Das Menu "Biologische Psychologie" ist auch als Buch erhältlich.Es bildet Teil I von Natterer, Paul: Philosophie des Geistes. Mit einem systematischen Abriss zur Biologischen Psychologie und zur Kognitionswissenschaft [= Edition novum studium generale 5] , Norderstedt 2011, 13—103. Mit vier Farbabbildungen. Verkaufspreis 29,90 € [ISBN 978-3-8423-4566-9].
Der Band integriert, wie der Titel sagt, auch die Menus "Grundriss der Kognitionswissenschaft" und "Hauptvertreter der aktuellen Philosophie des Geistes".
Vorbemerkungen zur Biologischen Psychologie
Zur Biologischen Psychologie folgende methodologische Vorbemerkung. Unter diesem Namen verstehen wir die interdisziplinäre Forschung über die Beziehungen zwischen Gehirn und Verhalten. Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. entstand sie auf der Grundlage der Neurophysiologie oder physiologischen Psychologie: „Es existieren eine Reihe von anderen Bezeichnungen zur Beschreibung der Aufgabe der Physiologischen Psychologie, z.B. Psychobiologie und Verhaltensneurowissenschaft (behavioral neuroscience). In Erweiterung dieses Ansatzes erforscht die Biologische Psychologie die Zusammenhänge zwischen biologischen Prozessen und Verhalten“ (Birbaumer/Schmidt: Biologische Psychologie, 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York et al. 1996, 3) Ihre wichtigsten Teildisziplinen sind Physiologische Psychologie, Neuropsychologie und Psychophysiologie.
Auf der Grundlage und im Rahmen der Biologischen Psychologie integriert dieses Menu auch Ergebnisse der angrenzenden und sich oft überlappenden Fächer der Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie und Neuroinformatik sowie des übergreifenden Paradigmas der Kognitionswissenschaft.
Es ist meine Überzeugung, dass Erkenntnistheoretiker aus dieser systematischen Aufbereitung des interdisziplinären Datenmaterials Gewinn ziehen können. Philosophen sollten sich kompetent über die Ergebnisse der Realwissenschaften orientieren, soweit sie für ihre Arbeitsschwerpunkte einschlägig sind. Für die aristotelische Kognitionstheorie, den englischen Empirismus und den kantischen Kritizismus habe ich eine interdisziplinäre Auswertung im Horizont der Gegenwart selbst geleistet und auf dieser Netzpräsenz verarbeitet. Darüber hinaus gilt das Gesagte insbesondere für Phänomenologen der husserlschen Tradition. Denn Kernthemen der Phänomenologie sind das Bewusstseinsfeld in sich und in Beziehung zur Lebenswelt, die Rekonstruktion der Genese der Kognition, ihrer immanenten Gesetze sowie intentionalen Leistungen und Produkte, die in der Biologischen Psychologie unter dem Titel mentale Repräsentationen erforscht werden.
Das Menu Biologische Psychologie enthält insgesamt 22 Textbausteine in Form hochgeladener Verknüpfungen. Sie sind durchnummeriert von N [= Neurowissenschaft] 1 bis N 22, und enthalten inhaltlich abgeschlossene Einzelthemen zur Sache. Es handelt sich dabei um Seminar-Skripte meines universitären Kurses Kognitionswissenschaft. Eine ausführlichere Behandlung dieser Themen findet sich in Teil II meines Systematischen Kommentars zur Kritik der reinen Vernunft von 2003. Weiterführende Literatur zu den einzelnen Themen können Interessierte diesem Überblick über die Kognitionswissenschaft entnehmen.
Der Maschinencode: Das Neuronenuniversum
Das biologische Neuronenuniversum des Gehirns ist die Rechnerplattform des vorbewussten und bewussten Universums der Wahrnehmung, der Vorstellung, des Denkens; von Fühlen, Antrieb, und Handeln. Seine Sprache ist der Maschinencode von Wahrnehmung, Bewusstsein usw. Dieses Neuronenuniversum ist v.a. im zentralen Nervensystem (ZNS) oder Gehirn verkörpert, und hier noch einmal speziell in der 1,5 m2 großen und 2 mm tiefen Großhirnrinde (Kortex). Das Neuronenuniversum des zentralen Nervensystems umfasst 100 Milliarden Neuronen mit 100—1000 unterschiedlichen Typen oder Klassen von Neuronen und etwa 100 Billionen Verbindungen oder Anschlüssen.
Das Neuronenuniversum ist ein Teilsystem der menschlichen Verhaltenssteuerung. Diese erfolgt langsam (im Minuten- bis Stundenbereich) über das Endokrine System (Hormonsystem), und schnell (im Millisekundenbereich) über das Nervensystem. Beide Systeme arbeiten direkt zusammen, insofern das ZNS auch Hormone produziert und abgibt. Das Endokrine System arbeitet auf der Basis chemischer Botenstoffe, den Hormonen und zugeordneten Empfangsschleusen (Hormonrezeptoren) in den Zellen und an den Zellkernen (Beeinflussung der Zellsteuerung und -produktion) oder auch außerhalb der Zellen. Es wird durch biologische Regelkreise kontrolliert.
Das Nervensystem andererseits umfasst zum einen das sog. Periphere Nervensystem, d.h. das vegetative oder autonome Nervensystem (innere Regelsysteme des Sympathikus und Parasympathikus), und das sog. animalische Nervensystem (Sinneswahrnehmung und Muskelsteuerung: Sensomotorik). Zum anderen umfasst das Nervensystem das Zentrale Nervensystem (ZNS: Rückenmark und Gehirn). Das Gehirn unterteilt sich in das Rautenhirn (Stammhirn), Mittelhirn und Vorderhirn. Das Rautenhirn teilt sich noch einmal in das Nachhirn, eine Verlängerung des Rückenmarks (Herz-Atmungs-Kontrolle und Wach-Schlaf-Zentrum) und das Hinterhirn mit dem Kleinhirn. Im Vorderhirn unterscheidet man noch einmal das Zwischenhirn im Schädelinneren und das sich in Schichten darüberlagernde Endhirn. Den Aufbau und die Arbeitsweise des Nervensystems und seiner Elemente, der Neuronen, beschreibt folgendes Skript:
N1_Zellarchitektur_und_Physiologie.pdf
Schnittstellen: Psychophysik
Die Schnittstellen zwischen dem Universum der Physik (siehe Menu Ontologie und Menu Philosophie der Physik) und dem Neuronenuniversum sind unsere Sensoren und Motoren (Effektoren). Sensoren sind unsere Sinnesorgane, die Energie und Information aus dem Universum der Physik aufnehmen. Motoren sind die Muskeln, speziell die Willkürmotorik, die Energie und Information an das Universum der Physik abgeben, etwa durch Meißeln oder Sprechen. Menschen sind nun in besonderer Weise „Augentiere“. Die Augen sind unsere wichtigsten Sensoren. Fledermäuse und Delphine etwa sind dagegen akustisch orientiert: „Hörer“; Wühlmäuse und Maulwürfe sind wiederum „Taster“. Unser wichtigstes Fenster zur Welt ist das Sehen, die visuelle Wahrnehmung. Es ist auch die wichtigste anschauliche Basis für Denken und Sprechen. Exemplarisch sind hierfür die ersten Sätze von Aristoteles’ Metaphysik:
„Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns sondern auch wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen andern vor. Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.“ (Aristoteles’ Metaphysik, A 1; 980,a 21—27. Zitiert nach Aristoteles: Metaphysik [griech.-dt.] / in d. neubearb. Übers. von Herrmann Bonitz. Mit Einl. u. Kommentar hrsg. von Horst Seidl, Hamburg (1978)
Der Gesichtsinn ist also der insgesamt leistungsstärkste Sensor des Menschen, auch wenn der menschliche Tastsinn ähnlich leistungsstark ist: Vgl. dazu Aristoteles, De anima, 421 a 20—30: „Tasten ... ist beim Menschen das allergenaueste [Organ]. Denn in den anderen Organen bleibt er hinter vielen Tieren zurück, im Tastsinn ist er aber unvergleichlich viel genauer als die anderen.“
Auge, Sehen, Licht sind darüber hinaus Bilder und Analogien (Metaphern) für Geist, Erkennen, Wissen. Man sagt etwa: im Licht der Vernunft oder mit dem inneren Auge ein Problem von allen Seiten an-sehen, ins Licht stellen, aus-leuchten und ein-sehen.
