/Oxford 1990). Hoppe (1998, 183—184) bringt den Kontrast zwischen empirischer Apperzeption und objektiver, kategorialer Apperzeption auf die griffige Formel: „isolierte ‘Insellösungen’“ versus „sinnvolles Ganzes“. Weder die numerische Einheit des Subjekts, noch dessen zeitliche Identität, noch das empirische Ich (innerer Sinn) sind hinreichende Bedingungen des Gegenstandsbezugs, sondern nur die von Kant so genannnte objektive Einheit der Apperzeption (1983, 210—217).
Wenn Kant dafür argumentiert, dass diese Syntaxformen der objektiven Erfahrungsurteile notwendig und allgemeingültig sind, dann meint diese „objektive Gültigkeit“ tatsächlich nur ihre objektiv-empirische Wahrheitsdifferenz [= „Entwurf eines Objekts überhaupt“ (Prauss: Erscheinung bei Kant, Berlin 1971, 89)], und nicht etwa schon ihre objektiv-empirische Wahrheit [= „Erdeutung eines bestimmten Objekts“ (ebd. 87)] [...] Für Wahrheit und für Falschheit der empirischen Urteile sind die Kategorien nur die notwendigen, für ihre objektive Gültigkeit, ihre objektive Wahrheitsdifferenz dagegen die hinreichenden Bedingungen.“ Und: „Das schließt ... keineswegs aus, daß ich dabei auch irregehen kann“, weil nach „Kant solche Erfahrung dynamisch [ist], ... etwas, woran immer und immer wieder berichtigt werden muß“ (1971, 89). Dies wird in der Kantliteratur oft verwechselt. Vgl. mein Systematischer Kommentar (289—295) und die treffenden Analysen bei Baum: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie, Königstein/Ts 1986, 21—22, 62—63, 159—163; Krausser: Transzendentale und evolutionäre Erkenntnistheorie. In: Lütterfelds, W. (Hrsg.) Transzendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie?, Darmstadt 1987, 340—345; Nolan: Kant on Meaning: Two Studies. In: Kant-Studien 70 (1979), 113—130, und Wong: A Step Toward a Semantical Interpretation of the Deduction of the Categories. In: Proceedings of the Eigth International Kant Congress, Memphis 1995, II, Milwaukee 1995, 277—285. Nolan und Wong rekonstruieren die kantischen Kategorien als Syntaxformen in der formalisierten Logik wie folgt. Nolan:
(1) Kategorien sind formalontologische Metabegriffe, keine empirischen Klassenbegriffe. – (2) Kategorien als formalontologische Metabegriffe sind formallogische Syntaxformen. – (3) Kategorien als formalontologische Metabegriffe in Gestalt formallogischer Syntaxformen sind vergleichbar den syntaktisch, aber nicht semantisch determinierten Variablen der logischen Grammatik.
Wong: „The categories as pure and a priori concepts are the necessary modes of thought indispensable for our representation of any object in space and time. Notice, however, the categories themselves do not suffice to constitute a semantics of representation. For in order to have a semantics of representation, we need to have an object-language. But the categories provide nothing more than a meta-language as a conceptual scheme for our representation of an object. The categories are nothing but mere modes of thought; they do not refer. The categories do not determine the semantic field of the object-language. That is to say, the categories do not determine either the sense (Sinn) or the reference (Bedeutung) of the object that we represent.“ (1995, 280—281)
Aber umgekehrt gilt von den Kategorien qua notwendigen conceptual schemes auch, dass die Semantik der Kategorien als Aussageformen bei Kant objektiv (= formal-ontologisch) interpretiert wird, nicht substitutiv (= formal-semantischer Kalkül). Objektive semantische Interpretation besagt, dass die Aussageformen objektiv, in Objekten verwirklicht sind, und diese Objekte konzeptualistisch konstituieren. Die substitutive semantische Interpretation würde dagegen ein Universum von Individuenkonstanten, also bereits konstituierten Objekten voraussetzen, und die Aussagefunktionen wären lediglich nominalistische theoretische Konstrukte über dem Universum der Objekte (vgl. Seebohm a.a.O. 1984, 121—124).
Koinzidenz der formalen und realen Synthesistypen
Im Untermenu Logische Grammatik wurde bereits die kantische Binnendifferenzierung der syntaktischen Einheit der Apperzeption in 12 elementare Syntaxformen oder Urteilstypen (Urteilstafel: KrV A 70—76; B 95—101) im aktuellen Forschungshorizont erörtert. Dies ist hier vorauszusetzen. Die Synthesistypen des Denkens gleich Urteilens gelten für die formale Urteilslogik, im analytischen Verstandesgebrauch. Dies versteht sich von selbst. Die 12 Synthesistypen des Denkens gleich Urteilens sind aber auch die Aussageformen für die reale Urteilslogik, im synthetischen und analytischen realen Verstandesgebrauch. Denn es gibt keine anderen Handlungen des Verstandes oder Denkens. [Foto rechts: Der Neukantianer Paul Natorp, 1854—1924. Er aktualisiert Kants Theorie syntaktischer logischer Funktionen für Mathematik und Naturwissenschaften: Wissenschaft ist analytische Zergliederung und synthetische Verknüpfung von Gegenständen, verstanden als Gewebe von Relationen, womit er neben seinem Schüler Ernst Cassirer seinen lebenslangen Gesprächspartner Edmund Husserl und die Wirkungsgeschichte der analytischen Philosophie beeinflusst. Carnaps Logischer Aufbau der Welt ist Geist von seinem Geist.]
Die sogenannte metaphysische Deduktion hat die Begründung dieses Sachverhaltes zum Ziel. Sie ist nach KrV B 159 die Aufklärung über den „Ursprung der Kategorien“, welche dabei aus „völlige[r] Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan“ werden. Es geht also dabei um die Rechtfertigung der Grundannahme Kants, dass die kategoriale Wahrnehmungsorganisation isomorph zur begriffs- und urteilslogischen Kognition ist und mit derselben logischen Operatorenmenge arbeitet. Es darf heute in der Diskussion vorausgesetzt werden, dass Deduktion hier – wie auch in der transzendentalen Deduktion in Folge – nicht Ableitung oder Beweis bedeutet, sondern Exposition eines Begriffs (= eine Form der Definition); dass ferner metaphysisch analytisch, begriffszergliedernd meint. Für die nähere Vorstellung der einschlägigen Forschungsbeiträge von Krüger, Seebohm, Baum, Caimi, Henrich, Longuenesse u.a. siehe z.B. mein Systematischer Kommentar Kap. 18.7 (296—299). Hier im Überblick die so entstehende Tafel der Kategorien (KrV B 106):
1. Der Quantität: Einheit – Vielheit – Allheit. 2. Der Qualität: Realität – Negation – Limitation. 3. Der Relation: der Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens) – der Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung) – der Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden). 4. Der Modalität: Möglichkeit – Unmöglichkeit, Dasein – Nichtsein, Notwendigkeit – Zufälligkeit.
Longuenesse: Kant and the Capacity to Judge. Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason, Princeton 1998, ist die maßgebliche aktuelle Diskussionsgrundlage zur metaphysischen Deduktion. Eine Auseinandersetzung mit Kritikern sowie eine Präzisierung ihrer Argumentation bietet Longuenesse: Kant on the Human Standpoint, Cambridge University Press 2005. Hier eine Skizze des Arguments zusammen mit einem Überblick zu dessen Aufnahme und Kommentierung durch Kantforscher und Logiker:
L12_Metaphysische_Deduktion.pdf
Homöomorphie begrifflicher & anschaulicher Objektsynthesis
Diese Gleichförmigkeit oder Homöomorphie ist Thema der sog. transzendentalen Deduktion. Sie ist nach Kant die doppelte Rechtfertigung dafür, dass Kategorien erstens mögliche und unter der Voraussetzung unseres kognitiven Designs notwendige apriorische Erkenntnisformen von in begriffslogischen Urteilen erfassten Gegenständen einer Anschauung überhaupt sind. Nach KrV B 144—145 müssen dies nicht notwendig Gegenstände einer empirischen sinnlichen Anschauung sein, sondern könnten dies theoretisch auch Gegenstände einer gegebenen reinen sinnlichen Anschauung oder gegebenen intellektuellen Anschauung sein (§ 21/B 144—145; § 26/B 159). Dass ferner zweitens die Kategorien mögliche, unter der Voraussetzung unseres kognitiven Designs notwendige, apriorische syntaktische Typen von begriffslogischen Urteilen des realen Verstandesgebrauchs bzgl. Gegenständen unserer sinnlichen Anschauung sind (§ 21, B 144—145; § 26/B 159).