Es verwundert daher nicht, dass auch die Neurowissenschaft oder Gehirnforschung hier ansetzt „weil wir Menschen sehr augenorientiert sind“ (Crick/Koch: Das Problem des Bewußtseins. In: Spektrum der Wissenschaft 11, 1992, 144). Die Wahrnehmungs-Psychologie konzentriert sich gleichfalls hierauf, „weil bestimmte Sinneserfahrungen nur oder überwiegend visuell erfaßt werden...“ und „die visuelle Wahrnehmung im Mittelpunkt verschiedener Grundsatzdiskussionen zur Wahrnehmungstheorie“ stand (Rock: Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen, Heidelberg 1985, Vorwort).
Wir erörtern daher die Schnittstellen zwischen unserem lebenden, biologischen Organismus und der aus Information und Energie bestehenden physikalischen Umwelt ebenfalls schwerpunktmäßig am Modell der visuellen Wahrnehmung. Die hier zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen sind die objektive Sinnnesphysiologie, welche die biologische Struktur und das objektive biologische Funktionieren der Sinne untersucht; die Wahrnehmungspsychologie, welche die subjektive Empfindung und ihre Qualitäten zum Inhalt hat; sowie die Psychophysik, welche die Beziehungen zwischen der objektiven Sinnesphysiologie und der subjektiven Wahrnehmung zum Gegenstand hat. Dazu finden Sie hier den Skript-Baustein:
Ein- und Ausgabegeräte: Sinnessysteme und Willkürmotorik
Der physikalische Reiz in der visuellen Wahrnehmung sind Lichtwellen als elektromagnetische Strahlung im Amplitudenbereich von 380 Nanometer—760 Nanometer und im Frequenzbereich von 3 ×1014 Hertz. Der beste technische Vergleich für das biologische Auge ist eine Videokamera, welche simultan 10 unterschiedlich definierte Videomitschnitte aufzuzeichnen in der Lage ist. Der Bauplan des Auges kann durch folgende Aufzählung in Erinnerung gerufen werden. Hinter einem Objektiv (Hornhaut) als zweiter Linse mit einer Normaleinstellung auf kleiner/gleich 10 m liegt die vordere Augenkammer, dahinter die Linse, die ein umgekehrtes und stark verkleinertes Bild der Umwelt liefert. Das Auge hat ein optisches Auflösungsmaximum im Endpunkt der Sehachse (Gelber Fleck), eine automatische Blende (Iris) mittels Änderung der Pupillenweite und eine automatische Nahscharfeinstellung (Akkomodation) durch Erhöhung der Brechkraft der Linse mittels einer speziellen Feinmotorik (Ziliarmuskulatur).
Die Abbildung erfolgt auf die Projektionsfläche der Netzhaut (Retina), ein neuronales Netzwerk lichtempfindlicher Sensoren (Photorezeptoren). Die Photorezeptoren in der Augennetzhaut gehören vier Typen an: Stäbchen für Dämmerungssehen (115 Mio je Auge) und 3 Zäpfchentypen für Helligkeits- und Farbwahrnehmung (6 Mio je Auge). (Daneben existieren Sensoren für den Tag-Nacht-Rhytmus, welche an der vorbewussten Steuerung des Schlaf-Wach-Zustandes beteiligt sind.) Die Übersetzung von physikalischer Energie oder Lichtintensitäten und -frequenzen in elektrochemische Signale (Erregungsmuster der Neuronen) heißt Transduktion. Die so entstehenden ersten elektrochemischen Potentiale in den Sensoren (Sensorpotentiale) werden in einem zweiten Schritt durch chemische Überträgerstoffe an nachgeschaltete Sensoren (Bipolarzellen, Horizontalzellen usw., siehe in Folge) im lokalen Netzwerk der Netzhaut weitergeleitet, wobei zunächst nur langsame, örtlich begrenzte Potentiale aufgebaut werden. Die Signalübertragung in der Netzhaut verläuft sowohl konvergent oder zentripetal (in den sog. Bipolarzellen) als auch divergent oder lateral (in den sog. Horizontalzellen und Amakrinen).
Die Bipolarzellen sammeln die Impulse vieler Photorezeptoren und senden ihre Daten weiter an die sogenannten Ganglienzellen in der Netzhaut. Diese bündeln wieder die Impulse vieler Bipolarzellen.Ganglienzellen existieren in zwei Typen, die sich auch auf den folgenden Verarbeitungsstufen finden: Große Y-Zellen (Bei Primaten: M-Zellen = Magno-Zellen oder nach der Form Schirmzellen) mit großem rezeptivem Feld. Ihre Aufgaben sind die (1) Bewegungsidentifizierung, (2) zeitliche Analyse und (3) Tiefenwahrnehmung. Sie weisen eine schnelle Adapation auf, d.h. eine vorübergehende, nur bei Reizbeginn erfolgende Reaktion, sowie eine hohe Kontrastempfindlichkeit. X-Zellen sind mengenmäßig geringer als der andere Typ, die kleinen X-Zellen (bei Primaten: P-Zellen = Parvo-Zellen oder Zwergzellen) mit kleinem rezeptivem Feld. Ihre Aufgaben sind die (1) genaue Formanalyse, (2) die räumliche Analyse und (3) das Farbensehen. Sie zeigen keine Adapatation, sondern eine Dauerreaktion, solange der Reiz anhält, und weisen eine geringe Kontrastempfindlichkeit auf.
Die Helligkeitswahrnehmung variiert entlang drei Dimensionen der elektromagnetischen Energie (Licht): (1) Intensität — (2) Wellenlänge — (3) Dauer. Die Begrifflichkeit in der Lichtmessung (Photometrie) ist von verwirrender Komplexität. In Folge verwenden wir das SI-System. Hierzu kann das Skript N3. Helligkeit & Farbe eingesehen werden:
N3. Helligkeit & Farbwahrnehmung.pdf
Die etwa 1 Million Ganglienzellen je Auge bilden die Module oder rezeptiven Felder, auf die sich die weitere Informationsverarbeitung im Gehirn, in Sehbahn und Sehrinde, bezieht. Die Datenübertragung zwischen der Augennetzhaut an der Kopfvorderseite und dem Sehzentrum des Gehirns am Hinterkopf erfolgt über „Verbindungskabel“, die Sehnerven genannt werden. Sie bestehen aus den je 1 Million Axonen der Ganglienzellen. Die Sehnerven beider Augen laufen dabei an der Schädelbasis aufeinander zu und tauschen in der sogenannten Sehkreuzung (Chiasma opticum) etwa die Hälfte der Fasern aus, sodass die linken Gesichtshälften beider Augen zur rechten Gehirnhälfte führen und umgekehrt. [Schema rechts: Basalansicht des Gehirns von unten: Das Sehzentrum im Hinterhaupt- oder Okzipitallappen der Großhirnrinde befindet sich am unteren Bildrand (blau)]
Nach der Sehkreuzung erfolgt im Bereich des Sehhügels (Thalamus) eine weitere Aufspaltung der Sehbahn in zwei Pfade. Der Thalamus im Vorderhirn ist die Relaisstation oder das Tor der sensorischen Informationen zur Großhirnrinde (Kortex). Er spielt eine zentrale Rolle bei der Steuerung der Aufmerksamkeit für Wahrnehmungseindrücke und motorisches Verhalten. Darüber hinaus ist er mit dem Trägersystem für Triebe und Gefühle im Gehirn (Limbisches System) kurzgeschlossen. Im Bereich dieses Thalamus oder deutsch: Sehhügels erfolgt nun eine Trennung der Sehbahn in einen ersten (Haupt-)Pfad, der zum Sehzentrum der Großhirnrinde führt. Er enthält v.a. X-Zellen mit sechs abwechselnd vom linken und rechten Auge kommenden Zellschichten in Form stetig maßstabsvergrößerter und dynamisch aktualisierter Karten des Gesichtsfeldes. Die Projektion ist nichtlinear, insofern das Verhältnis von Netzhautzentrum und Netzhautrandgebieten 1:1 ist, also Objekte in Bildmitte im Vergleich zur Umgebung sehr stark vergrößert abgebildet werden. Auf diesem Pfad erfolgt eine differenzierte Analyse, Organisation und Klassifikation von Mustern und Farben, allerdings jeweils nur für ein Auge.
Der zweite Pfad führt zum Mittelhirn und zum Hirnstamm, wo ein genetisch altes Sehzentrum für die Koordination des nicht willkürlichen sensomotorischen Zusammenspiels liegt; von da führt dieser Pfad dann erst zum Sehzentrum der Großhirnrinde. Dieser Pfad enthält nur Y-Zellen. Hier erfolgt die Integration verschiedener sensorischer Merkmale, die Raum- und Bewegungs-Koordination, die Lokalisierung von Gegenständen und die grobe Mustererkennung.
Im Thalamusbereich tritt zum ersten Mal und unübersehbar der konzeptgesteuerte [top-down-]Informationsverarbeitungs-Prozess zur bisherigen allein datengesteuerten oder [bottom-up-]Verarbeitungsrichtung. Letztere ist durch Vorwärts-Projektionen (feed forward projections) gekennzeichnet. Ersterer zeigt sich in Rück-Projektionen (feedback projections) aus dem Großhirn, deren Anteil am gesamten Dateneingang dieses Systems auf 80% geschätzt wird! Beide Prozessrichtungen sind von nun an dauernd und massiv verschmolzen.
Bevor wir die weitere Informationsverarbeitung im Gehirn verfolgen, hier ein Überblick über die Methoden, durch welche unser Wissen über den Aufbau des Neuronenuniversums und seine Funktionsweise gewonnen wurde. Sie lassen sich in elektrische, magnetische und radiologische Verfahren unterscheiden. Diese erklärt der Skript-Baustein N4. Experimentelle Methoden:
N4. Experimentelle Methoden.pdf
Die Zentraleinheit: Das Gehirn
Wir haben gesagt: Die Daten der optischen Sensoren (Augen) werden über das „Verbindungskabel“ der Sehbahn in das Sehzentrum (Sehrinde) im Hinterhauptbereich übertragen. Sie gelangen zunächst in das sog. primäre Sehzentrum mit sechs horizontalen Zellschichten, auch Area 17 bzw. V1 genannt. Anschließend erfolgt die Weiterverarbeitung im sogenannten sekundären Sehzentrum, auch Area 18 + 19 oder V2 + V3 genannt. Hier erfolgt eine aufeinander folgende, stetig komplexere und großräumigere Informationsanalyse und -organisation durch hintereinandergeschaltete einfache Zellen (V1: orientierungsspezifische und positionsspezifische Reize), komplexe Zellen (V1 und V2: orientierungs- und bewegungsspezifische und z.T. richtungsspezifische Reize) und hyperkomplexe Zellen (v.a. V3: orientierungsspezifisch, bewegungsspezifisch, richtungsspezifisch und größen- und formspezifisch). Letztere sind meist sogenannte Pyramiden- und Sternzellen. [Bild oben: PET-Aufnahme eines normal funktionierenden Gehirns]
V1 und V2 sind ein globales Verteilerzentrum an weitere spezifische Untersysteme (V3—V6). In V2 erfolgt darüber hinaus bereits die statische Gestalterkennung durch farbspezifische, bewegungsspezifische und formspezifische Verarbeitung der sensorischen Information. In V3 erfolgt v.a. die Verarbeitung dynamischer Formen, d.h. zusammenhängend bewegter Konturen oder Gestalten. In V4 liegt der Schwerpunkt auf der farbspezifischen Objekterkennung anhand Farbkontrasten und charakteristischen Oberflächenfarben. In höherer Abstraktion verarbeitet V5 Bewegung und V6 Gestalten. Alle diese Verarbeitungsschritte verwenden immer noch das primitive maßstabsverzerrte Display bzw. Karte der Augennetzhaut. Man nennt dieses Koordinatensystem retinotop (von lat: retina = Netzhaut + topologia = Ortsbeschreibung). Eine vollständige Auflistung der unterschiedlichen neuronalen Merkmalsdetektoren bietet dieser Skript-Baustein:
Auf dem primären und dem sekundären Sehzentrum baut das tertiäre Sehzentrum auf. Dazu folgender Hintergrund: Im ZNS werden (1) sensorische, (2) motorische, (3) emotionale (limbische) Zentren unterschieden. Die hintere Hälfte des Großhirns analysiert und synthetisiert den sensorischen Dateneingang (sensorischer Kortex), die vordere Hälfte (motorischer Kortex) ist zuständig für Handlungsantrieb, Verhaltenssteuerung, Bewegungskontrolle. Der limbische Bereich liegt wie ein Saum an und unter der Großhirnrinde (Kortex). Jedes dieser drei Zentren ist noch einmal untergliedert in primäre — sekundäre — tertiäre Areale. Sowohl der motorische wie die sensorischen (visuellen — sensomotorischen — auditiven) als auch die affektiven (sogenannten limbischen) Areale sind somit gegliedert in (1) primäre, (2) sekundäre oder übergeordnete und (3) tertiäre oder assoziative Zentren (Assoziations- und Integrationsregionen) im Scheitel- und Schläfenbereich des Gehirns. Diese tertiären Zentren weisen wie die anderen beiden auch eine nochmalige Binnengliederung in teils untergeordnete, teils koordinierte teils wechselwirkende Areale auf. [Schema oben: Seitliche, laterale Sicht auf das Gehirn. Der motorische Kortex mit Sprachproduktion und Zeitorganisation befindet sich im Stirn- oder Frontallappen (gelb). Der sensorische Kortex belegt den zentralen und hinteren Bereich mit der visuellen Wahrnehmung im Okzipitallappen (blau), der auditorisch/sprachlichen Wahrnehmung in den Schläfen- oder Temporallappen (grün) und der somatosensorischen (Tast-)Wahrnehmung und räumlichen Wahrnehmungsorganisation im Scheitel- oder Parietallappen (rot)]
Die tertiären Zentren heißen deswegen auch der Assoziationskortex, da sie neben der weitergehenden Abstraktion und Integration immer komplizierterer und großräumigerer Merkmale innerhalb desselben Sinns auch gemischte Zellverbände enthalten, die Daten aus mehreren Sinneskanälen verarbeiten. Dem entspricht, dass sie meist auch anatomisch zwischen den Arealen des Gesichtssinns, des Tastsinns, des Hörsinns, der Eingeweidesensoren und der für Verhaltenssteuerung und Motorik zuständigen Hirnareale liegen. Diese Areale lassen sich durch ihre Besonderheiten hinsichtlich der Zellarchitektur, des Stoffwechsels, der kognitiven Leistungen und der Position in der Gehirn-Geographie abgrenzen. Die Informationsverarbeitung erfolgt jedoch keinesfalls nur in dieser hierarchischen Form. Im Gegenteil findet sich sogar überwiegend direkt in den spezifischen Sinnesarealen eine auch hochstufige Informationsverarbeitung. Dazu gibt es auch oft Zwischenstufen überspringende Verarbeitung.
Im tertiären Kortex setzt sich nun die schon weiter oben gegebene Aufteilung der visuellen Informationsverarbeitung in zwei globale Betriebseinheiten oder Arbeitsgruppen fort. Die eine ist für Struktur und Bedeutung der Daten zuständig und befindet sich in den Schläfenlappen des Gehirns; die andere für deren räumliche Orientierung und Organisation. Sie befindet sich im Scheitellappen.
Die Schläfenlappen (Temporallappen) des Gehirns sind also der Speicherplatz oder das Lexikon der Strukturen oder Ding-Gestalten (rechter Schläfenlappen) sowie der Wörter, Bedeutungen und emotionalen Bewertungen (linker Schläfenlappen). Rechtsseitig liegt die visuelle Mustererkennung (wie übrigens auch die musikalische Mustererkennung bzw. das Musikverständnis). Geometrische und biologische Elementargestalten und Gestaltkomponenten werden hier in je besonderen Modulen (blockförmigen Arealen mit tausenden von Neuronen) verarbeitet. Schädigungen dieses rechten Schläfenlappens führen zur sog. Gestaltblindheit. Sie ist die Unfähigkeit, Teile eines Objektes zu einem Ganzen zu verbinden, d.h. die Unfähigkeit zur vorbegrifflichen Wahrnehmungsorganisation. Linksseitig, in anatomischer und funktioneller Nähe zum tertiären auditiven und sprachverarbeitenden Zentrum, ist hingegen das Erkennen der Bedeutungen der Objekte lokalisiert. Dies geschieht durch Verknüpfung der Sehgegenstände mit deren begrifflicher Interpretation. Schädigungen in diesem Bereich führen zum Phänomen der psychischen Blindheit. Dies ist die Unfähigkeit, Objekte zu benennen, zu identifizieren und funktionsgemäß zu gebrauchen. Die Identifizierung von Objekten erfolgt also auf den zwei Ebenen der Gestaltwahrnehmung (Struktur) und des begrifflichen Verstehens (Bedeutung). Dazu tritt als dritte Ebene — im sprachverarbeitenden Zentrum angesiedelt - die sprachliche Benennung (Name).