Hier geht es also darum, die notwendige Kompatibilität der bewussten sinnlichen und bewussten begrifflichen empirischen Wahrnehmungsorganisation des Menschen mit den Kategorien darzutun. Das Beweisziel der transzendentalen Deduktion lässt sich somit in folgenden drei Thesen präzisieren:
(1) Die Typen logischer Relationen der begrifflichen Urteilslogik in verbal-semantischer Kodierung sind homöomorph zu Typen realer Relationen bewusster räumlicher Konfigurationen und zeitlicher Sequenzen im dimensionalen und prozessualen Display der Raum-Zeit-Topologie in sensorisch-imaginaler Kodierung: bewusste Wahrnehmung und bewusstes Denken arbeiten mit den selben syntaktischen Kategorien oder logischen Operatoren. Dies ist der erste Schritt der tranzendentalen Deduktion B, nämlich die Deduktion der Kategorien als formale Ontologie (reine Mannigfaltigkeitslehre) betreffs einer Anschauung von Mannigfaltigem überhaupt (KrV B, § 20). Siehe dazu aktuell Caimi: Einige Bemerkungen über die Metaphysische Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft. In: Kant-Studien 91 (2000), 257—282.
(2) Im realen Verstandesgebrauch sind die Typen logischer Relationen der begrifflichen Urteilslogik in verbal-semantischer Kodierung nicht nur homöomorph zu Typen realer Relationen bewusster räumlicher Konfigurationen und zeitlicher Sequenzen in sensorisch-imaginaler Kodierung, sondern bewusste logische und reale Relationen koinzidieren (KrV B, § 26). Hiltscher: Wahrheit und Reflexion. Eine transzendentalphilosophische Studie zum Wahrheitsbegriff bei Kant, dem frühen Fichte und Hegel, Bonn 1998, 110, interpretiert die transzendentale Deduktion daher zurecht als eine transzendental reflektierte Korrespondenztheorie der Wahrheit: „Die Adäquationstheorie der Wahrheit ist die angemessene Theorie der Wahrheit, weil Anschauungsbestimmtheit des Anschauungsgegenstandes und objektiv-intentionale Eigenbestimmtheit des Denkens den gleichen Grund haben“. Dieses Beweisziel der transzendentalen Deduktion entwickelt Hiltscher sodann in 19 Thesen (1998, 113—114).
Fazit: Bewusste begriffliche Synthesis eines Objekts = bewusste anschauliche Synthesis eines Objekts: identische Inhalte – identische Relationen – identische Einheit: ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption. Anschauliche Synthesis: „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch sie die Einheit der Anschauung allein möglich ist. (§ 17)“ (B 143) – Begriffliche Synthesis: „Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile. (§ 19)“
(3) Das Beweisziel der transzendentalen Deduktion erstreckt sich nur auf die bewusste Anschauung und das bewusste Denken von Objekten und Sequenzen, nicht auf die vorbewusste Wahrnehmungsorganisation. Letztere muss lediglich empirische strukturelle Invarianzen und prozessuale Regelmäßigkeiten (siehe Natterer: Systematischer Kommentar, Kap. 9) bieten, denen als epistemischen Optionen oder Pfaden die bewussten Relationen der Anschauung und des Denkens folgen können (vgl. Henrich: Identität und Objektivität, Heidelberg 1976, 96). Wo Invarianzen und Gesetzmäßigkeiten der vorbewussten Wahrnehmungsorganisation nicht mehr nur Optionen der bewussten Wahrnehmung und Kognition bieten, sondern zwingende Vorgaben, konstituieren Letztere exakt die synthetischen Grundsätze a priori, speziell jene der Relation (Analogien der Erfahrung) (siehe in Folge). Caimi a.a.O. 2000 arbeitet wie Henrich sehr gut die reflexive Natur und Leistung des einheitsstiftenden Verstandes in der objektiven kategorialen Erkenntnis heraus, und die komplementäre konstitutive Funktion der Einbildungskraft für die faktische Synthesis der Erfahrung (2000, 278—279).
In der aktuellen Literatur sind ansonsten wichtige Beiträge: De Vleeschauwer: La Deduction transcendantale dans l’oeuvre de Kant, Antwerpen 1934/37; Henrich (a.a.O. 1973) und ders.: Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion. In: Prauss, G. (Hrsg.) Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1976, 90—104; Wagner: Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Kategorien. In: Kant-Studien 71 (1980), 352—366; Strawson: The Bounds of Sense, London 1966; Seebohm: Die Kantische Beweistheorie und die Beweise der Kritik der reinen Vernunft. In: Akten des Fünften Internationalen Kant-Kongresses 1981, II, Bonn 1982, 127—148; Allison: Kant’s Transcendental Idealism, New Haven 2004 [1. Aufl. 1983]; O’Neill: Transcendental Synthesis and Developmental Psychology. In: Kant-Studien 75 (1984), 149—167; Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge (Mass.) 1987; Howell: Kant’s Transcendental Deduction, Dordrecht/Boston/London 1992; Carl : Die transzendentale Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Ein Kommentar, Frankfurt/M. 1992; Heckmann: Kants Kategoriendeduktion, Freiburg/München 1997; Chong-Hyon: Kant’s Theory of Transcendental Truth as Ontology. In: Kant-Studien 96 (2005), 147—160; Caimi: Leçons sur Kant. La déduction transcendantale dans la deuxième édition de la Critique de la raison pure, Paris 2007. Baumanns: Kants transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (B), Ein kritischer Forschungsbericht. In: Kant-Studien 82 (3) 329—348 [1991]; 82 (4) 436—455 [1991]; 83 (1) 60—83 [1992]; 83 (2) 185—207 [1992] bietet darüber hinaus einen vollständigen Literaturbericht zur transzendentalen Deduktion bis 1990 mit jeweiliger Diskussion der Standpunkte.
Transzendentale Grammatik
Das Fazit der transzendentalen Deduktion erlaubt die Annahme einer Grammatik (= grammatischer Syntaxtypen, Kategorien) des realen Verstandesgebrauches, die mit der logischen Grammatik und/oder einer linguistischen Universalgrammatik sowie der allgemeinen Ontologie oder transzendentalen Logik identisch ist. Diese Grammatik ist a priori, d.h. notwendig und allgemeingültig, nicht empirisch und komparativ gültig. Diese Kategorien oder „intellectualen Begriffe“ bilden die abstrakteste Ebene der Erfahrung. Das kantische Paradigma für reine Verstandesbegriffe ist das einer transcendentalen Grammatik:
„Würden wir die transcendentalen Begriffe so [= in Kategorien und von diesen abgeleitete Begriffe] zergliedern; so wäre dies eine transcendentale Grammatik, die den grund der menschlichen Sprache enthält; z.B. wie das praesens, perfectum, plusquamperfectum in unserem Verstande liegt, was adverbia sind u.s.w. Überdächte man dies, so hätte man eine transcendentale Grammatik. Die Logik enthielte den formalen Gebrauch des Verstandes. Dann würde die transcendentale Philosophie, die Lehre von den allgemeinen Begriffen a priori folgen können.“ (Allgemeine Metaphysik L2, AA XXVIII, 576—577; vgl. Prolegomena § 39, AA IV, 322—323). Die Idee einer allgemeinen oder transzendentalen Grammatik entwickelt aber bereits Leibniz, z.B. in den Nouveaux essays (1972, 334). In Allgemeine Metaphysik Mrongovius (AA XXIX, 804) bringt Kant diese Veranschaulichung der Kategorien als Formen der transzendentalen Grammatik:
„Unsre gemeine Sprache enthält schon alles das, was die transcendentale Philosophie mit Mühe heraus zieht. – Diese Categorien sind schon alle bey uns enthalten, denn ohne sie wäre keine Erfahrung möglich, z.B.: Es ist [heute] Schnee [auf die Erde] gefallen. Hierin liegt, daß Schnee ist, Substanz; gefallen, bedeutet ein akzidenz, auf die Erde, bedeutet einen Einfluß, das ist actio, gehört also zur caußa. Heute bezieht sich auf die Zeit, gefallen auf den Raum. [...] Setzen wir, wir hätten nicht solche pure Reine Verstandesbegriffe, so könnten wir gar nicht denken noch sprechen.“
Da wir ohne diese Formen der transzendentalen Grammatik „gar nicht denken noch sprechen“ können, deswegen gilt zwangsläufig – „Insofern ein Theil der transcendental Philosophie nichts als die principien der möglichen Erfahrung enthält, so ist er Logic der Wahrheit.“ (ebd. 805)
Diese transzendentale Logik als transzendentale Grammatik ist identisch mit der Ontologie oder Allgemeinen Metaphysik: Die Ontologie alias Transzendentalphilosophie handelt nicht vom realen Wesen der Objekte (= Substanz), das – wie Kant stets vertritt – unerkennbar und allenfalls Gegenstand des unabschließbaren realwissenschaftlichen Forschungsprozesses ist, sondern vom begrifflichen Wesen, das bei Kant doppelt ausfällt: das intensionale begriffslogische Wesen (= analytische Erkenntnis) und das kategoriale Wesen als „dem ersten Begriffe, den ich mir vom Dinge mache“ (= synthetische Erkenntnis a priori).
„Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen [...] Denn, ... eine solche Wissenschaft [müßte] so wohl die analytische Erkenntnis, als die synthetische a priori vollständig enthalten.“ (KrV B 25)
Vgl. Heimsoeth: Zur Herkunft und Entwicklung von Kants Kategorientafel. In: Kant-Studien 54 (1963), 376—403, und Bärthlein: Zum Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie in der deutschen Philosophie des 18 und 19. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 56 (1974), 257—316. Wenn Strawson (a.a.O. 1966, 115) die kantischen apriorischen Kategorien als oberste, generellste Begriffe von Gegenständen reformuliert, die in allen kontrafaktischen Situationen Geltung haben, dann ist dies nicht weit ab vom kantischen Gedankengang.