Die Arbeitsgruppe für räumliche Orientierung und Organisation befindet sich hingegen im Scheitellappen des Kortex in unmittelbarer Nachbarschaft zum tertiären Zentrum der Körper- und Tastsinne (somato-sensorisches Zentrum). So sprechen im tertiären somatosensorischen Zentrum die meisten Neuronen sowohl auf Tastempfindungen wie auf visuelle Dateneingaben an. Dieses System beinhaltet vor allem die Einzelsinne zusammenfassende (polymodale) Integrationsleistungen als auch übergeordnete kognitive Leistungen in Verbindung mit dem Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis. Besonders wichtig ist, dass hier auch die objektive Repräsentation des Raumes mit dem eigenen Körper als Koordinatenzentrum aufgebaut wird — statt der bisherigen vorläufigen, nicht maßstabsgetreuen Abbildung des Gesichtsfeldes auf den Netzhäuten. Dies ermöglicht als weitere Leistung die Entfernungs- und Orientierungskonstanz, also z.B. die Tatsache, dass bei Kippbewegungen des Kopfes nicht das ganze Zimmer mitkippt, in dem wir uns befinden. Auch diese Arbeitsgruppe hat ihre Aufgaben auf zwei Unterabteilungen im rechten und linken Scheitellappen des Gehirns verteilt. Die linksseitige Unterabteilung beinhaltet die Leistungen der Mustererkennung durch die Synthese (Bindung elementarer Merkmale zu größeren Mustern) und die Analyse (Vergleich und Klassifikation) der Sehgegenstände. Die rechtsseitige Unterabteilung kümmert sich um den Aufbau des Sehraums, die räumliche und zeitliche Lokalisierung von Gegenständen und die räumliche Koordination von Sensoren (Sinne) und Motoren (Muskeln). Schädigungen in diesem Bereich des tertiären Sehzentrums des Scheitellappens führen zu starker Einschränkung der korrekten räumlichen Orientierung.
Wir haben gesagt, dass in den tertiären Arealen des Kortex neben der hochstufigen Weiterverarbeitung des Dateneingangs eines einzelnen Sinnes auch eine systematische Vernetzung und Assoziation der Daten aller Sinne zusammen erfolgt. Das ist bereits im Vorhergehenden immer wieder deutlich geworden. Hier nun ein kurzer Blick auf diese Leistungen im Speziellen. Das bewährte System der beiden Arbeitsgruppen — einmal für die Struktur, das andere Mal für die Bedeutung der Gegenstände — wird übrigens auch hier nicht aufgegeben. Wir haben also zunächst multisensorische Assoziationsfelder mit dem Arbeitsschwerpunkt: begrifflich-sprachliche Bedeutungen. Die Leitung dieser Arbeitsgruppe befindet sich in einer Schlucht der Großhirnrinde im linken Temporallappen, die in der Fachsprache Sulcus temporalis superior (STS) genannt wird. Im STS laufen alle sensorischen Bahnen: des Gesichtssinns, des Tastsinns, des Hörsinns, der Eingeweidesensoren, zusammen. Die Leitung der Arbeitsgruppe: Strukturanalyse und Bewegungsmuster-Erkennung befindet sich hingegen im sog. mediotemporalen Feld (MT) im rechten Temporallappen.
Zu den bekannteren und deutlicher identifizierten multisensorischen Zentren zählt ferner der sogenannte Gyrus angularis, das akustisch-visuell-sprachliche Assoziationsfeld, das Daten aus den Seh- und Hörzentren — besonders auch beim Lesen und Sprechen — integriert. Über die Neurobiologie von Sprache und Musik informiert der folgende Skript-Baustein:
Auch im tertiären Parietalkortex (Scheitellappen) gibt es Zonen multisensorischer Integration von Sehen, Tasten und Fühlen sowie Hören. Sie beziehen sich vorrangig auf die Wahrnehmung von statischer und dynamischer Körperform und des Körpervolumens in ihrer Beziehung zum umgebenden Raum. Dies geschieht durch tastende und optische Erkundung des unmittelbaren Raums in Körperreichweite.
Der parietale Assoziationskortex (Scheitelbereich) beinhaltet ferner und schließlich auch die auf die Areale aller beteiligten Sinne zugreifende Integration und Kontrolle der Zielmotorik. Bei Primaten nehmen visuelle und visuell-motorische Regionen 60 % des Kortex ein. Diese Regionen erfahren beim Menschen noch einmal eine qualitative Ausweitung durch nur beim Menschen vorhandene Integrationsregionen visuell-konstruktiver Leistungen (Malen, Zeichnen, Entwerfen), räumlicher Planung, komplexer visueller Zeichenerfassung (Sprache, Schrift, Musik, Mathematik), nichtsprachlicher sozialer Zeichenhandlungen (Gesichter, Mimik, Gestik) und emotionaler Bewertung.
Hier ist dann bereits die Schnittstelle zum eigentlichen motorischen Kortex, insbesondere dem sog. frontalen Kortex (Stirnbereich) als dem Ort von Motiven und Handlungsantrieben sowie motorischer Verhaltenssteuerung. Die sensorisch-motorische Schnittstelle v.a. zwischen tertiärem motorischen Zentrum und den tertiären sensorischen Schläfenlappen verläuft insbesondere über zahlreiche Projektionswege oder Fasern unterhalb des Großhirns (bei der Sprecherzeugung etwa den sog. Fasciculus arcuatus).
Zum motorischen Kortex zunächst folgendes Grundsätzliche: Die Motorik hat drei Funktionen: (1) Die vegetative Motorik besorgt den Stoffwechsel — (2) Die Stützmotorik ermöglicht Stand und Haltung — (3) Die Zielmotorik wird für außengerichtete Bewegungen eingesetzt.
Es gibt ferner auch drei Kategorien von Bewegung: (1) reizabhängige reflexgesteuerte Bewegung — (2) reizunabhängige programmgesteuerte Bewegung, die angeboren (z.B. Atmung) oder erlernt (z.B. Geräteturnen und Maschinenschreiben) sein kann — (3) automatisierte rhythmische Bewegung als Koprodukt aus den beiden erstgenannten Kategorien.
Und es gibt vier motorische Dimensionen oder Bewegungsparameter: (1) Amplitude (Größe der Bewegungsstrecke) — (2) Richtung — (3) Geschwindigkeit — (4) Kraft.
Die Motorik wird ferner auf drei Stufen aktiviert: (1) Motivation und Planung der Zielmotorik. Dies übernimmt der tertiäre limbische, sensorische und motorische Kortex — (2) Bewegungs-Programme und Kontrolle der Zielmotorik. Dies wird von einer Arbeitsgemeinschaft ausgeführt. An dieser ist der primäre und sekundäre motorische Kortex beteiligt; ferner Strukturen an der Schädelbasis (Basalganglien), welche raum-zeitliche Impulsmuster programmieren; schließlich auch das Kleinhirn als Kontrollzentrum für Koordination und Beschleunigung — (3) Ausführung. Diese wird an verschiedene Subunternehmer delegiert. Der primäre motorische Kortex übernimmt die Zielmotorik. Der Hirnstamm organisiert die Aktivitäten der Stützmotorik. In die Zuständigkeit des Rückenmarks fallen die Reflexe und isotonische wie isometrische Muskelarbeit. Es gibt also drei Schaltzentren für Haltung und Bewegung: Rückenmark — Hirnstamm — motorischer Kortex.
Wir haben eben bereits wieder die Einteilung — diesmal beim motorischen Kortex — in ein primäres, sekundäres und tertiäres Zentrum angetroffen. Die motorischen Zentren im Frontal- oder Stirnlappen des Gehirns sind also ganz entsprechend den sensorischen Arealen aufgebaut. Das primäre motorische Zentrum ist an der Basis für hochspezifische Bewegungen der etwa 600 Muskeln der Willkürmotorik (inklusive der Lautgebung oder Sprechproduktion = Sprachmotorik in der sog. Oberen Sprachrinde) zuständig. Die Repräsentation der Muskeln und Bewegungen ergibt eine für Kopf und Hände stark vergrößerte Kartierung des Körpers und seiner Oberfläche, und ist weitgehend ein Spiegelbild der Abbildung der Tast- und Körpersinne auf den primären somatosensorischen Kortex. Speziell die Hand gilt als praktisch eigenes kombiniertes Greif- und Tastorgan von phänomenaler Leistungsfähigkeit. Der Greifakt ist eine kombinierte senso-motorische, visuo-motorische und kognitive Leistung, sei es als Kraftgriff mit globalem Fingerschluss oder als Präzisionsgriff mit Opposition von Daumen und Zeigefinger.
Das sekundäre oder übergeordnete motorische Zentrum ist für spezifische Pläne und Handlungsfolgen zuständig. In der Sprachmotorik ist es z.B. mitbeteiligt an der Bildung von Wortformen und Sätzen (Phonetik und Morphologie).
Das tertiäre Zentrum, meist präfrontaler oder prämotorischer Kortex genannt, ist für analytisches Denken, Entscheidungsfindung, Handlungsabsichten, zweckgerichtetes Handeln und Planen verantwortlich. Dies schließt das vordere motorische Sprachzentrum ein, welches die logischen Beziehungen, die Grammatik der Sprache verkörpert, aber auch zeitlich und logisch geordnete Aktionsmuster für das Wohin der Augen-, Greif- und Körperbewegung erzeugt. Außerdem vollzieht sich hier die Assoziation von Denken und Fühlen, von Kognition und Emotion. Kurz: es ist verantwortlich für die Umsetzung von Motiven und kausales Verhalten aus bewussten Gründen. Darüber hinaus vollzieht sich hier eine weitere Objektivierung der Raumvorstellung. Aus der egozentrischen Orientierung mit dem eigenen Körper als Koordinatenzentrum wird nun die umweltbezogene räumliche Orientierung.
Die wichtigsten Einzelleistungen sind hier mithin die zeitliche Ordnung und Steuerung der Wahrnehmungen und Handlungen. Dies schließt zweitens zielgerichtete Konzentration ein durch die Hemmung störender Impulse oder Einwirkungen. Diese Leistungen erfordern drittens die Anwendung der Kausalitätskategorie, um das logische Verhältnis und die zeitliche Ordnung der Reize in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu bestimmen. Ausfälle und Störungen dieses Bereichs führen zu Ablenkbarkeit, Hyperaktivität, Unregelmäßigkeit des Verhaltens, Wirkungslosigkeit sprachlich formulierter Regeln und Pläne (Handlungsprogramme), evidenzwidrige Uneinsichtigkeit und Sturheit, Pseudo-Psychopathologie, d.h. soziopathisches, antisoziales Verhalten (bei Störung des rechten präfrontalen Kortex), Pseudo-Depressivität (bei Störung des linken präfrontalen Kortex), fehlende Selbstkontrolle. Zur Neurobiologie und Neuropsychologie von Zeitanschauung und -organisation ist dieses Skript zu vergleichen:
N7. Zeitanschauung und -organisation.pdf
Unterhalb der Großhirnrinde sind für den motorischen Kortex wichtig die Motivationsareale des Vorderhirns. Dies sind im Limbischen System zusammengefasste biogenetisch elementare Gehirnstrukturen für Triebe, Motivationen und Emotionen. Sie arbeiten zusammen mit dem Autonomen Nervensystem und dem Endokrinen System hormoneller Steuerung, v.a. mit dem Hypothalamus [Aufnahme rechts: Lage des Hypothalamus (roter Pfeil)]. Der Hypothalamus ist der Kopf des Autonomen oder Vegetativen Nervensystems und des Endokrinen Systems und er bildet deren Schnittstelle zum ZNS. Der Hypothalamus ist also hauptverantwortlich für Motivation und Emotion. Das limbische System arbeitet ferner eng zusammen mit der Hypophyse, der Schaltzentrale zwischen Hypothalamus und den Hormondrüsen im Körper.
Ebenso wichtig ist das limbische System zweitens für die vorbewusste und bewusste sensorische Informationsverarbeitung. Insbesondere für die dynamische Assoziation der Sinnesdaten, Musterabgleich und Bewertung, Lernen, Speicherung, Gedächtniskonsolidierung.
Und ein dritter wichtiger Funktionskreis umfasst — zusammen mit dem motorischen Kortex und dem Kleinhirn — Leistungen der Verhaltenssteuerung: Zielbestimmung, Entscheidung, Planung, Ausführung, allgemeine motorische Koordination.
Limbisch heißt das System, weil es wie ein Saum (= lat.: limbus) dem Kortex anliegt und anatomisch wie v.a. physiologisch Teile und Funktionen desselben mit umfasst. Genetisch handelt es sich um frühe und elementare Bereiche des Neokortex. Mehr dazu in diesem Skript-Baustein:
Die Benutzeroberfläche: Multimedia-Universum
Mentale Repräsentation
Niemand arbeitet an seinem Rechner auf der Ebene der Maschinensprache, die nur aus einer endlosen Folge verschiedener Kombinationen von Nullen und Einsen (An- und Aus-Zuständen) besteht. Ebenso arbeitet unser biologischer, körpereigener Rechner nicht auf der Ebene des Neuronenuniversums und seines Maschinencodes. Auch dieser Code ist nicht sehr aufregend und kennt nur quantitativ skalierbare Kombinationen von An- und Aus-Zuständen: „Die Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Intensität, aber nicht die Natur der Erregungsursache. Codiert wird nur: ‘Soundsoviel an dieser Stelle meines Körpers’, aber nicht ‘Was’.“ (Von Foerster et al.: Einführung in den Konstruktivismus, 2. Aufl. München/Zürich, 1995, 58)
Wir müssen also den Maschinencode des Neuronenuniversums übersetzen in anwendernahe, benutzerfreundlichere Sprachen oder Darstellungen. Aus der Arbeit am Rechner wissen wir, dass es hier im Prinzip zwei Möglichkeiten gibt. Wir können einmal auf der abstrakten, logisch-sprachlichen DOS-Ebene oder Konsole arbeiten. In Reinkultur bedeutet das schwarzer oder grüner Bildschirm und nackte Befehlszeilen und Eingabeflächen. Oder wir umgeben das logisch-sprachliche Skelett außerdem mit konkretem Fleisch und Blut und einer attraktiven Haut, d.h. wir machen die Darstellung bunt, lebendig und sinnenhaft. Dann haben wir die multimediale WINDOWS-Benutzeroberfläche. Dieselben zwei Möglichkeiten bietet auch unser körpereigener Rechner. Man nennt den abstrakten DOS-Code hier nur die abstrakte oder begriffliche (auch: verbale oder propositionale) mentale Repräsentation; und den WINDOWS-Code die analoge, sinnliche (imaginale) mentale Repräsentation. Das Vorhandensein beider Codes oder Formate in der mentalen Repräsentation nennt man die duale Kodierung.
Für das anschauliche, bunte WINDOWS-Format müssen normalerweise größere Datenmengen verarbeitet werden als in dem anderen abstrakten, sprachlichen DOS-Kode. Deswegen arbeitet ein moderner Prozessor im Rechner parallel an verschiedenen Aufgaben gleichzeitig und stützt sich dabei noch auf die parallele Mitarbeit integrierter Schaltkreise resp. Mikrocontroller und sogar weiterer (Makro-)Prozessoren (etwa auf der Grafikkarte). Auch der körpereigene Rechner verarbeitet sinnlich-anschauliche, multimediale Daten, Objekte, Szenen und Sequenzen parallel. Information im abstrakten sprachlichen Repräsentationskode (Sprechen — Lesen — Hören — Schreiben — Grammatik und Logik) wird dagegen wie im Bürorechner auch im körpereigenen Rechner seriell verarbeitet. Trotz heftiger Debatten in der Vergangenheit herrscht heute in der Forschung weitestgehende Übereinstimmung hinsichtlich der Existenz einer dualen Kodierung und Organisation mentaler Repräsentationen. Diese duale Kodierung umfasst, wie erörtert, einmal einen anschaulichen, imaginativen Code in Form von Bildern und einen begrifflich-abstrakten Code in Form von Ideen und Wörtern. Folgender Skript-Baustein skizziert den alternativen, unorthodoxen Ansatz der sogenannten Direkten Wahrnehmung.
Mentale Repräsentation von Wahrnehmung: Zur Erkennung und Repräsentation von Merkmalen, Mustern oder Strukturen in der Wahrnehmung (pattern-recognition) gibt es unterschiedliche Theorien, die nur als Teilgesichtspunkte überzeugen. Eine Theorie geht von der Annahme aus, dass jedes Reizmuster als eigene Einheit im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, was für viele Schlüsselreize gilt, aber als allgemeine Theorie unrealistisch ist. Die sog. Prototypentheorie sieht jeden Reiz als Element einer Reizklasse, deren Schlüsseleigenschaften durch Prototypen verkörpert werden. Problemzonen sind hier die Unterschätzung der Rolle begrifflicher Strukturen (Definitionen) und die Unterbewertung des Einflusses des Kontextes. Die Merkmalstheorie (feature-theory) betrachtet ein Reizmuster als einen Satz spezieller Merkmale, berücksichtigt aber zuwenig, dass in der Regel das Ganze früher begriffen wird als die Summe der einzelnen Teile oder Merkmale. Genau das ist die Stärke der Gestalttheorie, deren These ist, dass Reizganzheiten vor ihren Teilen erkannt werden. Aber auch diese Einsicht gilt nicht allgemein.