Diese Grammatik reiner Verstandesbegriffe ist nun nach Kant kein fertiges angeborenes Inventar der menschlichen Kognition: „Wir haben gar keine angebornen Begriffe (notiones connatae), sondern wir erlangen sie alle, oder wir bekommen notiones aquisitae. Der Verstand aquirirt Begriffe, indem er auf seinen eigenen Gebrauch Acht hat.“ (Allgemeine Metaphysik L2, AA XXVIII, 542). Kant nennt dies die ursprüngliche Erwerbung / cognitio a priori aquisita reiner Verstandesbegriffe. Wie dieser Erwerb von Verstandesbegriffen methodisch zu denken ist, erläutert unter kognitionspsychologischem Aspekt Spezielle Metaphysik / Empirische Kognitionspsychologie L1 (AA XXVIII, 239) und unter transzendentallogischem Aspekt der bereits zitierte Text Allgemeine Metaphysik L2, AA XXVIII, 550; vgl. Entdeckung (AA VIII, 221). Die aktuelle monographische Aufarbeitung dieser Theorems bietet Oberhausen: Das neue Apriori. Kants Lehre von einer ‘ursprünglichen Erwerbung’ apriorischer Vorstellungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997.
Erststufige und höherstufige Synthesistypen
Der kategoriale Verstand arbeitet zweistufig. Diese zwei Stufen der Synthesis werden von Kant in einer schematischen Übersicht (KrV B 200–201) präzisiert: „Alle “Synthesis oder „Verbindung (coniunctio)“ ist: (1) Nicht notwendig + gleichartig + mathematisch = Zusammensetzung (compositio): (1.1) extensive Aggregation: Quantität – (1.2) intensive Koalition: Qualität; und (2) Notwendig + ungleichartig + dynamisch: = Verknüpfung (nexus): (2.1) physisches Dasein: Relation – (2.2) metaphysische/gnoseologische Existenz: Modalität.
Die Tafel der Kategorien lässt sich also "in zwei Abteilungen zerfällen ..., deren erstere auf Gegenstände der Anschauung (der reinen sowohl als empirischen), die zweite aber auf die Existenz dieser Gegenstände (entweder in Beziehung aufeinander oder auf den Verstand) gerichtet sind. Die erste Klasse würde ich die der mathematischen, die zweite der dynamischen Kategorien nenen.“ (B 110) Und: „In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder mathematisch, oder dynamisch: denn sie geht teils bloß auf die Anschauung, teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt.“ (B 199)
Erststufig meint also die Synthesis, deren terminus a quo die subjektive Perzeption (= das Subjekt modifizierende Vorstellung mit Bewusstsein = Empfindung = sensatio + Anschauungsformen = Wahrnehmung), und deren terminus ad quem die objektive Perzeption (= Erkenntnis i.w.S. = cognitio = Gegenstandsidentifizierung und -unterscheidung) ist. Auf diese Synthesis beziehen sich die Kategorien der Quantität und Qualität und die Axiomen der Anschauung und Antizipationen der Wahrnehmung.
Höherstufig meint diejenige Synthesis, deren terminus a quo gegebene Erkenntnisse (Kognitionen oder Objekte) sind und deren terminus ad quem deren lokale und globale zeitliche Verknüpfung in der Erfahrung ist. Auf diese Synthesis beziehen sich die Kategorien der Relation und der Modalität und die Analogien der Erfahrung und Postulate des empirischen Denkens.
Substanz-Akzidenz-Relation als basale Synthesis
Das kategorische Urteil ist Basis der Synthesistypen der formalen Urteilslogik (Logik (AA IX, 105): „Die kategorischen Urteile machen ... die Materie der übrigen Urtheile aus“. Dem kategorischen Urteil entspricht die Substanz-Akzidenz-Kategorie. Auch sie ist Basis der Synthesistypen der realen Urteilslogik. Hier folgende Belegstelle aus Allgemeine Metaphysik Mrongovius (AA XXIX, 769):
„Wir wissen, daß die Tafel der Categorien analog sey der Tafel der functionen des Verstandes im Urtheilen – in der letzten finden wir categorische Urtheile, die liegen allen andern zum Grunde – sie enthalten die Verhältniße des subjects zum praedicat. Das was nicht anders existiren kann wie das subject, ist substanz, was nicht anders existiren kann wie das praedicat, ist accidens. Hier ist also alles so: wie die categorischen Urtheile die vornehmsten sind, so ist die Categorie der Substanz auch die vornehmste [...] Substanz nennt man daher auch das substratum der Erscheinungen“.
Vgl. auch Prolegomena § 39, AA IV, 325 Anm.: „sowie wir logische kategorische Urteile allen anderen zum Grunde legen, so die Kategorie der Substanz allen Begriffen von wirklichen Dingen“. Dieser epistemische Vorrang der kategorischen Urteile oder atomaren Sätze der Erfahrung ist zugleich ein mittelbarer Beweis für das auch sachliche Vertreten der verbal von Kant stets verteidigten Korrespondenztheorie der Wahrheit:
„Das Problem der Wahrheit und Falschheit ... [in] der für die Philosophie der Logik in semantischer Hinsicht wichtigen Form“ ist die „Wahrheit und Falschheit singulärer atomarer Sätze“. – Denn: „Das Problem der Kohärenztheorie der Wahrheit ist nicht nur, daß sie nicht auf einen absoluten Wahrheitsbegriff führt. Schwerwiegender für die Philosophie der Logik ist, daß eine Wahrheitstheorie, in der kein Gesichtspunkt dafür angegeben werden kann, warum der singuläre atomare Satz Vorrang hat, im Grunde unzureichend bleibt.“ Kriterien wie Einfachheit und Eleganz der „Theorien“ oder „maximal konsistente Satzmengen nivellieren diesen Vorrang. Er kann nur dann wiedergegeben werden, wenn solche kohärenten Zusammenhänge mit der Erfahrung konfrontiert werden, d.h. Verifizierung und Falsifizierung ins Spiel gebracht wird, denn sie beziehen sich primär auf singuläre atomare Sätze.“ Auch wenn „die Formulierung von Basissätzen theorieabhängig bleibt“, setzt „die Falsifizierbarkeit von allgemeinen Sätzen und Theorien ... voraus, daß singuläre Sätze wahr/falsch, wenn auch nicht absolut, so doch mit Bezug auf die Theorie, objektiv entscheidbar sind.“ (Seebohm: Philosophie der Logik 1984, 87—90)
Subjektbegriffe als Einsetzungen in Substanzvariablen
Die Einsetzungen für die Variable „Substanz“ in der Substanz-Akzidenz-Aussageform geschehen durch Subjektbegriffe. Folgender Text aus Allgemeine Metaphysik L2 (AA XXVIII, 554) zeigt, dass das Erkennen des realen Objektes und damit der Substanz darin besteht, den intensionalen Subjektbegriff nicht nur qua Bedeutung (meaning) vor Augen zu haben, sondern ihn referentiell ['absolut' wie Kant sagt] zu setzen:
„Vom Daseyn. [...] Der Unterschied zwischen dem problematischen und assertorischen Urtheile ist der: daß ich mir im ersten Falle, nämlich problematisch, etwas vom Objecte denke, oder daß ich in meinen Gedanken dem Subjecte ein Praedicat beilege; im andern Fall, nämlich assertorisch, lege ich dem Objecte außer mir, und nicht in Gedanken, ein Prädicat bey. Eben so sind die Kategorien Möglichkeit und Wirklichkeit verschieden. Durch die Wirklichkeit wird dem Subjecte nichts mehr gegeben, als durch die Möglichkeit; die Möglichkeit mit allen Prädicaten wird nur absolut gesetzt; bey der Möglichkeit wurden diese Prädicate nur in Gedanken respective gesetzt. Ersteres ist positio absoluta, letzteres respectiva [...] Ist etwas nur gedacht; so ists möglich. Ist etwas darum gedacht, weil es schon gegeben ist, so ists wirklich. Und ist etwas darum gegeben, weil es gedacht ist; so ist es nothwendig. Durchs Daseyn an dem Dinge denke ich mir nicht mehr, als durch die Möglichkeit, sondern nur die Art es zu setzen ist verschieden, nämlich die Relation zu mir. Dem Gegenstande giebt also das Daseyn kein Prädicat mehr.“
Dass hier ein logisch zwingender Sachverhalt thematisiert ist, zeigt ein Blick auf die logische Grundlagenforschung der Gegenwart: Auch bei „Namen, allgemein singulären Sätzen [...] taucht das Problem intensionalen Gehaltes auf, verbindet sich aber mit dem des Gegenstandsbezuges von Sätzen, damit aber auch mit dem Problem der Wahrheit. [...] Singuläre Sätze beziehen sich in natürlicher Sprache auf dreifache Weise auf Individuen: 1) Demonstrativpronomen in Verbindung mit Prädikaten, 2) Individualnamen, 3) mehr oder weniger präzise definite Deskriptionen, wie z.B. ‘der höchste Berg Spaniens’. Für den Aufbau einer logischen Sprache kann zunächst davon ausgegangen werden, daß sich Individualnamen durch ihren intensionalen Sinn, d.h. Prädikate, die sich auf ein und nur ein Individuum beziehen lasssen, auf ihr Objekt beziehen, und damit definite Deskriptionen sind.“ (Seebohm a.a.O. 1984, 165) – Neben der intensionalen definiten Deskription ist die eindeutige extensionale kontextuelle Definition zur Einführung logischer Namen oder Individuenkonstanten nötig: „Es müssen Relationen und noch besser Funktionen ... verwendet werden [...], die ... sich als ‘Kontext’ ein mathematisch explizierbares Koordinatensystem wählen, am besten das des vierdimensionalen Kontinuums der modernen Physik“ (Seebohm 1984, 167).