Besonders anspruchsvoll und leistungsfähig im Bereich Muster- und Objekterkennung ist übrigens die eigenständige Gesichtserkennung. Um ein Gesicht zu erkennen, stützen wir uns nicht nur auf dessen Form oder Figur, sondern machen auch eine emotionale Ausdrucksanalyse der Gesichtsmimik verbunden mit visueller Spracherkennung (Lippenlesen), und aktivieren vier Gedächtnissysteme: einen Speicher für Gesichtserkennungseinheiten, den Personen-Identitäts-Speicher, den Namengenerator und allgemeine Wissens-Schemata (d.h. allgemeines Vorwissen der Art, dass eine gefönte 100 €-Frisur keinem arbeitslosen Forstarbeiter gehört). Die mentale Repräsentation der Wahrnehmung beginnt mit Kontur-Entdeckung und Merkmals-Extraktion. Dazu dieses Skript:
Mentale Repräsentation der Vorstellung (imagery): Es wurde bereits gesagt, dass die Vorstellungskraft oder Phantasie dieselben Repräsentationsformate und -stufen aufweist wie die Wahrnehmung — nur in umgekehrter Reihenfolge. Wir können uns daher auf eine Auflistung beschränken. Wir haben auch hier ganz unten bildhafte (imaginale) Elementareinheiten. Man nennt sie imagens. Dann auf der nächsten Stufe imaginative Muster oder images. Dann die Integration der Merkmale in größere Merkmalskomplexe, die man mentale Modelle nennt.
Mentale Repräsentation des begrifflichen Denkens (Kognition): Beim Denken ist die Kodierung und Organisation begrifflicher (abstrakter) Repräsentationen erforderlich. Denken heißt begriffliche Identifizierung, Repräsentation und Einteilung (Klassifikation) der Bedeutung, der Funktion, der Herkunft und der Relationen von Objekten und Prozessen. Es handelt sich vor allem um begriffsgesteuerte Verarbeitung. Auch hier haben wir bei der Objektrepräsentation wieder den bekannten Stufenaufbau von einfachen begrifflichen Merkmalen, logogens genannt, über Merkmalskomplexe / semantic patterns von Objektbegriffen bis zu begrifflichen Schemata oder Wissensstrukturen (begriffliche Netzwerke und Theorien).
Die begriffliche Kodierung betrifft neben der Objektrepräsentation auch die Repräsentation von Prozessen oder Vorgängen, ebenfalls auf unterschiedlichen Verarbeitungsstufen. Die Bewegungs- bzw. Prozesswahrnehmung ist mehr als andere Wahrnehmungsbereiche angeboren oder entwickelt sich extrem schnell und bietet mit einem Minimum an Daten maximale Erkenntnisleistungen. So unterscheiden 3—5 Monate alte Kinder dynamische, aber nicht statische Anordnungen bzw. Szenen. Die Grammatik der Ereigniswahrnehmung hat davon auszugehen, dass Objekte figürliche Komponenten und Aktions-Komponenten haben. Die Struktur eines Ereignisses umfasst somit die Figur (statische Komponenten) und ihre Aktion (dynamische Entwicklung). Auch hier haben wir ansonsten wieder unseren bekannten Stufenaufbau. Er geht aus von sog. elementaren oder atomaren Relationen (relational primitives), geht weiter zu komplexen Relationsbegriffen (action patterns) und schließt ab mit globalen begrifflichen Handlungschemata zur Analyse von Themen, Situationen und Aktionen (zeitlich und ursächlich verknüpfte Ereignis- oder Handlungssequenzen (scripts).
Neben den skizzierten beschreibenden (deskriptiven) anschaulichen und begrifflichen Repräsentationen von Objekten und Ereignissen gibt es auch formale oder normative Repräsentationen und Regeln methodischen Denkens, Urteilens, Schlussfolgerns, Problemlösens und Entscheidens. Auch hier ist eine duale, einerseits konkret-anschauliche, andererseits logisch-abstrakte Kodierung belegbar. Letztere wird durch die formale Aussagen- und Prädikatenlogik und Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik (abstract-rule-theory) beschrieben, Erstere durch Mentale Modelle. Diese formalen (normativen) Repräsentationen und Regeln umfassen (1) Definitions- und Formungsregeln (formation rules): Bestimmungsregeln für Grundterme — Definitionsregeln für abgeleitete Terme — Bildungsregeln für höherstufige zusammengesetzte Ausdrücke; (2) Prädikations- und Schlussregeln (transformation rules) für Elementaraussagen oder Protokollsätze — Reduktionsregeln für Grundgesetze oder -sätze (Axiome) — Deduktionsregeln für abgeleitete Gesetze oder Sätze (Theoreme) (vgl. Bochenski: Die zeitgenössischen Denkmethoden, 10. Aufl. Tübingen/Basel 1993).
Neben dem imaginalen und begrifflichen existiert neurobiologisch ein drittes sprachliches Repräsentationsformat. Hierzu dieser Skript-Baustein:
N11. Sprachliches Repräsentations-Format.pdf
Symbolische und verteilte (distributed) Repräsentation: Die anschaulichen, analogen und die abstrakten, begrifflichen mentalen Repräsentationen können als ausdrückliche symbolische Repräsentationen verstanden werden, die durch Umformungen und Berechnungen seriell verarbeitet werden, die ausdrücklichen Regeln folgen. Sie können aber auch durch implizite, in neuronalen Netzen verteilte Aktivationsmuster bzw. -matrizen (oder Vektorräume) verwirklicht gedacht werden, die parallel arbeiten. Dies ist der heute stark im Vordergrund stehende und sehr erfolgreiche Ansatz der Neuroinformatik: Parallel-verteilte Informationsverarbeitung (Parallel-Distributed-Processing: PDP). Mehr dazu bietet das Skript N12. Symbolische und konnektionistische Repräsentation:
N12. Symbolische vs. konnektionistische Repräsentation.pdf
3-D-Anwendungen Raum und Zeit
Der 24jährige George Berkeley veröffentlichte 1709 An Essay towards a New Theory of Vision. Diesen Essay schickte Berkeley seinem philosophischen Hauptwerk A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge (1710) voraus. Berkeleys Neue Theorie des Sehens ist eine der gründlichsten und einflussreichsten Wahrnehmungstheorien der Geschichte. Sie konzentriert sich besonders auf die Wahrnehmung von Entfernung, Größe, Lage, Zahl, Gestalt, Bewegung. Diese räumlichen und zeitlichen Charakteristiken der Wahrnehmungsobjekte werden seit dem 17. /18. Jh. als sog. primäre Qualitäten der Gegenstände bezeichnet. Der Vater der modernen Chemie, Robert Boyle und sein Freund John Locke, der Vater der modernen Erkenntnistheorie, haben sie so genannt. Sie wurden zum ersten Mal durch Aristoteles unter dem Namen Gemeinsame Wahrnehmungen (aisthetà koiná) systematisch untersucht.
Berkeleys Theorie hat besonders auf die englisch-schottischen Philosophen David Hume und J. S. Mill sowie die deutschen Denker Immanuel Kant und Ernst Mach gewirkt. Kant hat dann in der Kritik der reinen Vernunft, dem Grundbuch der Philosophie der Moderne, unter dem Namen transzendentale Ästhetik, eine monumentale Theorie der primären Sinnesqualitäten bzw. der raum-zeitlichen Wahrnehmung und Erfahrung vorgelegt. Auch die Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaft der Gegenwart bezieht sich stark auf Berkeleys Theorie, ganz besonders der sog. Konstruktivismus. Neben diese inhaltlichen Vorzüge von Berkeleys Neuer Theorie des Sehens tritt ihr sehr klarer logischer Aufbau. Deshalb bietet es sich an, für diesen Abschnitt unseres Gangs durch das Universum der Wahrnehmung der Problemstrukturierung Berkeleys zu folgen. Dies geschieht in den folgenden Skripten N13 bis N18 zu meinen Lehrveranstaltungen über Berkeleys Theory of Vision.
Ein erster entsprechender Skript-Baustein behandelt die Entfernungswahrnehmung:
N13. Entfernungswahrnehmung_Berkeley.pdf
Ein weiterer Skript-Baustein behandelt die Größenwahrnehmung:
N14. Größenwahrnehmung_Berkeley.pdf
Ein dritter Skript-Baustein behandelt die Lagewahrnehmung:
N15. Lagewahrnehmung_Berkeley.pdf
Ein viertes Skript behandelt die Bewegungswahrnehmung:
N16. Bewegungswahrnehmung_Berkeley.pdf
Apriorismus — Empirismus — Konstruktivismus
Auch in der Biologischen Psychologie gibt es das Zusammenspiel von Betriebssystem, Anwendungsprogrammen und Editor. Auch hier stellt sich mithin die Frage: Was ist angeboren, was erworben, was selbstgemacht? Hierzu eine kurze Erläuterung an Hand der technischen Informationsverarbeitung oder Informatik. Sie haben vor, sich einen neuen Rechner zusammen zu bauen. Sie bestellen also im Fachhandel die nötigen Gerätekomponenten: Gehäuse mit Netzteil, Hauptplatine, Prozessor, Festplatte, Grafikkarte, Audiokarte, DVD-Brenner, Bildschirm, Maus usw. Nach einigen Stunden Arbeit und einigem in dieser Branche unvermeidlichen Ärger haben Sie jetzt den fertigen neuen Rechner vor sich. Mit dem neuen Teil ist aber bisher gar nichts anzufangen. Dazu wird erst noch ein strukturiertes Netzwerk von Daten, Datenstrukturen und Datenklassen gebraucht; darüber hinaus ein Arsenal logischer Operatoren (Schaltalgebra) und mathematischer Algorithmen (Programme) sowie nicht zu vergessen eine Hierarchie von Sprachen oder Codes: Maschinencode — Übersetzungsprogramm (Compiler) — Programmcode (Quelltext) — Benutzerkonsole (Anwendungsprogramme). Sie brauchen m.a.W. für den Rechner noch das, wofür er eigentlich da ist, Information und Intelligenz (Software). [Foto links: Humberto R. Maturana, Neurobiologe und Vordenker des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus, siehe in Folge]
Diese Information und Intelligenz kann auf dreierlei Weise in den Rechner kommen. Sie kann schon von vorne herein in ihm eingebaut sein, etwa die logischen Operatoren und Algorithmen im primären Pufferspeicher (Level 1-Cache) des Prozessors oder das ganz fundamentale Betriebsprogramm des BIOS, oder eben auch und ganz besonders das von vorne herein aufgespielte Betriebssystem (Linux, Windows oder dgl.). Zweitens kann die Information und Intelligenz von mir für den Rechner im Laufe der Zeit erworben werden wie ein neues Textverarbeitungsprogramm, ein Finanzbuchhaltungs-Programm, ein digitales Lexikon auf CD, Musikstücke aus dem Netz usw. Drittens kann ich selbst diese Information und Intelligenz hervorbringen, konstruieren, erstellen — im Editor oder Bearbeitungsprogramm, d.h. durch Eingeben, Anordnen, Formatieren und Speichern von Daten, Operationen und Programmen: Texteingabe für ein Buchmanuskript, Einspeicherung von Photos per Abtaster (Scan), Erfassen von Einnahmen und Ausgaben im elektronischen Kassenbuch, Erstellen eines eigenen Netzauftritts im HTML-Editor usw.
Auf denselben drei Wegen, auf denen der Rechner Information und objektive Intelligenz erhalten kann, erhalten sie auch menschliche Organismen. Der erste Weg sind eingebaute, angeborene Betriebsprogramme wie die angeborene Sprachfähigkeit, angeborene Denkstrukturen, angeborene Wahrnehmungsleistungen und Instinkte. Die Theorie oder Philosophie, die diesen Weg besonders betont, ist der Apriorismus (lat.: a priori = von vorne herein). Der Apriorismus, der sich auf angeborene Denkregeln und kognitive Ideen oder geistige Begriffe bezieht, heißt Rationalismus. Apriorismus kann sich ansonsten aber auch auf angeborene Sinnesleistungen und biologische Triebe beziehen. Der zweite Weg ist die Erfahrung, also der nachträgliche Erwerb von Wissen durch Sinneserfahrung. Die Theorie und Philosophie, die diesen Weg besonders betont, ist der Empirismus. Der dritte Weg ist eigene kreative Hervorbringung oder begriffliche, mathematische, ästhetische, rechtliche Konstruktion. Die Theorie oder Philosophie, die diesen Weg besonders betont, ist der Konstruktivismus.
Die wissenschaftliche Theoriebildung und die philosophische Analyse entwickelt nun seit den 60er Jahren des 20. Jh. hierzu eine doppelte Synthese. Einmal die Synthese von Empirismus und Rationalismus, allerdings mit dem Vorrang der rationalen, konzeptgeleiteten Kognition. Zum anderen die Synthese von Apriorismus und Konstruktivismus mit dem Primat auf Seiten der konstruktiven, ontogenetischen Leistung. Die Synthese von Rationalismus und Empirismus mit dem Primat der konzeptgeleiteten Kognition ist durch zwei Einsichten motiviert. Diese Einsichten sind einmal die Theoriehaltigkeit der Erfahrung (theoryladenness). Diskutiert wird hier im Prinzip nur noch die Frage, wie weit die Theoriehaltigkeit geht. Die zweite Einsicht ist die der Subjektabhängigkeit der Erfahrung. Es ist die Einsicht in die vorrangige Bedeutung des kognitiven Subjektes — auch für die „objektivistische“ Naturwissenschaft:
„1. Beobachtungen sind nicht absolut, sondern relativ zum Standpunkt eines Beobachters (d.h. relativ zu seinem Koordinatensystem: Einstein); 2. Beobachtungen beeinflussen das Beobachtete, und machen so jede Hoffnung des Beobachters zunichte, Vorhersagen treffen zu können (... Heisenberg). [...] Was wir nunmehr benötigen, ist die Beschreibung des ‘Beschreibers’ oder, mit anderen Worten, eine Theorie des Beobachters [...] Im Gegensatz zur klassischen Problemstellung wissenschaftlicher Forschung ... sehen wir uns heute herausgefordert, eine beschreibungsinvariante ‘subjektive Welt’ zu entwickeln, d.h. eine Welt, die den Beobachter einschließt. Das ist das Problem.“ (Von Foerster: Einführung in den Konstruktivismus, 2. Aufl. München/Zürich 1996, 116) Das ist zwar sehr überspitzt und undifferenziert formuliert, zeigt aber die hier liegende Aufgabenstellung.
Auch die Synthese von Apriorismus und Konstruktivismus mit dem Vorrang der ontogenetischen Leistung geht aus von der Theoriehaltigkeit der Kognition (theoryladenness) und der zentralen Rolle des kognitiven Subjektes. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde dazu die darwinistische Annahme apriorischer stammesgeschichtlicher Strukturen (wieder) aufgegriffen (siehe in Folge); zum anderen versuchte der Konstruktivismus die Leistungen der Kognition vorrangig ontogenetisch zu erklären, d.h. entwicklungspsychologisch. Die beiden hier angesprochenen Modelle sind mithin die evolutionäre Erkenntnistheorie (K.Lorenz, G. Vollmer); und der aus Entwicklungspsychologie, Kybernetik, und Neurobiologie erwachsene Konstruktivismus (J. Piaget, H. v. Foerster, H. R. Maturana, G. Roth, aber im Prinzip bereits A. Gehlen).
Folgendes Skript stellt das Selbstverständnis der Evolutionären Erkenntnistheorie vor:
N17. Evolutionäre Erkenntnistheorie.pdf
Dieses Skript erörtert den Ansatz des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus [Foto rechts: Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget, einer der wichtigsten Wegbereiter und Denker des Konstruktivismus]:
Das Zusammenspiel von Apriorismus (Rationalismus), Empirismus und Konstruktivismus zeigen die folgenden Skript-Bausteine systematisch auf. Hier zunächst für die Stufe der Sinneswahrnehmung:
N19. Wahrnehmungs-Apriorismus etc.pdf
Das nächste Skript zeigt denselben Zusammenhang für die Stufe des begrifflichen Denkens und des Sprechens.
N20. Begriffs-Apriorismus_Empirismus_Konstruktivismus.pdf
Der Benutzer: Die Welt des Bewusstseins
Im interaktiven Modus: Lernen
Wir haben oben bei unserem Rechner-Vergleich gesagt, dass die Information und Intelligenz von Organismen vorgegeben, angeboren, sein kann, oder aktiv erarbeitet, konstruiert oder aber durch Erfahrung erworben. Jetzt geht es uns darum, zu erfahren, wie Information und Intelligenz durch Erfahrung erworben und aktiv erarbeitet wird. Thematisch ist hier zunächst der Erwerb (Lernen) der visuellen und allgemein sensorischen, motorischen und sprachlich-begrifflichen Repräsentationen.
Man unterscheidet zunächst assoziativ-bewusstes, explizites Lernen einerseits, und implizites, habituelles Lernen andererseits. Ersteres umfasst noch einmal das sensomotorische prozedurale Lernen (Verhaltensgedächtnis) und das deklarative Lernen (Wissensgedächtnis).