Die kantische These: Das reale Objekt ist assertorische, referentielle Setzung des Subjektbegriffs qua intensionaler Bedeutung (meaning), zeigt sich so in der modernen Diskussion der individuellen Referenz als nicht überholt. Denn zu 1) in obigem Kurzreferat ist anzumerken: Demonstrativpronomen referieren nur „in Verbindung mit [intensionalen!] Prädikaten“; ja ihre „Funktion ... ist nicht die, Gegenstandsbezug herzustellen“, sondern „Rückbezug zu sichern“ (Seebohm 1984, 167—168). Und zu 2) in obigem Kurzreferat ist anzumerken: Individualnamen referieren ebenfalls „durch ihren intensionalen Sinn, d.h. Prädikate, die sich auf ein und nur ein Individuum beziehen lasssen, auf ihr Objekt“ und sind „damit definite Deskriptionen“. Zwar gilt: In der nachklassischen formalisierten Modallogik „ergibt sich ..., daß die für die ... klassische[n] Logik so wichtige Eliminierung von Namen durch deskriptive Definitionen aufzugeben ist.“ (Seebohm 1984, 211—212) Dies berührt aber nicht die Geltung des hier in Rede stehenden Sachverhaltes, sondern stellt ihn nur in den größeren Zusammenhang der Semantik von Sachverhaltsmengen oder möglichen Welten, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann. Zu 3) genügt schließlich der Hinweis: Definite Deskriptionen sind per definitionem ein für ein Individuum charakteristischer Komplex intensionaler Prädikate (meist zur besseren Handhabung auf den sog. Jotaoperator verkürzt).
Hier ist über das Gesagte hinaus der Blick auf den Gesamthorizont der modernen Diskussion angebracht, um die systematische Bedeutung des an dieser Stelle zu erörternden Sachverhaltes verstehen, und so die kantische Theorie würdigen zu können. Repräsentativ ist hierzu Salmon: Reference and Essence, 2. Aufl. Amherst, NY 2005 [Princeton 1981]. Salmon: Reference and Information Content. Names and Descriptions. In: Gabbay, D./ Guenthner, F.: Handbook of Philosophical Logic, Dordrecht/Boston/London IV.5, 1989, 409—461, ist ein klassischer Standardaufsatz, der das Thema kompakt skizziert. Dazu diese Verknüpfung:
L13_Referenz_Individuen_Salmon.pdf
Kants These: Reales Objekt (und phänomenale Substanz) ist Absolutsetzung des intensionalen Subjektbegriffs qua Bedeutung (meaning) wird bei Strawson (The Bounds of Sense, London 1966, 83—84, 125—132) ausgezeichnet herausgearbeitet. Die ausführlichste Einzeluntersuchung hierzu ist Vick: Existence was a Predicate for Kant. In: Kant-Studien 61 (1970), 357—371. Vick diskutiert die Frage nach der Systemstelle und Funktion der Begriffslogik im realen Verstandesgebrauch. Insbesondere geht es um das bekannte kantische Theorem: Sein ist kein reales Prädikat. Vick präzisiert die genaue Bedeutung von reales Prädikat entsprechend den einschlägigen Vorgaben des Kapitels über das Ideal der reinen Vernunft, insbesondere von KrV B 626—627:
„Kant did not say that existence is not a predicate, but only that it (or being) is not a ‘real’ predicate; and that he employed the term ‘real predicate’ in a technical sense, to mean a determination which can enter into the concept of an object. Hence, in denying that existence is a ‘real’ predicate, he said only that it cannot enter into the concept of an object, nor add to the object a conceptual determination.“ (Vick 1970, 360)
Vick fasst die kantische Argumentation in der Formel zusammen: „There is nothing in the object not contained in its concept.“ (Vick 1970, 364). Es gilt „the identity of the object with the content of its concept“ (Vick 1970, 365, Anm. 17). Die Verbindung des außerbegrifflichen Existenzbewusstseins mit dem Subjektbegriff zu einem Existenzurteil als Bewusstsein eines realen Objektes geschieht durch „Wahrnehmung“ nach „empirischen Gesetzen“ (KrV B 629) und „nach den Analogien der Erfahrung“ (B 272) (Vick 1970, 370—371).
Wichtige Beiträge zur Sache sind ferner Gram: The Crisis of Syntheticity: The Kant-Eberhard Controversy. In: Kant-Studien 71 (1980), 155—180; Andersen: Ideal und Singularität, Berlin/New York 1983, der die Fragestellung so strukturiert: „Im Rahmen der logischen Begriffslehre stellt sich nun für Kant die Frage nach dem Einzelnen in zweierlei Weise“ (Andersen 1983, 94): Dies ist einmal der singuläre Gebrauch des Begriffes in Einzelurteilen, zum anderen der konventionelle conceptus infimus [unterster Begriff] in der Begriffshierarchie. Ferner Hanna: Kant’s Theory of Empirical Judgment and Modern Semantics. In: History of Philosophy Quarterly 7 (1990), 335—351, und ders.: The trouble with Truth in Kant’s Theory of Meaning. In: History of Philosophy Quarterly 10 (1993), 1—20, sowie auch ders.: Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, Oxford 2001, und: Kant, Science, and Human Nature, Oxford 2006; Scheffer: Kants Kriterium der Wahrheit: Anschauungsformen und Kategorien a priori in der „Kritik der reinen Vernunft, Berlin/New York 1993; Wyller: Kausalität und singuläre Referenz: Eine sprachphilosophische Rekonstruktion des empirischen Realismus bei Kant. In: Kant-Studien 88 (1997), 1–15; ders.: Indexikalische Gedanken. Über den Gegenstandsbezug in der raumzeitlichen Erkenntnis, Freiburg/München 2000; ders.: Die Alternativ- und Perspektivlosigkeit der indexikalischen Zeit. In: Müller (Hrsg.): Philosophie der Zeit. Neue Analytische Ansätze, Frankfurt am Main 2007, 73—86; Knell: Wahrheitsanspruch und Idealisierung. In: Zs. f. philos. Forschung 53 (1999), 214—235; Textor: Neue Theorien der Referenz, Paderborn 2004. Für eine ausführliche Vorstellung und Diskussion der Literatur siehe mein Systematischer Kommentar, Kap. 18.17 (318—335).
Man kann als Bilanz dieser Forschungsbeiträge die Konvergenz von kantischer Theorie und modernem Diskussionshorizont in der Theorie singulärer Termini, d.h. der begrifflichen Identifizierung und Bezeichnung von Gegenständen (oder der Bedeutung singulärer Termini) festhalten. Kant benennt drei notwendige Bedingungen: klassifizierender intensionslogischer Allgemeinbegriff – tranzendentallogische objektive Raum-Zeit-Stelle – realitätsgarantierende subjektive Wahrnehmung. Die ersten beiden Bedingungen ergeben sich aus der objektiven Einheit der Apperzeption. Wir hatten herausgearbeitet, dass diese zweidimensional ist: semantisch (charakterisierende Beschreibung) und syntaktisch-kategorial (objektiv-lokalisierende Kennzeichnung). Dazu tritt drittens die subjektive Empfindung bzw. empirische Wahrnehmung als deiktische Komponente. Die moderne Diskussion benennt folgende analogen Bedingungen:
(i) Charakterisierende Prädikate = klassifizierende und charakterisierende deskriptive Kennzeichnung und räumliche Konfiguration und Abgrenzung (Frege/Russell und Strawson); (ii) objektive raum-zeitliche Lokalisierung und Kontinuität = sortale Prädikate als räumliche Konfiguration und Abgrenzung in einem objektiven Raum-Zeit-System (Strawson); (iii) subjektive lokalisierende Kennzeichnung = deiktische Bestimmung in einer Wahrnehmungssituation. Vgl. noch einmal Strawson: Individuals: An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959 [Dt: Einzelding und logisches Subjekt, Stuttgart 1995], und ders.: Bounds of Sense, London 1966; Dummett: Truth and other Enigmas, London 1978 [Foto oben: Michael Dummett, bedeutendster Frege-Interpret und Wahrheitstheoretiker]; Salmon a.a.O. 1989, und Tugendhat/Wolf: Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1997, 146—167, bes. 154—160):
„Es zeigt sich also, daß die Bedeutung singulärer Termini von komplizierter Art ist. Wir verwenden sie, um anzugeben, welcher von allen Gegenständen es ist, von dem der generelle Terminus in singulären prädikativen Aussagen ausgesagt wird. Die Allheit, durch Bezug auf die eine Identifizierung eines Einzelgegenstandes in einem strengen Sinn möglich wird, ist die der Gegenstände, die ein einem objektiven Raum-Zeit-System geordnet sind. Daß wir aus dieser Allheit ein Einzelnes identifizieren können, setzt die Verwendung deiktischer Ausdrücke, objektiv lokalisierender Kennzeichnungen und sortaler Prädikate als gleich fundamental und wechselseitig voneinander abhängig voraus.“ (Tugendhat/Wolf 1997, 159—160)
Diese Diskussion zeigt, dass die Theorie singulärer Termini ihrerseits eingebettet erscheint in der epistemischen Logik, welche die Stellung des Erkenntnissubjektes in der Logik berücksichtigt und die Dynamik rationaler Untersuchung und und ihrer Repräsentation in epistemischen (Wissen, dass ...) und doxastischen (Glauben, dass ...) Zuständen modelliert. Die epistemische Logik hat damit automatisch auch mit der Ebene der Pragmatik in der menschlichen Kognition zu tun, also mit der Subjekt- und Kontextabhängigkeit der Bedeutungsfixierung (intensionale Präzisierung oder Desambiguierung) und referentiellen Fixierung von Termen und Propositionen. Wie die Diskussion der letzten Jahrzehnte ferner gezeigt hat, ist dies nicht ohne wechselseitiges semantisches Vorwissen (hermeneutische Präsuppositionslogik), gemeinsame praktische Diskursvoraussetzungen (Konversationsmaximen) sowie v.a. perspektivische Intentionalität zu haben. Das Phänomen der Intentionalität bekommt man nun fachtechnisch gut mit propositionalen Einstellungen (propositional attitudes) in den Griff. Der vielleicht wichtigste Pionier der epistemischen Logik und auch der logischen Analyse von propositionalen Einstellungen ist nun Jaakko Hintikka. Hintikkas klassische Behandlung der referentiellen Semantik derselben Semantics for Propositional Attitudes ist ein erstrangig wichtiges Papier; in unserem Zusammenhang auch deswegen, weil es zum Ziel hat, die intensionale Begriffslogik aus propositionalen Einstellungen möglichst heraus zu halten.
Die folgende Verknüpfung 'Rekonstruktion und Diskussion von Jaakko Hintikka: Semantics for Propositional Attitudes' formuliert dazu die Arbeitshypothese, dass es bei der unmittelbaren und kontextfreien Behandlung der propositionalen Einstellungen in der Prädikatenlogik 1. Stufe mindestens in vielen Fällen möglich ist, intensionale Fragestellungen auszublenden. Das ist das Verdienst und das relative Recht von Hintikkas Semantics for Propositional Attitudes. Intentionalität schließt nicht notwendig und unmittelbar Intensionalität ein. Das geht aber nicht mehr, wenn mittelbare Voraussetzungen und der kognitive Kontext von propositional attitudes ins Spiel kommen. Das sollte aber gerade in einer epistemischen Logik geschehen, die die epistemischen Voraussetzungen und den epistemischen Kontext von Logikkalkülen thematisiert.
Logisches — formales — reales Wesen
In der Kantischen Theorie sind die Subjektbegriffe und ihre begrifflichen Implikate das Logische Wesen der Objekte der Erfahrung. Kant erörtert das logische Wesen in der Logik (Kant-Jäsche-Logik) und Metaphysik (Metaphysikvorlesungen). Wir haben gesehen: Kant bestimmt Begriffe als Merkmale oder Erkenntnisgründe. Begriffe bzw. Merkmale differenzieren sich nun nach Kant weiter aus in „zureichende und nothwendige oder unzureichende und zufällige Merkmale“. Ein Begriff ist zureichendes Merkmal „sofern es hinreicht, das Ding jederzeit von allen andern zu unterscheiden; widrigenfalls ist es unzureichend, wie z.B. das Merkmal des Bellens vom Hunde.“ (AA IX, 60) Der Begriff als notwendiges Merkmal bedeutet: „Nothwendige Merkmale sind ... diejenigen, die jederzeit bei der vorgestellten Sache müssen anzutreffen sein“ = „wesentliche“ Merkmale (AA IX, 60). Notwendige Merkmale werden bei Kant noch einmal unterschieden:
(1) Notwendige „primitive und constitutive Merkmale (constitutiva, essentialia in sensu strictissimo)“: Diese sind „Gründe andrer Merkmale von Einer und derselben Sache“ (AA IX, 60).
(2) Notwendige „Attribute (consectaria, rationata)“: „gehören ... auch zum Wesen des Dinges, aber nur, sofern die aus jenen wesentlichen Stücken desselben [= constitutive Merkmale] erst abgeleitet werden müssen; wie z.B. die drei Winkel im Begriffe eines Triangels aus den drei Seiten.“ (AA IX, 60–61)
Davon sind zu unterscheiden zufällige „außerwesentliche[n] Merkmale“. Sie sind entweder Akzidenzien: „innere Bestimmungen eines Dinges (modi)“ (AA IX, 61), oder Relationen: „äußere Verhältnisse (relationes)“ (AA IX, 61).
Das logische Wesen der Dinge ist somit: „Der Inbegriff aller wesentlichen Stücke eines Dinges oder die Hinlänglichkeit der Merkmale desselben der Coordination oder der Subordination nach, ist das Wesen (complexus notarum primitivarum) [...]
Bei dieser Erklärung müssen wir aber hier ganz und gar nicht an das Real- oder Natur-Wesen der Dinge denken, das wir überall nicht einzusehen vermögen. Denn da die Logik von allem Inhalte des Erkenntnisses, folglich auch von der Sache selbst abstrahirt: so kann in dieser Wissenschaft lediglich nur von dem logischen Wesen der Dinge die Rede sein. Und dieses können wir leicht einsehen. Denn dazu gehört weiter nichts als die Erkenntniß aller der Prädikate, in Ansehung deren ein Object durch seinen Begriff bestimmt ist; anstatt daß zum Real-Wesen des Dinges (esse rei) die Erkenntnis derjenigen Prädicate erfordert wird, von denen alles, was zu seinem Dasein gehört, als Bestimmungsgründen, abhängt. Wir wollen z.B. das logische Wesen des Körpers bestimmen: so haben wir gar nicht nöthig die Data hierzu in der Natur aufzusuchen; wie dürfen unsre Reflexion nur auf die Merkmale richten, die als wesentliche Stücke (constitutiva, rationes) den Grundbegriff desselben ursprünglich constituiren. Denn das logische Wesen ist ja selbst nichts anders als der erste Grundbegriff aller nothwendigen Merkmale eines Dinges (esse conceptus).“ (Logik AA, IX, 61)
Zum Verhältnis und Zusammenspiel von logischem, formalem (kategorialem, phänomenalem) und realem (materialem) Wesen im realen Verstandesgebrauch bietet Stuhlmann-Laeisz (Kants Logik 1976, 97—103) eine systematische Strukturierung. Auch Gram (The Crisis of Syntheticity: The Kant-Eberhard Controversy. In: Kant-Studien 71 (1980), 155—180) referiert die bereits von L.W. Beck korrekt aus den kantischen Texten destillierte Unterscheidung von drei Ebenen der Wesensbestimmung eines Objektes. Dieses kantische logische-reale-phänomenale Essenz-Tripel umfasst die (a) logische Essenz („constituents of a concept“: konstitutive Prädikate eines Begriffes), (b) reale Essenz („ultimate internal essence“, „not known at all“: „real nature of an object independently of possible human experience“) und (c) phänomenale (reale, apriorische) Essenz. Letztere besteht in allen Bedingungen möglicher Objekterfahrung, und ist Prinzip der synthetischen Attribute (Gram 1980, 161—162) De Jong: Kant’s Analytic Judgments and the Traditional Theory of Concepts. In: Journal of the History of Philosophy 33 (1995), 613—641, zeigt die Prädikabilientheorie der Tradition [= Formen der Prädikation: Genus – Spezies – Differenz – Proprium – Akzidens] als Horizont der kantischen Diskussion des logischen – formalen – realen Wesens. Kant stellt seine Anliegen und Kritiken in dieser Thematik so ausdrücklich wie nirgends sonst (aber implizit auch ansonsten, was bis Mitte des 20. Jh. meist übersehen wurde) in die traditionelle Problemstellung der Logik und Metaphysik und denkt in ihren klassischen Einteilungen und Konzepten. Dies für unseren in Rede stehenden Zusammenhang überzeugend deutlich gemacht zu haben, ist das Verdienst de Jongs. Für eine ausführlichere Darlegung vgl. meinen Systematischen Kommentar, Kap. 18.18 (335—343)
Synthesis der bestimmenden Urteilskraft
Die hier in Rede stehende kognitive Leistung ordnet Kant der transzendentalen bestimmenden Urteilskraft zu. Worin besteht diese Leistung? Was ist ihre Stellung im Zusammenhang der Logischen Referenz? Wo und wie wird sie in der Logik und Kognitionswissenschaft der Gegenwart verhandelt? Antworten auf diese Fragen haben auszugehen von der Einleitung zum zweiten Buch der transzendentalen Analytik „Die Analytik der Grundsätze“, betitelt: „Von der transzendentalen Urteilskraft überhaupt“ (B 171—172):
„Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln [= Urteile als Anwendung von Allgemeinbegriffen] erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft, und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert; so bleibt ihr nichts übrig, als das Geschäfte, die bloße Form der Erkenntnis in Begriffen, Urteilen und Schlüssen analytisch auseinander zu setzen, und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen.“
Dies ist genau die im Untermenu Logische Wahrheit herausgearbeitete methodische Abstraktion der Logik von direkter Referentialität bei gleichzeitiger indirekter Referentialität nach Ursprung und Anwendung, wenn die methodische Abstraktion aufgehoben wird. Außerdem:
„Wollte sie ... allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d.i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.“ (B 172)
Das heißt: Den Regeln (= Allgemeinbegriffen und ihrer Anwendung im Urteil) Anwendungskriterien verschaffen zu wollen in Form wieder einer oder mehrerer allgemeiner Regeln (= Allgemeinbegriffen) und ihrer Anwendung im Urteil, führt nicht zum referentiellen Herausgreifen der den Regeln entsprechenden Individuen, sondern in den unendlichen Regress. Daher: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“ (B 172 Anm.)
Aber: Auch wenn es keine Anwendungskriterien in Form wieder einer oder mehrerer allgemeiner Regeln für das referentielle Herausgreifen der den Regeln entsprechenden Individuen gibt, so gibt es doch allgemeine oberste oder axiomatische Regeln, d.h. Grundsätze – nicht für das referentielle Herausgreifen der den Regeln entsprechenden Individuen, sondern zur Fixierung der Randbedingungen bzw. des Umfangs des Objektbereichs, innerhalb dessen das referentielle Herausgreifen der den Regeln entsprechenden Individuen erfolgen muss. Dabei beziehen sich diese transzendentalen Grundsätze nicht auf empirische Regeln oder Begriffe, sondern nur auf die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien, und stecken deren Terrain bzw. Objektbereich ab. Insofern die Kategorien aber Bedingungen der Objekterkenntnis sind, stecken die transzendentalen Grundsätze zugleich indirekt auch für empirische Regeln oder Begriffe – global und allgemein – das Terrain ab. Allerdings entsteht bei den reinen Verstandesbegriffen, deren Ursprung kognitive Funktionen sind (nicht Reflexion und Abstraktion aus empirischem Material), das Problem, dass sie keine empirischen Korrelate haben, aus denen sie gewonnen wären, und mit denen sie kongruieren. Sie benötigen also eine Metamorphose in die raum-zeitliche Welt der Erfahrung, oder eine anschauliche Abbildung. Kant nennt diese Abbildung die Schematisierung. Somit ist das Programm der transzendentalen Urteilskraft klar:
„Diese transzendentale Doktrin der Urteilskraft wird nun zwei Hauptstücke enthalten: das erste, welches von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d.i. von dem Schematismus des reinen Verstandes; das zweite aber von denen synthetischen Urteilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Bedingungen a priori herfließen, und allen übrigen Erkenntnissen a priori zum Grunde liegen, d.i. von den Grundsätzen des reinen Verstandes.“ (B 175)
Empirische, mathematische und transzendentale Schemata
Kant geht in der Diskussion der Schemata von dem Grundsatz der notwendigen Gleichartigkeit oder Kongruenz zwischen Begriff und empirischen, anschaulichen Gegenständen aus – als Bedingung der Anwendung von Begriffen im realen Verstandesgebrauch: „In allen Subsumptionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letztern gleichartig sein, d.i. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird, denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten. So hat der empirische Begriff eines Tellers mit einem reinen geometrischen eines Zirkels [Kreis] Gleichartigkeit, indem die Rundung, die in dem ersteren gedacht wird, sich im letzteren anschauen läßt.“ (KrV B 176)
Die notwendige Gleichartigkeit ist – so Kant – bei empirischen oder realwissenschaftlichen Begriffen kein besonderes Problem. Dies wird an Kants Zirkelbeispiel deutlich. Allerdings finden nach Kant auch bei empirischen Begriffen wie hier dem Teller-Kreis-Beispiel Schemata Verwendung. Diese sind aber nicht transzendental, d.h. Schematisierungen reiner apriorischer Begriffe. Nichtkategoriale Schemata finden sich bei den (1) reinen sinnlichen Anschauungen und den ihnen entsprechenden Begriffen der Mathematik (z.B. Dreieck), sowie (2) empirischen Begriffen der Gegenstände der empirischen Wahrnehmung (z.B. Hund), wo sie „eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung, gemäß einem allgemeinen Begriffe“ sind: „Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein." (KrV B 180)
Anders steht es bei der „Frage ... wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können.“ (B 177) Dies lässt sich nur mit Hilfe einer „vermittelnde[n] Vorstellung“ verwirklichen, welche „rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein“ muß: „Eine solche ist das transzendentale Schema.“ Selbst dann „ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann“ (B 181), d.h. selbst der schematisierte Verstandesbegriff erlaubt noch keine direkte Anwendung auf Individuen bzw. deren individuelle mentale Repräsentationen, die Bilder! Diese Anwendung muss und kann nur indirekt über zusätzliche mathematische oder empirische Schemata laufen!
Die Typen der Schemate der Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe folgen logischerweise den Typen der Kategorien.
Dabei ist Kants Fazit – KrV B 184—185: „Die Schemate sind ... nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff.“ – Die bestimmende Urteilskraft leistet mithin nur und genau die „formale Zeitbedingung“ [KU B XXXII] als Nezessitierung der inhaltlich vorausgesetzten Objekte und Ereignisse, welche kognitiv durch begriffslogische Synthesen und Relationen erfasst und bestimmt sind. Sie ist eine reflexive Bewusstmachung bzgl. deren Positionierung und Sukzession im raum-zeitlichen Koordinatensystem, in der dynamischen Topologie eines identischen Subjektes oder Beobachters. Indirekt hängt diese Synthesis des Schematismus und der Grundsätze freilich auch vom Raum ab, wie die Argumentation in der „Widerlegung des Idealismus“ (KrV B 274—278) zum Abschluss der Analytik der Grundsätze massivst betont (vgl. Strawson a.a.O. 1966, 123—124, und Guyer: The Postulates of Empirical Thinking in General and the Refutation of Idealism (A218/B265—A235/B294). In: Mohr, G./Willaschek, M. (Hrsg.) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 297—324).
Hinsichtlich transzendentaler Schemata bzw. der kognitiven Zeitsynthesis akzentuiert Kitcher deren Erklärungswert für die Kognitionswissenschaft: „With the renaissance of interest in cognition, this issue has reemerged, sometimes under the name of the ‘binding’ problem. [...] Like synthesis, the binding problem has ubiquitous quality [...] Current work has focused on how information from different sensory modalities can be combined and on how different features within a modality can be combined. Kant emphasized the problem created by the temporal dimension of cognition [...] Although there may be as many different binding problems as there are features to be combined, the temporal issue seems fundamental [...] Thus, in insisting that the temporal character of cognitive life requires synthesis, and in ruling out the simple solution of spatiotemporal contiguity, Kant offers an abstract analysis of the task of representing objects, that is still useful in conceptualizing the problem to be solved.“ (Kitcher: Kant’s Transcendental Psychology, New York/Oxford 1990, 84—86, siehe auch 205—230)
Wichtige Orientierungen zum Thema finden sich ansonsten bei Pippin: The Schematism and Empirical Concepts. In: Kant-Studien 67 (1976), 156—171; Nolan: Kant on Meaning: Two Studies. In: Kant-Studien 70 (1979), 113—130; Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge (Mass.) 1987, 162—166; La Rocca: Schematismus und Anwendung. In: Kant-Studien 80 (1989), 129—154; Schönrich: Urteilskraft als Abduktion. In: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 1990, Bonn 1991, 723—741; Freuler: Schematismus und Deduktion in Kants Kritik der reinen Vernunft. In: Kant-Studien 82 (1991), 397—413; Pendlebury: Making Sense of Kant’s Schematism. In: Philosophy and Phenomenological Research 55 (1995), 777—797; Leiber: Kategorien, Schemata und empirische Begriffe: Kants Beitrag zur kognitiven Psychologie. In: Kant-Studien 87 (1996), 1—41. Einen Forschungsüberblick bietet Seel: Die Einleitung in die Analytik der Grundsätze, der Schematismus und die obersten Grundsätze (A130/B169—A158/B197). In: Mohr, G./Willaschek, M. (Hrsg.) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 217—246; sowie Natterer: Systematischer Kommentar, 387—398.
Synthetisch-apriorische Grundsätze
Wie das Nichtwiderspruchsprinzip das oberste Prinzip der analytischen Axiome ist, so gibt es in der kantischen Theorie der Erfahrung ein oberstes Prinzip aller synthetischen Urteile. Es ist Thema des Zweiten Abschnittes des Zweiten Hauptstücks der Analytik der Grundsätze System aller Grundsätze des reinen Verstandes, der übertitelt ist: Von dem obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile (KrV B 193). Letzterer lautet: „Das oberste Principium aller synthetischen Urteile ist also: ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung.“ (B 197) Konkret ist dies der synthetische Satz des zureichenden Grundes, welcher nicht nur – im engen Sinn – das erste, sondern auch – im weiten Sinn verstanden – das oberste Prinzip der synthetischen Sätze a priori ist. Vgl. Allgemeine Metaphysik L2 (AA XXVIII, 551): Das Prinzip des zureichenden Grundes als oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile ist der Grundsatz, der sich auf die Sinneserfahrung bezieht und diese ultimativ ordnet. Ebenso Allgemeine Metaphysik Volckmann (AA XXVIII, 408): Das Prinzip des zureichenden Grundes als oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile bezieht sich auf die Erfahrung und ist das Prinzip der Zeitordnung derselben. In Folge Anmerkungen zu den synthetisch-apriorischen Grundsätzen im Einzelnen. Diese sind die obersten Axiome des realen kategorialen Verstandesgebrauchs.
Grundsatz der Axiomen der Anschauung
Der Grundsatz der – geometrischen – Axiomen der Anschauung ist: „Alle Anschauungen sind extensive Größen“ (B 202) Begründung (B 202—203): „Alle Erscheinungen ... können also nicht anders apprehendiert ... werden, als durch die Synthesis des Mannigfaltigen, wodurch die Vorstellungen eines bestimmten Raumes oder Zeit erzeugt werden, d.i. durch die Zusammensetzung des Gleichartigen und das Bewußtsein der synthetischen Einheit dieses Mannigfaltigen (Gleichartigen).“ Eine aktuelle Zusammenfassung der Forschungssituation zu diesem Grundsatz bietet Klemme: Die Axiome der Anschauung und die Antizipationen der Wahrnehmung (A 158/B197—A176/B218). In: Mohr, G./Willaschek, M. (Hrsg.) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 247–266., bes. 252—255. Zur interdisziplinären Diskussion und systematischen Bewertung dieses und der anderen Grundsätze vgl. mein Systematischer Kommentar, Kap. 6.5, 7, 8, 12.1.2, 12.2, 18.10, 18.13, 21 sowie die Verifizierung der kantischen Kognitionstheorie als Metatheorie der interdisziplinären Kognitionswissenschaft (Kap. 30 bis 36).
Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung
Dieser Grundsatz lautet: „In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d.i. einen Grad.“ (B 207) Begründung (B 208): „Da nun Empfindung an sich gar keine objektive Vorstellung ist, und in ihr weder die Anschauung vom Raum, noch von der Zeit, angetroffen wird, so wird ihr zwar keine extensive, aber doch eine ... intensive Größe zukommen, welcher korrespondierend allen Objekten der Wahrnehmung, so fern diese Empfindung enthält, intensive Größe, d.i. ein Grad des Einflusses auf den Sinn, beigelegt werden muß.“
Das „Reale“ der Empfindung selbst ist nach B 182 die „transzendentale Materie aller Gegenstände als Dinge an sich (die Sachheit, Realität)“. Vgl. Maier: Kants Qualitätskategorien, Berlin 1930; Heidegger: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1962; Delfour: Une équivocité énigmatique dans le quatrième paralogisme de la „Critique de la raison pure“. In: Kant-Studien 88 (1997), 280—310, Westphal: Affinity, Idealism, and Naturalism: The Stability of Cinnabar and the Possibility of Experience. In: Kant-Studien 88 (1997), 139—189. Heiner Klemme (Die Axiome der Anschauung und die Antizipationen der Wahrnehmung (A 158/B197—A176/B218). In: Mohr /Willaschek (Hrsg.) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 259—264) erhebt daher hieraus und aus B 215—217 den korrekten Befund, dass das Reale eine „extramentale Realität“ (1998, 263) ist, die sich einer Affektion durch das Ding an sich verdankt. Gegenstand der Antizipationen ist daher die mathematische Psychophysik (1998, 264), insofern Farben, Töne etc. mathematische Verhältnisse bzw. Muster beinhalten (ebd.).
Zur theoretischen und experimentellen Bestätigungsfähigkeit dieser Ausführungen Folgendes: Der Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung stellt sich physikalisch und kognitionswissenschaftlich als der problematischste der Grundsätze heraus. Dies, weil Kant die intensive Größe als stufenloses Kontinuum, als „fließende“ oder „kontinuierliche“ charakterisiert. KrV B 211: „Die Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist, heißt die Kontinuität derselben.“ Für Cohen (Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1918, 538—558 u.ö.) und den Neukantianismus überhaupt nahm dieser Grundsatz – als Grundsatz der Infinitesimalrechnung bzw. der für die mathematische Physik absolut zentralen Differentialgleichungen – eine Schlüsselstellung ein. Dennoch kann dieser Grundsatz nur als Prinzip der mit mathematischer Idealiserung arbeitenden klassischen physikalischen Mechanik (Kinematik und Dynamik) akzeptiert werden. Er gilt nicht für die moderne Physik und nicht für die Psychophysik. So widerspricht ein stufenloses Kontinuum der Empfindungstärke von Null bis maximal in den Antizipationen der Wahrnehmung den experimentellen Befunden der Psychophysik, die variable Schwellenreizstärken und eine diskrete Folge von Reizintensitäten dokumentieren (vgl. Coren/Ward/Enns: Sensation and Perception, 4. Aufl. Fort Worth / Philadelphia / San Diego et al. 1994, 19—63). Diese Einschränkungen waren auch und im Übrigen Cohen sehr wohl bewusst, der bei den Antizipationen eine Vermengung von logisch-mathematischer und physikalisch-realer Ebene beanstandete (Cohen 1918, 518—637, v.a. 544—545).
Büchel: Geometrie und Philosophie, Berlin/New York 1987, bietet eine fachübergreifende Monographie zur kantischen Philosophie der Mathematik. Diese macht – so Büchel – in den Antizipationen der Wahrnehmung die Infinitesimalrechnung als Mathematisierbarkeit intensiver Größen zum Gegenstand (1987, 24—30, 264). Die Anwendung der mathematischen Analysis in der physikalischen Kinematik (Phoronomie), Dynamik und Mechanik thematisiere sodann Kants Metaphysische Anfangsgründe der mathematischen Naturwissenschaft. Büchel macht somit die These plausibel, dass Kant sich mit der mathematischen Analysis, also der Integral- und Differentialrechnung und ihren Grundlagen, sehr wohl systematisch auseinandergesetzt hat. Dies war bereits die zentrale These der Interpretation von Cohen (1918), wurde und wird aber immer wieder bestritten.
Grundsatz der Analogien der Erfahrung
Der Grundsatz der Analogien der Erfahrung lautet: „Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich.“ (B 218)
1. Analogie: „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz: Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.“ (B 224) Mit der Aussage „Das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert“ meint Kant, wie seine Beispiele (vgl. B 228: Holz-Asche-Transformation) zeigen, weder die quantitative, extensive noch die qualitative, intensive wahrnehmbare Größe, sondern „die Materie (Substanz)“, die offensichtlich als identisch mit dem nicht erkennbaren Substrat oder Substantiale zu denken ist. Dies entspricht den Charakteristiken der substantiellen Materie (materia prima) in der Tradition (Aristoteles, Thomas Aquinas): unbestimmt identisches Substrat (substratum) und Beharrliches (continuum). Die Aussage „Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz“ muss sich andererseits auch auf die durch den Subjektbegriff identifizierte intelligible Struktur beziehen, also auf die substantielle Form (forma substantialis) der Tradition. Ansonsten könnte ein Objekt als sich durchhaltende Substanz überhaupt nicht identifiziert und in der Raum-Zeit-Topologie verfolgt werden.
Siehe hierzu die einschlägigen Analysen Strawsons (a.a.O. 1966, 84—85, 125—132) zum Subjektbegriff als Identifikator und Referenzpunkt der Substanz im physikalischen und phänomenalen Sinn. Strawson sieht in diesem Sinn in der 1. Analogie ein am kantischen Text belegbares Zusammenspiel dieser sowie drei weiterer Bedeutungen des Terms 'Substanz'. Der so verstandene Grundsatz antwortete dann auch auf die Frage nach dem Kriterium der Identität von Individuen. Dazu diese Evaluation der kantischen Theorie auf dem Hintergrund der logischen Grundlagendiskussion der Gegenwart:
Ein Beleg für das Hereinspielen unterschiedlicher Bedeutungen ist auch Allgemeine Metaphysik L2 (AA XXVIII, 559): „Das Wort Wesen [wird] im zweifachen Sinne genommen ... In dem ersten Sinne bedeutet es Substanz, so nahm es schon Aristoteles an, wenn er sagte: die Substanzen sind unveränderlich. In der Ontologie ist aber von einem Wesen in diesem Verstande nicht die Rede, sondern nur von dem ersten Begriffe, den ich mir vom Dinge mache.“ Der Text ist freilich unscharf, da Substanz bei Aristoteles substantielle Materie (hyle) und substantielle Form und Entelechie (eidos, morphe) ist. Letzteres wird von Aristoteles und der aristotelischen Tradition (und von Kant, s.o.) auch als essentieller Begriffskern angesprochen. Kant meint andererseits mit dem ontologischen 'ersten Begriff eines Dinges' hier offensichtlich den formalen Minimalsinn von Ding oder ens — nämlich den abstrakten, transzendentalen Begriff des Gegenstandes überhaupt.
Kant ist bei der ersten Analogie nicht sehr präzise, spricht aber summa summarum doch alle hereinspielnden Aspekte des Begriffs 'Substanz' an, indem er, so Strawson, das Thema gleichzeitig auf vier verschiedenen Bühnen in vier unterschiedlichen Bearbeitungen präsentiert. Das wird vollends klar, wenn man die 2. und die 3. Analogie hinzunimmt. In der 2. Analogie wird als sicheres Kriterium des Vorliegens einer Substanz die Feststellung von Kraft und Handlung (modern: Agenskausalität) genannt (B 245—252). Agenskausalität ist aber seit Platon und Aristoteles geradezu die Quintessenz substantieller Form und Entelechie, und nicht des materiellen Substrates (Meixner: Theorie der Kausalität, Paderborn 2001, 320—361).
In der 3. Analogie schließlich heißt es axiomatisch: "Alle Substanzen" müssen "im Raume als zugleich wahrgenommen werden können", wenn sie interagieren. Das heißt wiederum: Substanzen sind sensorisch und begrifflich unterschiedene und identifizierbare Objekte resp. Subjekte. Wenn in der neuesten Literatur die Diskussion darum kreist, ob Kants Substanzbegriff hier die Kategorie oder das Schema der Substanz oder beides meint, ist das nicht nur hoffnungslos simplifizierend, sondern verfehlt geradezu die besonders wichtigen Konnotationen. Das ist eine Ausstellung, die man auch an der aktuellen und ansonsten sehr instruktiven Spezialuntersuchung von A. Hahmann machen kann: Kritische Metaphysik der Substanz. Kant im Widerspruch zu Leibniz, Berlin / New York 2009. Die multiple Konnotation des Substanzkonzept Kants wird in der Literatur thematisiert bei Thomas Scheffer: Kants Kriterium der Wahrheit, Berlin / New York 1993, v.a. 228—229; sowie bei Eric Watkins: Kant’s Third Analogy of Experience. In: Kant-Studien 88 (1997), 406—441 und v.a. derselbe: Kant and the Metaphysics of Causality, Cambridge 2005.
2. Analogie: „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität: Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.“ (B 232) Die Kernargumentation liegt in folgender Passage: „Jede Apprehension einer Begebenheit ist ... eine Wahrnehmung, welche auf eine andere folgt. [...] Allein ich bemerke ...: daß, wenn ich an einer Erscheinung, welche ein Geschehen enthält, den vorhergehenden Zustand der Wahrnehmung A, den folgenden aber B nenne, daß B auf A in der Apprehension nur folgen, die Wahrnehmung A aber auf B nicht folgen, sondern nur vorhergehen kann. Ich sehe z.B. ein Schiff den Strom hinab treiben. Meine Wahrnehmung seiner Stelle unterhalb, folgt auf die Wahrnehmung der Stelle desselben oberhalb dem Laufe des Flusses, und es ist unmöglich, daß in der Apprehension dieser Erscheinung das Schiff zuerst unterhalb, nachher aber oberhalb des Stromes wahrgenommen werden sollte. Die Ordnung in der Folge der Wahrnehmungen in der Apprehension ist hier also bestimmt, und an dieselbe ist die letztere gebunden [...] Ich werde also, in unserem Fall, die subjektive Folge der Apprehension von der objektiven Folge der Erscheinungen ableiten müssen [...] nach welcher die Apprehension des einen (was geschieht) auf die des andern (das vorhergeht) nach einer Regel folgt.“ (KrV B 237—238)
Dies bedeutet, dass der Grundsatz der Kausalität aus objektiven ontologischen Wahrnehmungssequenzen begründet wird. Wir haben hier eine Rückbindung der Kognition an empirische Formen und Gesetze wie in der empirischen Wahrnehmungsorganisation und objektiven Konzeptlogik. Diese Rückbindung gilt für alle Analogien der Erfahrung, ja macht ihr Wesen aus. McDowell (Mind and World, Harvard 1994, 288—294) formuliert daher treffend als Quintessenz der drei Analogien der Erfahrung: „Man muss im Raume zwischen objektiv temporalem und objektiv-räumlichem Wechsel unterscheiden können“ (1994, 289). Diese ontologische Rückbindung ist der subjektunabhängige Rahmen für das „physiologische[s], d.i. ... Natursystem“ der Grundsätze, „welches vor aller empirischen Naturerkenntnis vorhergeht“ und „diese zuerst möglich macht“. Vgl. Prolegomena, § 23 (AA IV, 306): „Die Grundsätze möglicher Erfahrung sind nun zugleich allgemeine Gesetze der Natur, welche a priori erkannt werden können." Eine Skizze der umfangreichen Forschungsliteratur zur 2. Analogie der Erfahrung bietet mein Systematischer Kommentar, 409—416.
3. Analogie:„Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft: Alle Substanzen, so fern sie im Raume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung.“ (B 256) Kriterien der Gleichzeitigkeit sind:
(1) Temporale Ungerichtetheit der Synthesis der Apprehension (B 258), sonst ist keine Unterscheidung der Wechselwirkung von kausaler Linearität möglich.
(2) Gemeinsamer Erfahrungshorizont, sonst erfolgt eine Desintegration von Wahrnehmung und Kognition zu beziehungslos existierenden Erscheinungen als Wahrnehmungsfetzen oder -atomen (B 258—259).
(3) Dynamische Koexistenz als wechselseitiger ursächlicher Einfluss ist epistemische Bedingung des gemeinsamen Erfahrungshorizontes als „lokale ... communio spatii“ (B 260).
(4) Die dynamische Koexistenz muss objektiv, unabhängig und unbeeinflussbar von der sukzessiven subjektiven Synthesis der Apprehension des Subjektes sein: als objektive „Gemeinschaft (communio) der Apperzeption“ (B 261). Nur durch diese subjektunabhängige „reale Gemeinschaft (commercium) der Substanzen“ (B 261) ist die Objektivität der Gleichzeitigkeit garantiert.
Aktuelle Interpretationen bieten Watkins: Kant’s Third Analogy of Experience. In: Kant-Studien 88 (1997), 406—441; Morrison: Community and Coexistence: Kant’s Third Analogy of Experience. In: Kant-Studien 89 (1998), 257—277; Edwards: Substance, Force, and the Possibility of Knowledge. On Kant’s Philosophy of Material Nature, Berkeley / Los Angeles / London 2000; Longuenesse: Logical Functions and the World-Whole. In: Fulda, H. F./Stolzenberg, J. (Hrsg.): Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001, 171—192.
Postulate des empirischen Denkens
Die Kategorien der Modalität und die ihnen entsprechenden Postulate haben einen metatheoretischen Sonderstatus. In Kants Worten: „Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich: daß sie den Begriff, dem sie als Prädikate beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Wenn der Begriff eines Dinges schon ganz vollständig ist, so kann ich doch noch von diesem Gegenstande fragen, ob er bloß möglich, oder auch wirklich, oder, wenn er das letztere ist, ob er gar auch notwendig sei?“ (KrV B 266). Hier die einzelnen Postulate:
1. Postulat: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.“ (KrV B 265) Die formalen Bedingungen sind sowohl die formallogischen wie die transzendentallogischen: Die „Möglichkeit ist nichts als die Übereinstimmung des Dings mit den Bedingungen des Denkens. Die Bedingungen sind analytisch oder synthetisch“ (Allgemeine Metaphysik Mrongovius (AA XXIX, 821).
2. Postulat: „Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich.“ (KrV B 266) Dieses Postulat kann in dem einzigen Satz zusammengefasst werden: „Die Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit“ (KrV B 273). Dieser Wirklichkeitsbezug kann unmittelbar sein, in der Wahrnehmung, oder mittelbar, erschlossen „nach den Analogien der Erfahrung“ (B 272), so bei Realitäten außerhalb unserer Sensorien wie dem Magnetismus oder den atomaren Mikrostrukturen der Erfahrungswirklichkeit (B 273).
In diesem Zusammenhang steht der in der 2. Auflage der KrV neu hinzugekommene wichtige Text der „Widerlegung des Idealismus“. Kant formuliert hierzu diesen Lehrsatz (B 275): „Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.“ Für eine Diskussion des Beweises des Satzes vgl. Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge (Mass.) 1987, 219—329 und 333—415, Klotz: Kants Widerlegung des Problematischen Idealismus, Göttingen 1993, Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, Berlin/New York 1998, sowie meinen Systematischen Kommentar, 419—422.
3. Postulat: „Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) notwendig.“ (KrV B 266) Dieses Postulat meint nur eine komparative, relative Notwendigkeit „nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung“ (B 279), also relativ zum notwendigen synthetischen Einheitszusammenhang der Analogien der Erfahrung. Einkleidungen und Konkretisierungen dieser Notwendigkeit sind „diese vier Sätze“, nämlich: „In mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum“ (B 282). Zur absoluten Ebene sagt Kant: „Die absolute Möglichkeit (die in aller Absicht gültig ist)“ ist „kein bloßer Verstandesbegriff und kann auf keinerlei Weise von empirischem Gebrauche sein, sondern er gehört allein der Vernunft zu, die über allen möglichen empirischen Verstandesgebrauch hinausgeht.“ (B 285).