Explizites Lernen ist aufmerksamkeitsgesteuert und mit verhaltenstheoretischer Reiz-Reaktions-Konditionierung beschreibbar. Verhaltens- oder lerntheoretische Konditionierung fußt auf der zeitlichen Paarung (Kontiguität) von Reiz und Reaktion. Diese wird zum Einen durch klassische Konditionierung erreicht, wobei ein neutraler Reiz mit einem unkonditionierten Reiz solange zeitlich eng gepaart wird, bis Ersterer alleine die konditionierte Reaktion auslöst. Das berühmte Beispiel hierfür ist der Hund, dessen Speichelabsonderung (= konditionierte Reaktion) alleine durch eine Glocke (= neutraler Reiz) ausgelöst wird, nachdem ihm viele Male seine Fleischration (= unkonditionierter Reiz) zusammen mit einem Glockenton angeboten wurde. Ein Sonderfall hiervon ist die Prägung, d.h. die angeborene Erlerndisposition spezifischer Reiz-Reaktionsverkettungen. Zum anderen erfolgt das Lernen durch operante oder instrumentelle Konditionierung, bei welcher unmittelbar auf die zu lernende Reaktion ein positiver oder negativer Verstärkerreiz folgt (Belohnung bzw. Bestrafung). Kognitives Lernen, Wissenserwerb, insbesondere bei abstraktem Regel- und Problemlösungslernen, besteht darüber hinaus in der aktiven Rekonstruktion der gesamten Reizsituation und ist stärker als das reizinduzierte assoziative Lernen abhängig von zentralen tertiären (= assoziativen) motorischen [im Frontallappen] und sensorischen Arealen [in den Schläfenlappen] der Großhirnrinde (Kortex).
Implizites Lernen arbeitet auf der Ebene von Habituation (Gewöhnung) und Sensibilisierung (oder Sensitivierung) — beide beeinhalten nur Änderungen in der Stärke einer bereits existierenden Reaktion auf einen Reiz, etwa bei Reflexen. Das assoziative Lernen dagegen ist die erlernte Verknüpfung eines Reizes mit einer Reaktion oder einem Ereignis.
Lernen ist bedingt durch molekularbiologische Mechanismen, die die Stärke von Nervenverbindungen (Synapsen) verändern [sogenannte Langzeitpotenzierung] und wird gesteuert durch den Hippocampus im Limbischen System. Die Verfestigung dieser synaptischen Veränderungen zwecks Speicherung im Gedächtnis erfolgt in Stufen:
„Die Anfangsphase, eine Form des Kurzzeitgedächtnisses, hält einige Minuten bis Stunden an; unter anderem verändert sich dabei ... die Stärke synaptischer Verbindungen. Am selben Ort treten zwar auch die langanhaltenden, Wochen oder Monate bleibenden Veränderungen auf. Diese Form des Speicherns erfordert aber völlig anders geartete Vorgänge, nämlich die Aktivierung von Genen, die Expression bestimmter Proteine und das Wachstum neuer synaptischer Verbindungen“ (Kandel/Hawkins: Molekulare Grundlagen des Lernens. In: Spektrum der Wissenschaft 11, 1992, 76).
Strukturen und Funktionen des Gehirns sind mithin nicht nur in der vor- und nachgeburtlichen Phase extrem plastisch, sondern bleiben auch über die Lebensspanne empirisch formbar:
„Daß für das Endstadium der Gehirnentwicklung neuronale Aktivität erforderlich ist, hat wesentliche Vorteile. Erstens erhält das heranreifende Nervensystem so ... die Möglichkeit der Modifikation und Feinabstimmung auf der Grundlage eigener Erfahrung, was ihm eine gewisse Anpassungsfähigkeit verleiht. Bei höheren Wirbeltieren kann diese Feinjustierung eine längere Zeit beanspruchen und vom Fötal- bis weit in das Neugeborenenstadium hinein andauern. Nach der Geburt spielt sie beim Sehsystem von Primaten eine wichtige Rolle beim Koordinieren der Signale aus den beiden Augen, durch das erst das beidäugige Sehen wie auch die stereoskopische Tiefenwahrnehmung möglich ist. Zweitens bleibt durch die nachträgliche Feinabstimmung mittels neuronaler Aktivität die genetisch zu codierende Informationsmenge gering.“ (Shatz: Das sich entwickelnde Gehirn. In: Spektrum der Wissenschaft 11, 1992, 52)
Datenspeicherplätze: Die Gedächtnissysteme
Wir haben gesehen: Lernen umfasst ganz grundsätzlich zum Einen klassische und operante Konditionierung. Dies ist das Verhaltensgedächtnis. Zum anderen umfasst Lernen kognitive Prozesse. Diese sind das Wissensgedächtnis. Das Verhaltensgedächtnis ist also das Resultat von assoziativem Reiz-Reaktions-Lernen. Das Wissensgedächtnis ist das Resultat von Informations-Kodierung, -Speicherung und -Abruf mentaler Repräsentationen und sensomotorischer Fertigkeiten.
Diese Speicher- und Abrufkompetenzen sind in drei nach Aufgabe und Aufbau unterschiedenen Gedächtnissystemen verkörpert: sensorische Register — Kurzzeitgedächtnis (KZG) oder Arbeitsgedächtnis — Langzeitgedächtnis.
Die sensorischen Register enthalten eine ultrakurze Erstrepräsentation mit großer Kapazität. Im sensorischen Register erfolgt vorbewusst die Kodierung des Reizes (Reizintensität), die Musterextraktion (Signalqualität) und der automatische Vergleich (matching) mit dem Langzeitgedächtnis (LZG).
Das Kurzzeitgedächtnis leistet die bewusste und kontrollierte Verarbeitung neuer und komplexerSituationen und Handlungen und enthält eine kurze Repräsentation (20 Sekunden) mit geringer Kapaziät (7+/-2 anschauliche Merkmale oder sprachliche Glieder). Hier wird die Information zu zeitlichen Sequenzen, räumlichen Mustern und bedeutungsmäßigen Beziehungen verarbeitet.
Das Langzeitgedächtnis (LZG) umfasst drei Systeme: (1) das prozedurale LZG betreffs Fertigkeiten wie Radfahren, Maschinenschreiben oder Kraulschwimmen — (2) das deklarativ-semantische LZG betreffs begrifflicher Bedeutungen — (3) das deklarativ-episodische LZG betreffs autobiographischer Fakten und ihres Raum-Zeit-Erfahrungszusammenhanges. Folgender Skript-Baustein erläutert diese verschiedenen Datenspeicherplätze oder Gedächtnissysteme des Menschen:
Der Ort des Bewusstseins: Der Arbeitsspeicher
Der Arbeitsspeicher (Kurzzeitgedächtnis) ist darüber hinaus von zentraler Bedeutung für das Bewusstsein: Er ist nicht nur das einzige bewusste Gedächtnis- und Kognitionssystem, sondern der systematische Ort konzentrierter Bewusstheit, d.h. Aufmerksamkeit, überhaupt. Neurologisch ist der Arbeitsspeicher im tertiären motorischen Kortex verortet, während für das Langzeitgedächtnis die Temporallappen (semantisch) und Parietallappen (episodisch) die neuronale Basis stellen. [Skulptur rechts: Denkpartner, Friedrichsbau / Stuttgart]
Bewusstsein ist ein vielschichtiger Begriff, der unterschiedliche Formen und Prozesse umfasst, die alle (1) biologisch von einem weiträumigen Erregungsanstieg im ZNS abhängig sind; (2) vorbewusste vollständige Informationsverarbeitung in den sensorischen Registern zur Voraussetzung haben; (3) psychologisch aufmerksamkeitskontrollierte Informationsverarbeitung darstellen, wobei (4) die Aufmerksamkeit nicht durch die quantitative Reizintensität geweckt wird, sondern durch eine kognitive Bewertung. Diese ist genauer eine 4-phasige Orientierungsreaktion auf neue und komplexe Reize 200—250 Millisekunden nach erfolgter Reizung, die nach Gewöhnung ausbleibt, was Habituation genannt wird. Das folgende und letzte Skript stellt die einzelnen Bewusstseinsfaktoren und -formen vor und gibt einen Überblick über kausale Erklärungen des Bewusstseins oder von Bedingungen desselben im Rahmen der Biologischen Psychologie:
N22. Bewusstseinsfaktoren und -formen.pdf
Eine weiterführende fachübergreifende Thematisierung von Bewusstsein und Geist und Kognition überhaupt bietet das folgende Menu zur Kognitionswissenschaft sowie das Menu zur Philosophie des Geistes. Dort werden auch die wichtigsten Standpunkte und Argumente der gegenwärtigen Bewusstseinsdebatte vorgestellt. [Foto rechts: Der Neurobiologe F. Varela, zusammen mit H. Maturana ein Vordenker auch des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus]