Dr. phil. Paul Natterer
Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen zur Handlungstheorie und Ethik

Handlungstheorie ist die psychologische Beschreibung und philosophische Analyse unserer Handlungen und ihrer Antriebe, Motive, Prinzipien und Phasen (Überlegung Entscheidung Ausführung). Moral ist die normative Theorie des richtigen Bewertens, Entscheidens und Handelns und der zu Grunde liegenden Grundsätze, Ziele und Regeln. Ethik ist Metatheorie oder philosophische Reflexion der Moral. Sie untersucht, vergleicht, bedenkt und bewertet Grundsätze, Ziele, Regeln usw. konkreter bestehender Moralen. Oft werden die Begriffe Moral und Ethik auch bedeutungsgleich gebraucht.

Handlungstheorie, Moral und Ethik sollten vom alltäglichen, intuitiven Vorverständnis von Moralität ausgehen und dieses analysieren und reflektieren. Dieses Vorverständnis können wir etwa durch die folgenden Sachverhalte beschreiben: (1) Wir schreiben unseren eigenen Handlungen und denen anderer einen moralischen Wert zu und beurteilen sie danach als entweder gut / moralisch / verantwortungsbewusst / gerecht / human oder aber als böse / unmoralisch / gewissenlos / ungerecht / inhuman. (2) Wir setzen voraus, dass jeder im Allgemeinen sowohl weiß, was gut und böse ist als auch dass das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen ist. Wir gehen von der Tatsache des Gewissens aus. (3) Wir glauben, dass eine moralische Bewertung von Handlungen an deren Freiwilligkeit geknüpft ist, also daran, dass man dabei Herr seiner Handlung ist. Handlungen aus Zwang oder biologische Naturvorgänge gelten nicht als moralfähig. (4) Wir meinen, dass moralisches Handeln einer vernünftigen Rechtfertigung fähig sein muss, die Begründung des Handelnden also einsichtig und nachvollziehbar ist und dass das Unmoralische den Charakter des Vernunftwidrigen besitzt. (5) Moralische Bewertung hat stets auch einen sozialen Bezug und hat mit Achtung und Anerkennung der Würde von Personen und ihrer Rechte, Interessen und Bedürfnisse zu tun. (6) Würde und Wert von Menschen werden ferner in einzigartiger Weise mit der moralischen Qualifikation des Menschen verbunden, nicht mit Intelligenz, Bildung, Charme, Reichtum. (7) Eine Bedingung für moralisches Handeln ist schließlich die Auseinandersetzung mit dem Gemeinwohl oder mit dem in der Gemeinschaft geltenden Recht, Gesetz und Sitte.

Das Menu in Folge stellt die wichtigsten und bis heute maßgeblichen Denker und Ansätze vor, die dieses Vorverständnis analysieren und deuten: Platon, Aristoteles, Aquinas, Kant, Hume, Bentham, Mill. Wir folgen damit der Maxime John Ruskins: "Wir gewinnen eine größere Kraft der Überzeugung, wenn wir das, was andere vor uns erarbeitet und veröffentlicht haben, sorgfältig auslesen und erklären, als wenn wir es selber nochmals auf unsere Weise mühselig sagen." Darüber hinaus werden alternative Entwicklungen des 19./20. Jh. erörtert: Kierkegaard, Nietzsche, Marx. Schließlich wird die Handlungstheorie und Ethik interdisziplinär ausgeweitet und eingebettet: Soziobiologie, Psychologie, Soziologie, Religionswissenschaft. Das Menu resp. E-Buch beginnt mit einer Skizze der Metaethik.

Metaethik

Metaethik hat wissenschaftstheoretische Klärungen der Moral zum Gegenstand. Es handelt sich dabei um Analysen der moralischen Begriffe und Argumente und um Klassifizierung der ethischen Theorien. Sie ist besonders in der analytischen Philosophie seit 1900 entwickelt worden. Einen Überblick zu Begriffen, Theorien, Argumenten der Metaethik gibt Franz von Kutschera: Grundlagen der Ethik, Berlin/New York 21999. Kutscheras Standpunkte decken sich im Allgemeinen mit den ethischen Überzeugungen, welche in den folgenden Kapiteln Pate stehen. Hier vorab zentrale Thesen Kutscheras sowie ergänzend die entsprechenden Orientierungen bei Michael Quante: Einführung in die Ethik, Darmstadt 42011, und Arno Anzenbacher: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992 [42012 unter dem Titel: Ethik. Eine Einführung]:

(1) Ethik ist angemessen nur mit einer kognitivistischen Theorie zu erfassen, in welcher normative moralische Aussagen wahrheitsfunktionale Erkenntnisse oder Behauptungssätze sind und nicht nur nichtkognitivistische Gefühle, Wünsche, Appelle und Befehle (Kutschera a.a.O. 1999, 5253, 112120; Quante a.a.O. 2011, 4053). Die wichtigsten ethischen Ansätze sind daher kognitivistisch, so die aristotelische, kantische und konsequentialistische Ethik.

(2) Nichtkognitivistische Ansätze sind besonders der Emotivismus A. J. Ayers (Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970), der unter ethischen Äußerungen von positiven/negativen Gefühlsäußerungen begleitete Behauptungen versteht (Buh- und Hurra-Theorie). Ch. L. Stevenson (Ethics and Language, New Haven 1944) fasst ethische Äußerungen ähnlich emotivistisch als rhetorische Manipulation und Suggestion. Sie sind empirische Aussagen, die mit nicht-rationalen moralischen Gefühlen aufgeladen sind, welche appellative und suggestive Funktionen haben. Der dritte bekannte Ansatz stammt von R. M. Hare (Die Sprache der Moral, Frankfurt a. M. 1974), der Ethik in nicht-rationalen Imperativen oder Prinzipien bestehen lässt. Nichtkognitivistische Theorien erfassen die wichtigen Teilaspekte der instinktiven, naturhaften Evaluation materialer ethischer Gehalte und der auch emotionsbasierten ethischen Motivation, nicht plausibel ist nur deren Verabsolutierung.

(3) Ethik muss Humes Gesetz in modifizierter Form beachten: Aus beschreibenden Tatsachensätzen alleine folgen keine normativen Sollenssätze. Ethik fußt auf der Verbindung von Sein und Sollen (siehe (7).

(4) Ethik sollte ferner den naturalistischen Fehlschluss vermeiden: Ethische Begriffe sind nicht naturwissenschaftlich definierbar oder rekonstruierbar. Konkret heißt dies: Moralische Sachverhalte und Begründungen sind nicht auf Fakten der Biologie, Psychologie, und Soziologie allein reduzierbar (Kutschera 1999, 5758, 216218; Quante 2011, 110125; Moore, G. E.: Principia Ethica, Stuttgart 1970; MacIntyre, A.: Der Verlust der Tugend, Frankfurt a. M. 1995, Kap. 5).

(5) Naturalistische Theorien glauben, man könne moralische Begriffe (gut – sollen – erlaubt usw.) durch nichtmoralische empirische Begriffe der Biologie, Psychologie und Soziologie definieren oder in diese übersetzen. Vgl. zur soziologischen Naturalisierung der Ethik Kapitel 9 und zur biologischen Naturalisierung die Kapitel 8 und 10 sowie Bayertz, K. (Hrsg.): Evolution und Ethik, Stuttgart 1993; Lütterfelds, W. (Hrsg.): Evolutionäre Ethik zwischen Naturalismus und Idealismus, Darmstadt 1993; Wuketits, F.: Soziobiologie, Heidelberg et al. 1996; Wilson, D. S./Sober, E.: Unto Others The Evolution and Psychology of Unselfish Behavior, Cambridge, Mass. 1999, und Bauer, J.: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006; ders.: Das kooperative Gen, Hamburg 2008.

(6) Auch der sog. ethische Deskriptivismus (J. L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972; J. R. Searle: Sprechakte, Frankfurt a. M. 1973), der ethische Äußerungen als einen Typus institutionell geregelten Sprachhandelns (illokutionäre Akte) fasst, welche Regeln oder Verpflichtungen einschließen, neigt zur Reduktion des Moralischen auf sprachliche Kommunikation (Anzenbacher 1992, 279283).

(7) Die Ablehnung naturalistischer Theorien heißt nicht, dass allgemeingültige Tatsachensätze und individuelles Erfahrungswissen nicht nötig sind, um (1) inhaltliche moralische Axiome zu bestimmen, (2) aus diesen Axiomen konkrete inhaltliche Normen abzuleiten und (3) diese Normen individuellen Umständen klug und angemessen anzupassen. Der naturalistische Fehlschluss entsteht nur, wenn übersehen wird, dass zusätzliche, nicht reduzible ethische Grundbegriffe (Das Richtige Das Gute) und ein präskriptives, also vorschreibendes, aufforderndes, befehlendes Prinzip (Das Sollen) hinzutreten müssen (Quante 2011, 2439, 120125; Ross, W. D.: Foundation of Ethics, Oxford 1939; Vieth, A.: Intuition, Reflexion, Motivation. Zum Verhältnis von Situationswahrnehmung und Rechtfertigung in antiker und moderner Ethik, Freiburg/München 2004).

(8) Inhaltliche Begründung und Bewertung (Evaluation) moralischer Ziele und Normen ist nur von einer objektivistischen und realistischen Theorie zu erbringen. Das Moralische ist eine von subjektiven Präferenzen unabhängige Qualität von Einstellungen und Handlungen: „Für den Objektivisten [und Realisten] urteilen wir ... mit normativen Aussagen über die [mentale und physische] Welt; sie selbst hat normative Dimensionen, und daher haben unsere Urteile auch ein Fundament in der Sache“ (Kutschera 1999, 213214).

(9) Ethischer Objektivismus bezieht sich auf universell geltende objektive Strukturen rationaler Subjektivität (praktische Vernunft) und hat v.a das ethisch Richtige zum Thema (siehe Kap. 5 zu Kants Ethik).

(10) Ethischer Realismus bezieht sich auf subjektunabhängige, ontologisch reale Werteigenschaften, die sich weder auf subjektive empirische Interessen noch auf die objektiven Strukturen rationaler Subjektivität zurückführen lassen. Sein Thema ist v.a. das ethisch Gute (siehe v.a. Kap. 4 zur aristotelisch-thomistischen Ethik und Quante 2011, 74109; Scheler, M.: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern/München 61980; Hartmann, N.: Ethik, Berlin/Leipzig 1926; Murdoch, I.: The Sovereignty of Good, London 1970; McNaughton, D.: Moral Vision, Oxford/Cambridge 1988; Dancy, J.: Moral Reasons, Oxford/Cambridge 1993; Halbig, Ch.: Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt a. M. 2007).

(11) Noch so noble Theorien des subjektiven ethischen Rationalismus, welcher Ethik als aufgeklärtes Eigeninteresse, als rationale Ordnung subjektiver empirischer Interessen, Wünsche und Bedürfnisse fasst, müssen hier passen. Dazu zählen historisch D. Hume (Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 2003), aktuell J. Mackie (Ethics. Inventing Right or Wrong, New York 1977), D. Gautier (Morals by Agreement, Oxford 1986), W. Stegmüller (Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, IV: Kripkes Wittgenstein. Empiristischer Vorstoß ins Normative und Transzendente, Stuttgart 1989), und auch die Gerechtigkeitstheorie J. Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2009 [11971]), die Diskurs- und Kommunikationsethik K.-O. Apels (Diskursethik als Verantwortungsethik eine postmetaphysische Transformation der Ethik Kants. In: G. Schönrich/Y. Kato (Hrsg.) Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, 326359) sowie J. Habermas (Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983).

(12) Der Anspruch des subjektiven ethischen Rationalismus ist maximal eine distributive Koordinierung divergierender subjektiver Interessen und Ansprüche im sozialen Bereich. Er zielt nicht auf Wahrheit, sondern auf Konsens und betrachtet evaluative, wert- und sinnbezogene Fragen als „nicht diskursfähig“ (Habermas). Aber auch dieser Anspruch kann nicht plausibel gemacht werden, da er eine dreifache unrealistische Idealisierung voraussetzt, kontraintuitive und rational perverse Folgen hat und die quantitative Bestimmung und Regelung von Nutzen und Interessen scheitert (Quante 2011, 5473, der m.E. nicht sehr glücklich Apel zum objektiven ethischen Rationalismus rechnet; Anzenbacher 1992 [42012], 244254; R. Dworkin: Sovereign Virtue, Cambridge 2000).

(13) Objektivität und Realismus bedeuten nicht äußerliche Gegebenheit und Subjektunabhängigkeit: Moralische Ziele oder Werte sind keine objektiven Güter (Dinge, Zustände) und keine empirischen Eigenschaften bzw. hiervon abstrahierte Wertbegriffe (gerecht etc.), sondern normative objektive Ideale, die in der Erfahrung durch Erkenntnis und Wille aktualisiert werden sollen: „Ihre Wirklichkeit ist Wirksamkeit durch Freiheit“ (Kutschera 1999, 246). Ethische Begründung hat rationale Gründe, nicht kausale Erklärungen zum Gegenstand (Quante 2011, 148151). Wenn das Moralische etwas objektiv Gegebenes der Erfahrung wäre, dann hätte Moral keine eigenständige Bedeutung neben den beschreibenden empirischen Wissenschaften. Es läge ein naturalistischer Fehlschluss vor. Also gilt: „Die Ethik ist transzendental“ (Wittgenstein, Tracatus 6.423). Die plausibelste Begründung ethischer Güter, Normen und Pflichten ist ein Zusammenspiel intuitiver ethischer Prinzipien und Grundsätze, konsistenter deduktiver Ableitungen und induktiver individueller, empirischer Umstände. Siehe Kap. 4 und 5 und mit Vorbehalten Quante 2011, 143164, der dieses Zusammenspiel objektiv realer, objektiv subjektiver und empirisch subjektiver Faktoren als schwachen ethischen Realismus fasst (2011, 103107; vgl. ähnlich McDowell, J.: Mind, Value & Reality, Cambridge 1998, und Siep, L.: Konkrete Ethik, Frankfurt a. M. 2004).

(14) Konkrete individuelle Handlungen als Ausgangspunkt und Gegenstand der Ethik haben drei Gesichtspunkte: (i) der Typ der Handlung (gute Taten/Pflichten resp. schlechte Taten/Verfehlungen), (ii) die Folgen der Handlung, (iii) der die Handlung formende Charakter des Subjekts. Entsprechend existieren drei Haupttypen der Ethik: die auf die Handlungstypen ausgerichtete deontische Pflichtenethik; die auf die außermoralischen Handlungsfolgen ausgerichtete konsequentialistische (oder weniger glücklich: teleologische) Ethik, und die auf den Handlungsgegenstand und den Charakter des Handelnden ausgerichtete Wert- und Tugendethik (Quante 2011, 126142).

(15) Deontologische Theorien setzen den Wert einer Handlung mit dem Wert der Absicht, Gesinnung und Handlungsweise gleich (siehe dazu auch Kap. 5 und die dortigen Literaturangaben).

(16) Konsequentialistische Theorien bestimmen den Wert einer Handlung vom Wert der beabsichtigten und/oder tatsächlichen Handlungsfolgen her (siehe Kap. 6 und die dortigen Literaturverweise).

(17) Tugendethiken zielen auf Charakterbildung und ein gutes Leben im Ausfüllen sozialer Rollen. Sie zeigen, dass Tradition und Gemeinschaft/Institution unaufhebbar wichtig für die ethische Praxis und Theorie sind (vgl. Kap. 3 und Kruschwitz, R./Roberts, R. (eds.): The Virtues: Contemporary Essays on Moral Character, Belmont 1987; MacIntyre, A.: Der Verlust der Tugend, Frankfurt 1995).

(18) Diese Klassifizierungen sind in Reinkultur Unsinn, so dass in diskutable Ansätze alle Gesichtspunkte in verschiedener Akzentuierung mindestens einschlussweise einfließen: „Weder eine reine [deontologische und intentionalistische] Pflichtenethik noch eine reine [teleologisch-konsequentialistische Güterethik oder] Wertethik [ist] adäquat“ und auch keine reine Tugendethik (Kutschera 1999, 260).

(19) Die in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang stehenden Ethiken von Aristoteles, Aquinas und Kant verbinden in unterschiedlicher Akzentuierung diese Ansätze und alle einschlägigen Gesichtspunkte in unverkürzter und konsistenter Form: (I) Teleologische Ethik natürlicher Ziele oder Güter = ethischer Realismus. Oberstes materiales Prinzip ist das Glück als praktische und soziale Selbstverwirklichung der Güter/Ziele/Zwecke des menschlichen Lebens durch dianoetische und ethische Tüchtigkeit/Tugend. Materiale Norm ist das Maß oder sachliche Optimum oder die richtige Mitte der existentiellen, rationalen und spirituellen Güter/Ziele/Zwecke des menschlichen Lebens (Leben, Familie, soziales Leben, Weltorientierung, Transzendenz). Der ethische Konsequentialismus und Naturalismus sind quantifizierende und empiristisch-eudaimonistische Relikte und Schrumpfformen des genuinen ethischen Realismus. (II) Deontologische Ethik der Normen der praktischen Vernunft = ethischer Objektivismus. Oberstes formales Prinzip ist das Gute. Formale Norm ist die praktische Vernunft, sind vernunftgemäße Normen und Pflichten. Die Gerechtigkeits- und Diskursethik und der ethische Intuitionismus sind formale, leere, emotivistische Relikte und Schrumpfformen des ethischen Objektivismus. (III) Tugendethik der rationalen Handlungskompetenz = ethischer Kognitivismus. Dabei ist dianoetische Tugend die Befähigung zur Definition materialer Axiome, zur Ableitung materialer Normen und zur Induktion der individuellen Ziele und Mittel mittels der formalen Normen der praktischen Vernunft. Ethische Tugend ist die Entscheidung für das oberste materiale Prinzip und das oberste formale Prinzip (= gutes Ethos/Charakter/Einstellung) und Entscheidung für materiale Normen und formale Normen (Prohairesis / gute Wahl der konkreten Ziele und Mittel). Der ethische Existentialismus, Kommunitarismus in manchen Formen und Dezisionismus sind relativistische resp. fundamentalistische resp. emotivistische Relikte und Schrumpfformen der Tugendethik. (MacIntyre 1995; Anzenbacher 1992).

(20) Ein alle drei Ansätze vereinendes ethisches Grundprinzip ist der kategorische Imperativ (in seinen vier Fassungen): Handle stets moralisch, d.h. in Respekt vor dem überindividuellen praktischen Vernunftgesetz in dir und achte dich und andere als Personen oder moralische Subjekte! (Kutschera 1999, 268) Personen sind wesentlich moralische Subjekte, weil ihre Vernunft aus sich selbst praktisch sein kann und durch ein apriorisches Sittengesetz (kategorischer Imperativ als Faktum der Vernunft oder transzendentales Naturgesetz) bestimmt ist. Auch transzendentale Sachverhalte wie der kategorische Imperativ sind objektive Tatsachen und der sittliche Imperativ ist daher keine Sache willkürlicher Entscheidung oder Setzung wie im ethischen Dezisionismus (R. M. Hare) (Anzenbacher 1992, 43109).

(21) Selbstachtung im Sinne von (20) hat zur Bedingung einen überlegten, verantworteten Lebensplan zur Selbstentfaltung und die Anerkennung als Subjekt von Rechten und Pflichten (Kutschera 1999, 275). Damit folgt aus (20) erstens das Recht auf Selbstbestimmung (Ausbildung eigener Überzeugungen) und Selbstentfaltung (Verfolgen selbstgewählter Ziele) (Kutschera 1999, 281284), und damit persönliche Schutz- und Freiheitsrechte. Das Recht auf Gewissensfreiheit schließt dabei kein Recht auf generelle Handlungsfreiheit ein (Kutschera 1999, 282) und das Recht auf Meinungsfreiheit gilt qua Recht ebenfalls nicht für Beliebiges und Falsches, sondern hat Wahrheit zur Voraussetzung (Kutschera 1999, 283; MacIntyre 1995, 9899).

(22) Aus (20) folgen zweitens die kooperativen Pflichten gegen legitime Gesetze und Vereinbarungen, welche Kant folgend als Autonomie oder Selbstgesetzgebung der eigenen praktischen Vernunft verstanden werden können (Kutschera 1999, 284287).

(23) Metaethischer Relativismus (Gut und Richtig sind relativ zu Sozialsystemen/Kulturen) und normativer Relativismus (Toleranz divergierender ethischer Überzeugungen und Konformität gegenüber Normen des eigenen Sozialsystems) treffen unser intuitives Vorverständnis von Ethik nicht und sind selbstwidersprüchlich (Quante 2011, 151155; vgl. Moser, P. K./Carson, Th. (eds.): Moral Relativism, Oxford 2000).

(24) Die irreduzible, objektive und reale Natur der wertenden (evaluativen), richtenden (normativen) und befehlenden (präskriptiven) Dimensionen des  Moralischen ist ipso facto transzendent: „Das rationale […] und praktische [ethische] Denken ... kann ... nicht bloß als ein psychologisches oder soziales Phänomen aufgefaßt werden […] Sofern wir überhaupt denken, müssen wir uns selbst […] als Wesen begreifen, die die Ordnung der Vernunftgründe nicht erschaffen, sondern ihr unterworfen sind“ (Nagel, Th.: Das Letzte Wort [The Last Word], Stuttgart 1998 [Oxford 1997], 41, 189, 201, 210), auch wenn „der Zugang des Menschen zu objektiven oder allgemeinen Werten [...] viele Menschen unseres Zeitalters nervös“ macht und „eine [fundamentale] Religionsangst“ erzeugt (ebd. 190192; vgl. Kapitel 4 und 5 mit den dortigen Literaturverweisen sowie Natterer, P.: Philosophie der Transzendenz. Mit einem systematischen Abriss der kantischen philosophischen Theologie, Norderstedt 2011).

(25) Metaphysische Freiheit als externe Voraussetzung der Ethik ist (i) Handlungsfreiheit als von äußeren und inneren Zwängen freie Ausführung von Absichten oder Zwecken, (ii) psychologische (praktische) Willensfreiheit oder Entscheidungsfreiheit oder freie Wahl der Absichten und Zwecke (freie Willkür) und (iii) transzendentale Willensfreiheit oder moralische Freiheit (ethisch motivierte rationale Wahl und verantwortetes Handeln) (Anzenbacher 1992, 4380; vgl. Schönecker, D.: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie, Berlin/New York 2005).

(26) Handlungsfreiheit kommt in verschiedenen Abstufungen allen Lebensformen zu, da Leben mit Kant und der Tradition als Handeln aus einem inneren organisierenden Prinzip definiert werden kann (Metaphysische Anfangsgründe AA IV, 544).

(27) Entscheidungsfreiheit kommt in verschiedenen Abstufungen wahrscheinlich allen höheren Lebensformen mit mentaler Repräsentation/Simulation antizipierter imaginativer (Tiere) und/oder begrifflicher (Menschen) propositionaler Gehalte zu, wie die klassische und operante Konditionierung zeigen (MacIntyre 1995; Anzenbacher 1992).

(28) Moralische Freiheit als bewusste vernunftbasierte Selbststeuerung ist Willensfreiheit im genuinen Sinn. Sie hat (26) und (27) zur Voraussetzung und umfasst zusätzlich (a) die vom ethischen Realismus betonte ontologische Dimension der phänomenologischen Evaluation moralischer Tatsachen oder Werte, (b) die vom ethischen Objektivismus betonte normative Dimension moralischen Urteilens aus rationalen Vernunftgründen, (c) die vom ethischen Präskriptivismus und Emotivismus betonte imperativische Dimension der moralischen Motivation (Sollen).

(29) Metaphysische Freiheit in allen Formen und Dimensionen ist keine absolute kausale Indeterminiertheit und Autonomie, sondern eine Lebensfunktion in einem vorgegebenen physikalischen, biologischen, psychischen, sozialen, metaphysischen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Willensfreiheit als psychologische und moralische Freiheit ist wesentlich Fähigkeit zu rational determinierter Entscheidungsfindung und verantwortlicher Verhaltenssteuerung, nicht ein absolut unmotiviertes, d.h. zufälliges und irrationales Erschaffen physikalischer Wirkungen. Damit zusammenhängend sind sowohl äußere Handlungsfreiheit als auch psychologische Entscheidungsfreiheit als auch transzendentale Willensfreiheit in einer ethisch relevanten Form (als vor dem praktischen Vernunftgesetz verantwortete Gestaltung biologischer, psychischer, politischer etc. Vorgaben) mit einem ev. physikalischen oder neuronalen Determinismus vereinbar (schwacher und starker Kompatibilismus), wobei letzterer Determinismus nach unserem derzeitigen Wissensstand wahrscheinlich falsch ist. Dazu kommt, dass die spezifischen epistemischen und praktischen Fähigkeiten von Personen bzw. die hierdurch motivierten Handlungen integraler Bestandteil der Kausalitätsverhältnisse sind (Quante 2011, 165180). Vgl. Platon: Phaidon und Kriton; Leibniz, G. W.: Metaphysische Abhandlung, Hamburg 21985; Manser, P. G. M.: Das Wesen des Thomismus, Freiburg/CH 21935, 549571; MacKay, D. M.: Freedom of Action in a Mechanistic Universe, Cambridge 1965; Strawson, P. F.: ‚Freedom and Resentment‘ and other Essays, London 1974; Kenny, A.: Will, Freedom, and Power, London 1975; Hampshire, S.: Thought and Action, London 1982; Frankfurt, H.: The Importance of What We Care About, Cambridge 1988; Wolf, S.: Freedom within Reason, New York/Oxford 1990; Wright, G. H. v.:  Erklären und Verstehen, Frankfurt a. M. 31991; Dennett, D. C.: Bedingungen der Personalität. In: P. Bieri (Hrsg.) Analytische Philosophie des Geistes, Bodenheim 1993, 303324; Heil, J./Mele, A. (eds.): Mental Causation, Oxford 1993; Cassirer, E.: Zur modernen Physik, Darmstadt 71994 [11936]; Fischer, J. M.: The Metaphysics of Free Will, Oxford 1994; Fischer, J. M./Ravizza, M.: Responsibility and Control, Cambridge 1998; Mele, A.: Autonomous Agents, New York/Oxford 1995; Stekeler Weithofer, P./Seidengart, J./Mohr, G.: Determinismus/Indeterminismus. In. H. J. Sandkühler: Enzyklopädie Philosophie I, Hamburg 1999, 230243; Sturma, D.: Freiheit. In: H. J. Sandkühler: Enzyklopädie Philosophie I, Hamburg 1999, 400407; Dürr, H.-P.: Das Netz des Physikers, München 32000; Dörflinger, B.: Das Leben theoretischer Vernunft, Berlin/New York 2000; Andersen, P. B./Emmeche, C./Finnemann, N. O./Voetmann Christiansen, P. (eds.): Downward Causation. Minds, Bodies and Matter, Århus 2000; Meixner, U.: Theorie der Kausalität. Ein Leitfaden zum Kausalbegriff in zwei Teilen, Paderborn 2001; Kane, R. (ed.): The Oxford Handbook of Free Will, New York / Oxford 2002; Beckermann, A.: Gehirn, Ich, Freiheit. Neurowissenschaften und Menschenbild, Paderborn 2008; Natterer, P.: Philosophie des Geistes, Norderstedt 2011; Falkenburg, B.: Mythos Determinismus: Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?, Berlin/Heidelberg/New York 2012.

Aristoteles zu Handlungstheorie und Ethik

Handlungstheorie

Die ausgearbeitetste Handlungstheorie und Ethik des Aristoteles findet sich in der Nikomachischen Ethik. Diese Ethik des Aristoteles wurde geschichtlich wie systematisch äußerst einflussreich. Dasselbe gilt von der zu Grunde liegenden Handlungstheorie des Aristoteles. Die aristotelische Handlungstheorie und Ethik wird aus diesen Grundsätzen entwickelt: Alles Handeln hat ein Endziel. Dieses ist das höchste praktische Gut. Das höchste praktische Gut ist das Glück. Das Glück ist die Aktivation der wesenhaften (rationalen, interpersona­len) Tüchtigkeit (areté) als ethische Tüchtigkeit (aretè ethiké, thematisch in Nikomachische Ethik [NE], IIV) und dianoetische Tüchtigkeit (aretè dianoetiké, in NE, VI).

Eine klassische Interpretation ist Aubenque: La Prudence chez Aristote, Paris 1963 [4. Aufl. 2004; dt.: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2. Aufl. 2013]. Ihre Bilanz ist: Ethik hat es mit kontingentem Individuellem zu tun, nicht mit nomothetischer wis­senschaftlicher Deduktion. Deswegen rekurriert sie notwendig auf Wahrnehmung und Vorstellung (dóxa) (1963, 8f). Sittliche Überlegung und sittliches Urteil hinsichtlich Ziel und Mitteln bedeuten, menschliche Angelegenheiten zu "vérifier par l'expérience" (Aubenque 1963, 108115). Gegen Platons Auffassung, dass das moralische Universum insgesamt rational, nomothetisch sei und somit zumindest in idealer Annäherung deduktiv ab­leitbar, hält Aristoteles dafür, dass die Moral nicht wissenschaft­lich, gesetzhaft ableitbar ist, dass namentlich die prohaíresis der richtigen Mittel ein Prozess des induktiven Suchens, Verifizierens und Wählens ist (Aubenque 1963, 130).

Aubenques Fazit (1963, 175): Das Vorliegen kontin­genter Faktizität in Welt und Denken erlaubt einerseits keine Absolutheit des Wissens und keine Generalisierung der ethischen Praxis. Andererseits verbietet die praktische Vernunft als vernünftige Prinzipien- und Gestaltungskompetenz des Menschen grundsatzlose Improvisation bzw. einen irrationalen Pragmatismus als unmoralisch. Die praktische Vernunft beinhaltet ein Zusammenspiel von nous praktikós (praktische Vernunft i.e.S.: axiomatisches Prinzipienwissen) dianoia praktiké (diskursiver praktischer Verstand) phrónesis i.e.S. (Klugheit in Zielkonkretisierung und Mittelbestimmung) ethos / oréxis bouleutiké (gute Gesinnung / vernünftiges Streben) prohaíresis / oréxis dianoetiké (vernünftige Wahl / vernünftiges Wollen).

Aubenque weist auf ein Weiteres hin: Aristoteles' Handlungstheorie ist eine Synthese von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Die phrónesis umfasst die gute Intention, das vernünftige Ziel und die umsichtige, erfolgreiche Meisterung der Umstände (kairoí). Moral umfasst Wollen und gelingen­des Handeln. Eine moralische Tat ist idealerweise eine gelungene Tat (eupraxía, Aubenque 1963, 97ff).

Einen systematischen Abriss sowohl der Handlungstheorie wie der Ethik des Aristoteles bietet diese Abhandlung:

Dichtung und Literatur als Schule der Ethik

Sophokles [WikiCommons]Eine Weiterführung und Illustration der aristotelischen Handlungstheorie und Ethik ist seine Poetik. Wieso? Im Zentrum der aristotelischen Poetik steht die Analyse der Tragödienstruktur. In der Tragödie sieht Aristoteles das dichterische Maximum. Hauptbestandteil der Tragödie ist die menschliche Handlung ( práxis) als ethische: "Er [= Aristoteles] will ... nur solche Handlungen dargestellt wis­sen, die in ethischer Hinsicht von Belang sind." (Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 7) Konkret: "Aristoteles erklärt, Ethos und Dianoia seien die beiden Ursachen des Handelns; von ihnen hänge alles Gelingen und Scheitern ab. Die beiden Kategorien - sie entsprechen den ethischen und dianoetischen Tugenden der Nikomachischen Ethik" bedingen, "in welchem Maße eine Tragödie die für sie spezifischen Wirkungen zu erzielen vermag." (Fuhrmann 1973, 18) [Bild oben: Sophokles (496406 v.C.), der mittlere der bahnbrechenden großen Tragiker Athens - nach Aischylos und vor Euripides]

Antrieb und Motivation konkreten Denkens und praktischen Handelns stammen im Zusammenspiel mit der praktischen Vernunft zuletzt aus Instinkten und Gefühlen. Und auch hier gilt: "Die eigentlich menschliche Bildung der Gefühle, und zwar sowohl was die Entwicklung der Jugend, die Heilung krankhafter Fehlformen als auch die Entwicklung großer, kultivierter Gefühle betrifft, ist für Platon wie Aristoteles eine Sache des 'Musischen', d.h. eines verstehenden Sich-Einübens und begreifenden Nachempfindens von künstlerischer Gestaltung. [Daher] die bedeutende ethische und politische Rolle, die sie der Kunst zuerkennen" (Schmitt: Die Moderne und Platon, Stuttgart 2008, 361).

Diese Kultur der Gefühle "kann ... als ein Übergang von abstrakten zu konkreten Gefühlen beschrieben werden. Das abstrakte Gefühl ist nach Aristoteles das Gefühl, das zu einer oberflächlichen, meist an die Wahrnehmung gebundenen, eher pauschalen Unterscheidungsform gehört. Wer im Gesamtkomplex einer Situation einen Zug von Bedrohlichkeit entdeckt und deshalb auf die ganze Situation mit Angst reagiert, ... hat abstrakte Gefühle. Diese Abstraktheit ist es, die durch die Erziehung durch die Kunst, Furcht und Mitleid dort zu empfinden, wo es angemessen ist, wie es angemessen ist, in welchem Ausmaß es angemessen ist (usw.) 'gereinigt' und zu einer konkreten Empfindungsfähigkeit verwandelt wird. Diese Konkretheit besteht nicht zuletzt darin, daß solche Gefühle dem 'Werk' des Menschen, dem sie gelten, gerecht werden." (ebd. 379)

"In diesem Sinn lehrt die Tragödie, das Allgemeine im Einzelnen zu erkennen und in seinem emotionalen und voluntativen Wert richtig, d.h. sachentsprechend, zu erfahren. Aristoteles hat für diese Fähigkeit die Metapher vom 'Auge der Seele' (Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, 11, 1143b14) geprägt." (ebd. 374)

Es liegt auf der Hand, dass genau diese Fähigkeit "staatstheoretisch[e] und auch ... anthropologisch[e] ... von großer Bedeutung [ist], eine Situation, einen Mitmenschen, eine gesellschaftliche Gruppe usw. in allen Aspekten, die sich auf das praktische Handeln in der Gemeinschaft beziehen, in ihrem spezifischen Charakter und Wert zu beurteilen." (ebd. 379)

Dies gilt in einem ganz grundsätzlichen Sinn. Denn nach der platonisch-aristotelischen Ethik "ist der Mensch zwar zur Freiheit geboren [und ...] angelegt, aber er ist nicht von sich aus und immer schon frei und souverän [...] Freiheit [ist] eine Aufgabe ..., der der Staat sich stellen und die er durch Formen der Erziehung erst verwirklichen muß [...] weshalb die Ordnung des Staats und im Staat ... zuerst von der Erziehung und nicht von mit Zwangsrechten ausgestatteten Institutionen abhängt." (Schmitt a.a.O. 2008, 382383)

Arbogast Schmitt hat in genau dieser Perspektive auch eine Rekonstruktion der aristotelischen Theorie der Willensfreiheit vorgelegt: Freiheit und Lust. Über eine wenig beachtete Erklärung der Willensfreiheit, Marburg 2018: "Es war der sorgfältige Aristoteles, der ... nachgewiesen hat, dass jeder Wille ein Produkt aus mehreren geistigen Akten ist: man muss etwas erkennen, das Angenehme und Gute an diesem Erkannten mit Lust (das Gegenteil mit Unlust) empfinden und beides durch die Vorstellung in die Zukunft verlängern. Dann entsteht ein Wille (für oder gegen etwas). Dieser Wille kann einer Wahrnehmungserkenntnis entspringen, oder einer Meinung, meistens über Lüste und Unlüste, die mit Anerkennungsphänomenen verbunden sind, er kann auch aus einer tatsächlich vernünftigen Erkenntnis kommen. Sich gegen die Vernunft entscheiden, heißt deshalb nicht, etwas irrational wollen, sondern einen unvernünftigen, von bloßen Meinungen oder Anschauungen abhängigen Willen haben. Diese Art der Analyse führt dazu, dass nicht jeder Wille frei ist, sondern nur der, der das will, was einem wirklich gut tut. In diesem Sinn gibt es eine zur Freiheit führende Erziehung des Willens, die wie sittliches Verhalten im allgemeinen auf einer Kultur des Gefühls beruht." (Abstract, siehe dazu auch den nächsten Abschnitt)

In der men­schlichen Praxis interessiert dabei noch einmal zentral das Phänomen der hamartía; von dieser aber gilt: "Die Fehlhandlung (hamartía), die nach Aristoteles den Kern der Tragödie bildet, läßt sich nur unter Berücksichtigung seiner Handlungstheorie in ihren Entstehungsursachen bestimmen." (Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt/M. 1987, 274). "Die Tragödie lehrt in negativer Form an Hand der Darstellung eines vorhersehbaren, von mangelhafter Erkenntnis verursachten Sturzes ins Unglück, wie allgemeine Ansichten und Prinzipien richtig auf konkrete Einzelfälle zu applizieren sind, d.h. wie das Vorstellungsvermögen betätigt werden soll." (Cessi 1987, 266)

Aubenque (1963, 160165) benennt zwei grundsätzliche Ursachen der hamartía: (i) Verfehlen des geduldigen Ernstes der Erfahrung und Reflexion der phrónesis durch vermessene Überheblichkeit (hýbris) aus Mangel an intellektueller Zucht und fehlender Anerkenntnis der Begrenztheit des menschlichen Wissens; (ii) Verfehlen der Besonnenheit (sophrosýne), des vernünftigen Maßes im Genuss durch Übertreibung (hyperbolé).

Hier eine umfassende Analyse der aristotelischen Poetik im Horizont der Handlungstheorie:

Emotionale Intelligenz und Kultur der Gefühle

Schmitt ArbogastAls kompetenteste und wichtigste Gesamtschau der aristotelischen [und platonischen] Erörterung der Natur und Erziehung der Gefühle kann Arbogast Schmitts Die Moderne und Platon [Stuttgart, 2. Aufl. 2008, Teil II, 207523] gelten [Photo rechts: A. Schmitt]. Hier das Wichtigste:

"Gefühle sind ... Begleitphänomene von (Erkenntnis-)Aktivität. Es ist die ungehinderte und vollendete Ausführung einer Tätigkeit, die von sich her mit Lust verbunden ist" (2008, 290).

Abgetrennt von Erkenntnisaktivität ist wie bei Kant "bei Aristoteles [...] das Eigentümliche der Gefühle ... die blanke Lust- oder Unlusterfahrung." (341)

Aber es gilt erstens: "Lust und Unlust ist [...] nicht auf das bloße Empfinden irgendwelcher körperlicher Erregungen eingeschränkt..., sondern ... Lust [ist] ein Begleitphänomen psychischer Aktivität ... und weist deshalb so viele und solche Formen auf, wie die psychischen Akte" (344).

Und zweitens: "Platon und Aristoteles reduzieren ... Gefühle nicht auf den Lust- und Unlustaspekt, so differenziert dieser in sich sein kann, sondern verstehen Gefühle als komplexe psychische Akte: [...] Das Vorstellungsvermögen, das die Gegenwart mit dem schönen Bild zukünftiger Erfülllung konfrontieren kann, ist ... ein notwendiges ... Moment, damit aus der reinen Lust Wille werden kann [und es] gehört vor allem ein Moment des Meinens" dazu (345).

Im Fazit: "Gefühle [Emotionen und Motivationen] ... sind konkrete, aus kognitiven, emotiven und voluntativen Akten gemischte psychische Akte, die sich unmittelbar auf Einzelnes, einzelne Personen, Situationen, Atmosphären u.ä. beziehen." (348)

"Die Rationalität eines Gefühls liegt nach Aristoteles ... in seiner Angemessenheit ... einem entsprechenden Gegenstand gegenüber, in der richtigen Weise, in der richtigen Situation, mit der richtigen Haltung usw." (363)

Hierbei ist auch "die Unterscheidung zwischen 'großen' Gefühlen und 'heftigen' Gefühlen" wichtig. Erstere kann "es nur bei wirklich [konkret und differenziert] bestimmten Gegenständen [geben] und vor allem gegenüber Menschen, die einen wirklich als eine erkennbare Einheit bestimmten Charakter haben." (363)

Denn: "Sowohl ein subjektiv fixiertes, 'blindes' Gefühl als auch ein rigoros abstraktes Verstandesurteil, das keine individuellen Differenzen zu berücksichtigen in der Lage und bereit ist, wird sich einer 'lebenspraktisch vernünftigen' oder 'emotional klugen' differenzierten Sicht einer konkreten Situation verschließen." (376)

"Bei diesem Verfahren kann es sehr wohl vorkommen ..., daß man die geltenden Konventionen der Zeit oder Gesellschaft aufbricht [...] Eine bestimmte einzelne Handlung erscheint aus dieser Perspektive als etwas, das man nicht verallgemeinern kann [...] Im Blick auf den identischen Begriff des Gerechten ist die einzelne gerechte Handlung daher ambivalent, ja widersprüchlich", da dasselbe Handeln in anderen Umständen extrem ungerecht sein kann (378).

"Voraussetzung für ein solches Bemühen ist zuerst, daß man aus sich selbst heraus, d.h. frei und verantwortlich, lebt. Das ist ein Leben nach dem Nous (Intellekt, Vernunft) [...] 'denn der Nous ist das, was jeder einzelne wirklich ist', wie Aristoteles sagt [NE IX,8, 1168b35]." (354/5)

Mit anderen Worten: "Platon und Aristoteles machen richtiges ethisches Verhalten von der Befolgung des 'orthos logos' ..., der 'recta ratio' (= des richtigen Denkens) abhängig [...] Richtiges, d.h. das 'Werk' einer Sache korrekt unterscheidendes Denken führt notwendig dazu, etwas unbeeinflußt von partikulären Interessen in seiner optimalen Verfassung zu erkennen und zu genießen." (353)

"Das 'Werk' des Menschen bei Platon und Aristoteles ist aber ... sich selbst in der Gemeinschaft mit den anderen, die ihrer dazu gegenseitig bedürfen, zu verwirklichen." (353/4)

Dabei gilt der Grundsatz: "Die rationale Sorge um den besten Vollzug des eigenen 'Werks' [optimale Selbstliebe] [ist] zugleich die beste Form des sittlichen Lebens in der Gemeinschaft" (355). Es geht um die Einsicht, "daß das wahre Wohl des Einzelnen mit dem Wohl des Ganzen zusammenfällt, und daß der falsche Egoismus des Einzelnen nicht nur die Gemeinschaft schädigt, sondern zugleich zu einem Scheitern der wirklichen Ziele des Einzelnen führt." (396)

Thomas Aquinas zu Handlungstheorie und Ethik

Die Handlungstheorie und Ethik von Thomas Aquinas ist eine Rezeption der aristotelischen Theorie, die Aristoteles bis ins Detail ernst nimmt und rekonstruiert – angereichert um stoische Elemente und eingebettet in den Denk- und Lebensraum der messianischen Leitkultur. Diese handlungstheoretische Grundlegung der Ethik bei Thomas von Aquin, also die Entsprechung zur kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ist Thema der folgenden Texte. Für mit der kantischen Handlungstheorie Vertraute treten die Unterschiede, aber noch mehr der wirkungsgeschichtliche Zusammenhang, unmittelbar ins Relief. Orientierend hierzu ist Kluxen, W.: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg, 2. Aufl. 1980 und Honnefelder, L.: Gewissen als implizite Axiomatik. Zur Lehre vom Gewissen und Gewissensurteil bei Thomas von Aquin. In: Huber, W. et al. (Hrsg.): Implizite Axiome. Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns, München 1990, 117126, sowie Anzenbacher, A.: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, 43170.

Maßgebliche Quellen sind: Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles (In Ethicam); Quaestiones disputatae De veritate XVI und XVII; Quaestio disputata De virtutibus in communi, insbes. Art. 6.; Theologische Summe 1 II, Quaestiones 121; 90108 (Lex-Traktat). Die Texte behandeln wie die kantische Grundlegung zur Metaphysik der Sitten oder Kritik der praktischen Vernunft nur und genau die rationale Prinzipientheorie der menschlichen Praxis. Nicht thematisch sind somit einerseits die Ebene des positiven Gesetzes (lex humana), andererseits die Ebene der spezifischen Vorgaben oder Gesetze der prophetischen israelitischen (mosaischen / christlichen) Religion (lex divina) [Vgl. Theologische Summe 1 II, qu. 91].

Grundsätze dieser Ethik:

"Regel und Norm der menschlichen Akte ist die Vernunft" [TheologischeSumme 1 II, qu. 90, art. 1, corp.]

"Der Mensch als Individuum ist ein Teil der autarken Gesellschaft: deswegen muss das Gesetz zwangsläufig die Organisation der Lebenswelt in Richtung auf das gemeinsame Glück betreffen." [TheologischeSumme 1 II, qu. 90, art. 2, corp.]

"Alle jene Gebote und Verbote gehören zu den Vorschriften des Naturgesetzes, welche die praktische Vernunft von Natur aus spontan als menschliche Güter identifiziert." [TheologischeSumme 1 II, qu. 94, art. 2, corp.]

"Die positive Handlungsdisposition [= Tugend] perfektioniert die entsprechende Kompetenz und steigert so die Leistungsfähigkeit einer jeden Sache bis zum Maximum [...] Das Maximum der Leistungsfähigkeit einer jeden Kompetenz ist notwendig das Gute, denn jedes Schlechte hat einen Defekt, weshalb auch ... alles Schlechte schwach ist.“ [Theologische Summe 1 II, qu. 55, art. 3, corp.]

"Der Mensch kann von einem anderen nur Rat im allgemeiner Hinsicht empfangen; aber dass das Urteil im konkreten Handeln selber richtig ausfällt, das kommt allein aus der richtigen Steuerung durch die eigene Klugheit.“ [Quaestio disputata de virtutibus in communi, Art. 6, obiectio 2 und ad 2]

Hier eine systematische Rekonstruktion der Grundlegung der Ethik bei Thomas von Aquin in Entsprechung zur kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten:

Immanuel Kant zu Handlungstheorie und Ethik

Eckdaten der kantischen Handlungstheorie

Die kantische Theorie der Freiheit und Ethik ist wahrscheinlich nach der aristotelischen die global einflussreichste und meisterörterte. Sie lässt sich auf folgende vier Grundsätze verdichten:

(1) Freiheit als Möglichkeit vernunftgeleiteten Handelns aus rationalen Gründen (vgl. bes. Wolff (The Autonomy of Reason. A Commentary on Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals, New York 1973) und Schönecker (Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Freiburg 1999)).

(2) Der kategorische Imperativ, d.h. die formale Unbedingtheit als moralisches Gesetz des kognitiv als richtig erkannten, d.h. vernünftigen Handelns (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschnitt, KprV: Analytik der reinen praktischen Vernunft 1. Aufl., 3558). Das Interpretationsresultat von Schöneckers (1999) akribischer Untersuchung ist: Der Beweis der Gültigkeit des kategorischen Imperativs besteht in der ontologischen Höherwertigkeit des intelligiblen Willens: „Was man moralisch soll, ist das, was man vernünftigerweise will.“ Vgl. Paton (Der kategorische Imperativ, Berlin 1962), Wolff (1973), Rawls (Kantian Constructionism in Moral Theory. In: The Journal of Philosophy 77 (1980), 515572), Freudiger (Kants Begründung der praktischen Philosophie, Bern/Stuttgart/Wien 1993), Korsgaard et al. (The Sources of Normativity, Cambridge 1996), Dieringer (Was erkennt die praktische Vernunft? Zu Kants Begriff des Guten in der Kritik der praktischen Vernunft. In: Kant-Studien 93 (2002), 137157)).

(3) Die Autonomie der praktischen Vernunft als Bedingung ethisch überzeugenden Handelns (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt, KprV: Analytik der reinen praktischen Vernunft 1. Aufl., 5771; Wolff (a.a.O. 1973), Beck (Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar, München 1974 [engl. Chikago 1960], 7992), Guyer (Kant and the Experience of Freedom: Essays on Aesthetics and Morality, Cambridge 1996, und Kant on Freedom, Law and Happyness, Cambridge 2000), Fricke (Kants Theorie des guten Wollens zwischen empiristischer Konsenstheorie und Crusianischer Moraltheologie. In: Gerhardt, V. u.a. (Hrsg.) Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, III, Berlin/NewYork, 2001, 202210), Steigleder (Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart 2002)).

(4) Inhaltliche Bestimmung des rationalen Handelns durch Kooperation der moralischen Gesetzgebung in (1) bis (3) mit den pragmatischen Gesetzen freien Verhaltens, die die menschlichen Antriebe, Motive und Befriedigungsinstanzen beschreiben. Deren vernünftige Handhabung und Ordnung lässt sich unter zwei inhaltliche Höchstwerte bringen: die eigene Vollkommenheit und das fremde Glück, welche Konkretisierungen der Menschheitsformel des kategorischen Imperativs sind (siehe oben und Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Abschnitt, KprV, vgl. 1. Aufl. 154156; Beck (a.a.O. 1974, 93108), Rawls (a.a.O. 1980), Korsgaard (Kant’s Formula of Humanity. In: Kant-Studien 77 (1986), 183202), O’Neill (Construction of Reason. Exploration of Kant’s Practical Philosophy, Cambridge 1989), Wood (Kant’s Ethical Thought, Cambridge 1999); Guyer (Kant on Freedom, Law and Happyness, Cambridge 2000); Denis (Moral Self-Regard. Duties to Oneself in Kant’s Moral Theory, New York/London 2001); Held (Kant über Willensfreiheit und Moralität. In: Baumgarten, H.-U./Held, C. (Hrsg.): Systematische Ethik mit Kant, Freiburg/München 2001, 124161); Dieringer (a.a.O. 2002), Haucke (Moralische Pflicht und die Frage nach dem gelingenden Leben. Überlegungen zu Kants Glücksbegriff. In: Kant-Studien 93 (2002), 177199)).

Zum zentralen Argument der kantischen Theorie

Die entscheidenden Einsichten Kants (aber auch schon der Tradition), welche ich für nachprüfbar und wahr halte, sind diese: (A) Voraussetzung nicht nur für das Erkennen von Objekten der äußeren und inneren Erfahrung, sondern auch des Entscheidens und Handelns ist ein nichtempirisches, erkennendes und handelndes Subjekt als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung und bewussten überlegten Handelns. Dieses sog. transzendentale Subjekt ist selbst nicht direkt empirisch erkennbar und erfahrbar. (B) Die zweite Voraussetzung eigenen selbstständigen Denkens und Erkennens und Handelns ist Sprache und Vernunft als Bedingung der Möglichkeit, objektive, intersubjektive Urteile über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu bilden, zu argumentieren, Hypothesen aufzustellen, alternative Handlungsmöglichkeiten zu bewerten und Orientierung und Ziele über den Augenblick hinaus zu schaffen. Empirisches setzt notwendig Nichtempirisches voraus.

Diese Einsichten haben wir schon in anderen Zusammenhängen als grundlegend kennen gelernt. Sie haben in der Analytischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu den zwei bekannten Paradigmenwechseln geführt: zur sogenannten kognitiven Wende (cognitive turn = o.g. Bedingung (B)) und zur sogenannten transzendentalen Wende (transcendental turn = o.g. Bedingung (A)). Beide vollziehen aber die in Rede stehenden Einsichten Platons, Leibniz' und Kants von der Theoriehaltigkeit und Subjektabhängigkeit des Zugangs zur Realität nach. Das bedeutet aber noch einmal ganz kompakt: Aller Zugang zur Realität in Wahrnehmung, Kognition und Praxis ist die eines Subjekts und seiner Erfahrungs- und Denkformen: Ich erfahre die Natur. (a) Ich = Basisrealität der subjektiven Erfahrung mit inneren mentalen Empfindungen, Zuständen und Vorgängen: kognitives Subjekt; (b) erfahre = Realität der objektiven Natur im Medium der sinnlichen und begrifflichen Erfassung, kognitiven Konstruktion und mentalen Repräsentation (Erscheinung), d.h. als Gegenstand der objektiven Erfahrung: kognitive Repräsentation und Verarbeitung; (c) die Natur = die Realität der objektiven Natur als Sein in sich (Ding an sich), d.h. als offen transzendenter Erfahrungshorizont: kognitives Objekt.

Kant arbeitet auf diesem Hintergrund und im Blick auf das Handeln heraus, dass es nicht nur eine empirische Motivation des Handelns gibt, also empirische Bestimmungsgründe im Sinne materieller, sinnlicher oder egoistischer Lust/Unlustmotivation, sondern auch eine Vernunftmotivation durch nichtempirische Bestimmungsgründe aus reiner praktischer Vernunft. Das Ziel von Kants ethischem Hauptwerk Kritik der praktischen Vernunft ist "dar[zu]tun, daß es reine praktische Vernunft gebe" (Vorrede). Diese Vernunftmotivation ist ein objektives, universelles und kategorisches (unbedingtes) moralisches Gesetz des Handelns. Sie ist das Moralprinzip des Kategorischen Imperativs [= KI]. In der sog. Grundformel lautet dieser: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (KprV A 54).

Kant vor russ. Offizieren [KFS Mainz: Ikonographie 044]Nur die Konfrontation mit dem KI erschließt und definiert dabei moralische, vernunftorientierte, nicht naturkausal determinierte Freiheit und Autonomie. Bloße physische äußere Handlungsfreiheit und psychische, innere  Entscheidungsfreiheit sind mit empirischer, naturkausaler, neuro- und soziobiologischer Fremdbestimmung verträglich. Nur und genau der KI ist, so Kant, das Tor, das uns erlaubt, aus der sinnlichen, raumzeitlichen Erscheinungswelt herauszutreten und in Verbindung mit der eigentlich realen Welt an sich zu kommen, welche ideelle, geistige, personale Realität ist: Durch das übersinnliche und unbedingte moralische Gesetz des KI "eröffnet sich ... daß ... nicht alles Übersinnliche für Erdichtung und dessen Begriff für leer an Inhalt zu halten [ist, indem] praktische Vernunft einem übersinnlichen Gegenstande ..., nämlich der Freiheit, Realität verschafft ... also ... durch ein Faktum bestätigt." (KprV, Vorrede 10) [Bild oben: Kant hält im Siebenjährigen Krieg vor russischen Offizieren Vorlesung (17581762). Gemälde von I. Soyockina / V. Gracov. Standort: Kantmuseum Kaliningrad]

Kants Beweisziel ist: Es gibt „eine moralische Welt“ der praktischen Vernunft und Freiheit. Ihr kommt harte, echte „objektive Realität“ (KrV B 834) zu. Es existiert ein analytischer Zusammenhang zwischen Freiheit, freiem Handeln und Moral, insofern das „Faktum der [praktischen, moralischen] Vernunft“, d.h. das Bewusstsein des kategorischen Imperativs als Moralprinzip, als befehlende, Achtung fordernde Gesetzgebung epistemischer Aufweis (ratio cognoscendi) der Freiheit ist (KprV §§ 16, §§ 1112; vgl. Willaschek: Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/Weimar,1992, 169248, v.a. 174214, 228).

Der KI führt in dieser moralischen Gesetzgebung aber keine hinreichende und notwendige Bestimmung (Nötigung) des Willens mit sich, weshalb er als moralischer Imperativ, als Befehl und Sollen der reinen praktischen Vernunft in das Bewusstsein tritt. Kant räumt ein, dass dies für Menschen eine Herausforderung bedeutet und sie dazu neigen, sich gegen dieses "moralische Gesetz ... in seiner feierlichen Majestät ... zu wehren" und wie z.B. im Utilitarismus (s.u.) versuchen, "es einer anderen Ursache [als dem vorgegebenen Gesetze der reinen Vernunft] zuzuschreiben ..., weswegen man es gern zu unserer vertraulichen Neigung herabwürdigen möchte, und sich aus anderen Ursachen alles so [zurechtzulegen] bemüh[t], um es zur beliebten Vorschrift unseres eigenen wohlverstandenen Vorteils zu machen", und so von "der abschreckenden Achtung [des KI], die uns unsere eigene Unwürdigkeit so strenge vorhält, los" zu kommen. Aber er glaubt auch: "Wenn man einmal den Eigendünkel abgelegt, und jener Achtung praktischen Einfluß verstattet hat, [kann] man sich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt sehen" (KprV 137138).

Es ist bekannt, dass Kant den KI als Fenster zur Transzendenz betrachtet und auf denselben den von ihm bevorzugten sog. ethikotheologischen Gottesbeweis gründet,´der von der Tatsache der sittlichen Welt (Kategorischer Imperativ als vorgegebenes Faktum der Vernunft) aus argumentiert, dass "Gott ... durchs moralische Gesetz in uns seinen Willen offenbart hat" (RiGbV 218). Oder diese Stelle: "Nun gibt es aber ein praktisches Erkenntnis, das  ... auf Vernunft beruht [und ...] jedem ... ins Herz geschrieben [ist] und ... in jedermanns Bewußtsein unbedingte Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität; und was noch mehr ist, diese Erkenntnis führt, entweder für sich allein auf den Glauben an Gott, oder bestimmt wenigstens allein seinen Begriff als den eines moralischen Gesetzgebers" (RiGbV 280). In KprV 229 Anm. vergleicht Kant die Ethiken der Zyniker, Stoiker, Epikuräer mit der Ethik des neutestamentlichen Israel. Die moralisch überlegene Leitidee der apostolischen Evangelien ist so Kant die „Heiligkeit“, die die Ethik des kategorischen Imperativs sei (KprV 229231). Vgl. die weiterführende Diskussion im Menu Atheismusdebatte und Negative Theologie.

Gegen das kantische "Faktum der Vernunft" als Bewusstmachung und Anerkennung der praktischen Vernunft, verstanden als ein vorgegebenes unbedingtes praktisches Grundgesetz, argumentieren: Adorno: Negative Dialektik, 6. Aufl. Frankfurt/M. 1990 [1966]; Beck: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar, München 1974 [Engl.: Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, Chikago 1960]; Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt/M. 1983, und Bittner: Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg 1983. Sie sehen darin eine Inkonsequenz und einen Rückfall Kants hinter die behauptete moralische Autonomie qua absoluter Freiheit. Gegenargumentationen entwickeln Düsing: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie. In: Kant-Studien 62 (1971), 542, und Willaschek (a.a.O. 1992, v.a. 339346). Die Stellung und Funktion der Theologie in Kants Werk analysiert wahrscheinlich am gründlichsten und umfassendsten Ertl: Kants Auflösung der „dritten Antinomie“. Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts für die Freiheitslehre, Freiburg/München 1998, v.a. 7277, 131136. Vgl. auch hier die weiterführend die Menus Negative Theologie und Atheismusdebatte.

Die Anwendung des KI auf die lebensweltliche Praxis geschieht durch subjektive Maximen oder praktische Grundsätze des empirischen Handelns. Der Kategorische Imperativ ist dabei kein inhaltliches Prinzip, sondern eine Metaregel. Er ist formaler Maßstab der Überprüfung von Maximen. Die Maximenüberprüfung geschieht durch Prüfung auf  logische Widerspruchsfreiheit der angesetzten allgemeinen Gesetzgebung (Nicht-anders-denken-können) und durch Prüfung der praktischen Widerspruchslosigkeit des Wollens der angesetzten allgemeinen Gesetzgebung (Nicht-anders-wollen-können). Das Handeln soll solchen Gesetzen und Maximen folgen, dass die soziale, menschliche Welt eine ähnliche Wohlordnung und Harmonie erfährt wie die biologische und ökologische Natur (= Naturgesetzformel des KI].

Dem Vernunftgesetz des KI ist dabei ein reiner unbedingter Inhalt oder Vernunftzweck unmittelbar zugeordnet. Dieser unbedingte inhaltliche Zweck sind nur und genau Personen, welche nicht nur Mittel, sondern Selbstzweck sind. Letzteres sind sie, insofern sie Verkörperungen, Träger und Zwecke der reinen praktischen Vernunft sind. Personen sind dadurch ipso facto Vernunftwesen, die sich selbst bestimmen können, sich selbst das Gesetz des Handelns geben und unbedingte Zwecke erkennen, die zugleich Pflichten sind: die eigene Vollkommenheit und das fremde Glück ( = Selbstzweckformel des KI).

In den Worten Kants: "Es kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch-bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit ... unter sich hat. Es ist nichts anders als die Persönlichkeit, d.i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur ... da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen, in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung, nicht anders, als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß [...] Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit." (KprV 154156)

Personen sollen schließlich eine moralische Gemeinschaft, ein sog. Reich der Zwecke bilden, indem sie so handeln, als ob sie jederzeit ein gesetzgebendes Glied in diesem moralischen Reich der Zwecke wären (= Autonomieformel des KI).

Es wurde gesagt: Der KI wird auf unsere lebensweltlichen Maximen angewandt. Maximen verkörpern praktisches Orientierungswissen für inhaltliche Lebensbereiche und Leitprinzipien der Lebensführung. Die Inhalte der Maximen decken sich weitgehend mit dem, was zum Streben nach personaler Selbstverwirklichung und ganzheitlichem Glück (Eudaimonie im Sinne des Aristoteles) gehört: "Diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist ... nicht  ... Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen [...] Nur, seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmittelbar niemals ... ein Prinzip aller Pflicht sein." (KprV 166167)

Die Maximen ihrerseits werden auf Handlungsregeln oder besondere moralische Gesetze angewandt. Moralische Gesetze sind Anwendungen der Maximen auf konkrete Situationstypen. Diese konkrete Anwendung und Umsetzung geschieht weitgehend durch lebenskluge und technisch kompetente Abwägung der Folgen des Handelns, also konsequentialistisch oder teleologisch. Handlungsfolgen definieren und präzisieren die Anwendung sittlicher Maximen, sie begründen diese nicht. Die unterste Ebene sind die individuellen Situationen mit der konkreten praktischen Entscheidung bzw. konkreten Pflicht.

Moralisch gut ist eine Handlung daher dann, wenn ihr Bestimmungsgrund oder Motiv die reine Vernunftform des Moralprinzips ist: „Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme" (KprV A 126) Oder: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1). Moralisch schlecht ist eine Handlung, wenn ihr Bestimmungsgrund oder Motiv empirische Neigung ist, die der Pflicht widerspricht. Dies ist wie im Allgemeinen die Grundsätze und der Aufbau der kantischen Ethik überhaupt bereits ein Axiom der Tradition. Bei Thomas Aquinas etwa als Definition des eigentlich und wesentlich Guten bzw. Bösen durch die Ausrichtung bzw. Verweigerung des inneren Willensaktes (actus interioris voluntatis) gegenüber der praktischen Vernunft (Summa theologica 1II, qu.19, art. 5).

Zur Interpretation der Ethik Kants

In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich der Zusammenhang der Philosophie Kants mit der philosophischen Tradition zu einem Schwerpunkt der Kantforschung. Das gilt auch von der praktischen Philosophie Kants und ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext in der kontinentalen und angelsächsischen neuzeitlichen Moralphilosophie sowie von den tiefer liegenden Quellen bei Aristoteles, in der Stoa, in der Scholastik und hier noch einmal bei Thomas von Aquin. Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Ethik bei Immanuel Kant, also der Entsprechung zur Handlungstheorie und Allgemeinen Ethik bei Aristoteles und Thomas Aquinas, liegt allerdings bisher keine Rekonstruktion der Art vor, dass sie es erlaubte, beide Grundlegungen systematisch in Parallele zu setzen.

Diesem Ziel dient die folgende Ausarbeitung, die die der ethischen Grundlegung Thomas von Aquins entsprechende Fundamentalethik Immanuel Kants herausarbeitet. Die Untersuchung verfährt dergestalt, dass sie Kants Allgemeine Ethik vollständig dokumentiert und die wichtigsten Diskussionen und besonders einschlägige Ergebnisse der Forschungsliteratur bilanziert. Die entscheidenden kantischen Bezugstexte sind die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), die Kritik der praktischen Vernunft (KprV, 1788) und die Metaphysik der Sitten (1797). Im Zentrum steht dabei die Kritik der praktischen Vernunft als Basistext der kantischen Fundamentalethik sowie nach der inhaltlichen Seite der Ethik die ähnlich wichtige Metaphysik der Sitten.

Unsere Untersuchung behandelt wie die kantischen Quellentexte nur und genau die rationale Prinzipientheorie der menschlichen Praxis. Methodisch handelt es sich dabei um begriffliche Analyse, welche notwendige, nichtempirische [apriorische] Vernunfteinsichten und logische Zusammenhänge deutlich macht: „Was Schlimmeres könnte aber diesen Bemühungen wohl nicht begegnen, als wenn jemand die unerwartete Entdeckung machte, daß es überall gar kein Erkenntnis a priori gebe, noch geben könne. Allein es hat hiermit keine Not. Es wäre eben so viel, als ob jemand durch Vernunft beweisen wollte, daß es keine Vernunft gebe. Denn wir sagen nur, daß wir etwas durch Vernunft erkennen, wenn wir uns bewußt sind, daß wir es auch hätten wissen können, wenn es uns auch nicht so in der Erfahrung vorgekommen wäre; mithin ist Vernunfterkenntnis und Erkenntnis a priori einerlei.“ (Vorrede KprV 2324) Die Diskussion der Parallelen bei Aquinas erfolgt jeweils am Ende der Gliederungsabschnitte und wird zur besseren Orientierung durch eine andere Schriftart (Arial) abgesetzt.

Hier die Verknüpfung zu dieser Ausarbeitung mit dem Arbeitstitel: Die Allgemeine Ethik Kants nach der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten. Systematische Rekonstruktion unter fortlaufendem Vergleich der Parallelen zur Allgemeinen Ethik Thomas von Aquins. In der geplanten Druckfassung des Menus unter dem Titel 'Handlungstheorie und Ethik. Edition novum studium generale 7' wird es das 'Kapitel 4 Kantische Handlungstheorie und Ethik' bilden. Mit einem Umfang von 98 Seiten ist die Ausarbeitung nach Umfang und Tiefgang selbst ein eigenes Buch. In dieser Fassung kann sie hier heruntergeladen werden:

Weiterführungen des Gesagten können Interessierte in den folgenden Verknüpfungen einsehen, welche mehr fachphilosophisch gehalten sind.

Hier 40 Thesen zu (philosophischen) Voraussetzungen und (theologischen) Folgen von Kants Ethik:

Eine ergänzende Erörterung und Wertung des vorhergehenden Skripts bietet folgende Verknüpfung zur Skizze des ethikotheologischen Arguments:

Konsequentialistische Handlungstheorie und Ethik

Ursprünge und klassische Position des Utilitarismus

Konsequentialistische Ethik (auch utilitaristische Ethik oder teleologische Ethik bzw. in grober Näherung Verantwortungsethik) baut Moral von den Handlungs-Folgen her auf, als Nutzenoptimierung oder Maximierung außersittlicher materieller, sinnlicher, ästhetischer, humaner Werte. Dieser Ansatz geht auf Thomas Hobbes, Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith zurück und wurde besonders von Jeremy Bentham (17481832) als Nützlichkeitskalkül in der Perspektive profanen Glücksstrebens entwickelt. Handlungsmotive sind Lust (Glück, Wohl) und Leid: „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do. On the one hand the standard of right and wrong, on the other the chain of causes and effects, are fastened to their throne“ (Bentham: Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1789, ch. I, 1). Der Ansatz steht ursprünglich und z.T. bis heute im Zusammenhang einer empiristischen bis materialistischen Weltanschauung. Seine Anziehungskraft speziell für liberal-pluralistische Gesellschaften liegt darin, dass er eine metaphysikfreie Moral bietet, welche durch den sozialen Nutzen der Handlungsfolgen für eudaimonistische oder hedonistische Ziele (Glück und Lust) der Allgemeinheit begründet wird.

Man kann daher den Konsequentialismus auf diese Prinzipien festlegen: (1) Konsequenzenprinzip: Moralität von Handlungen ist eine Funktion der Folgen. (2) Utilitätsprinzip: Moralität der Folgen ist eine Funktion des Nutzens. (3) Hedonismusprinzip: Moralität des Nutzens ist Lustvermehrung und Unlustverringerung. (4) Sozialprinzip: Moralität der Lustvermehrung und Unlustverringerung ist die universelle, kollektive Lustmaximierung. Bis heute inspirierend und maßgebend sind für diesen Ansatz die moralphilosophischen Analysen David Humes, der eine nichtegoistische oder altruistische Moraltheorie auf der Basis von Empirismus und Hedonismus vertritt. So hält auch der derzeit bekannteste Konsequentialist Peter Singer (siehe in Folge) Humes Erklärung der Entstehung des moralischen Gefühls für zutreffend. Humes Analysen sollen daher kurz vorgestellt werden - unter Bezug auf das diesbezügliche Hauptwerk Enquiry concerning the Principles of Morals (1751).

Humes Voraussetzung ist, dass nur und genau sinnlich-empirische Gefühle oder Affekte und damit eine Lust-Unlust-Motivation Handlungsantrieb der Menschen ist. Hume setzt deswegen weiter an, dass Nutzen in der Perspektive von Lust/Unlust-Motivation auch die Quelle der Moral ist, welche er als moralisches Gefühl bestimmt. Moral ist nützliches Mittel zum persönlichen und v.a. sozialen Lustgewinn. Wie dies zu sehen ist, will Hume durch die Unterscheidung direkter und indirekter Affekte zeigen. Direkte Affekte beziehen sich auf individuelle Objekte bzw. Güter oder Übel resp. egoistische Lust und Unlust. Indirekte Affekte beziehen sich auf Personen aufgrund von Lust/Unlust (Liebe/Hass) hervorrufender Qualitäten derselben. Dabei findet moralische Billigung und ist Gegenstand von Achtung und Zuneigung soziales Verhalten und Altruismus, also Wohlwollen gegen die Mitmenschen und die menschliche Gesellschaft. Egoistische, asoziale Einstellungen erfahren dagegen Verachtung und Hass. Wir wollen nun, dass unsere individuellen indirekten Affekte auch intersubjektiv gefallen und gelten, weshalb wir uns in die indirekten Affekte anderer sympathetisch einfühlen, sie kommunizieren und uns mit diesen synchronisieren, was zu einer Objektivierung und Verallgemeinerung derselben führt. Diese Dynamik ist genau der Attraktor des kollektiven moralischen Gefühls, also der Bejahung sozialen Verhaltens. Das egoistische Motiv sozialer Bestätigung und Anerkennung erzeugt somit das soziale moralische Gefühl. Die viel diskutierten Fehlstellen dieser Theorie sind die Ausblendung von genuin vernünftiger Handlungsmotivation (praktische Vernunft) zugunsten sinnlicher Lust/Unlust-Antriebe, von innerer Moralität zugunsten sozialem Ethos, von distributiver Gerechtigkeit zugunsten der Nutzensumme.

Beim Utilitarismus / Konsequentialismus (die letztere Bezeichnung stammt erst von E. Anscombe um 1950) handelt es sich ursprünglich um das Programm einer wissenschaftlich begründeten Ethik und einer rationalen Gesetzgebung, welches dem klassischen Liberalismus und der klassischen Nationalökonomie nahe steht. Man hat diesen daher schon oft Sozialpragmatik oder Sozialeudaimonismus genannt. Stärken des Konsequentialismus sind deswegen auch Fragen der Nationalökonomie, der Wirtschaftsethik und der ökologischen Ethik. Grundlage für die ethische Bewertung einer Handlung ist wie erwähnt das Nützlichkeitsprinzip für eudaimonistische oder hedonistische Ziele. Das sittliche Gut ist das allgemeine Glück bzw. Wohlergehen. Hedonismus bedeutet, dass Lust oder Glück das einzige Gut in sich ist und Leid das einzige Schlechte in sich. Innere Beweggründe sind für die Bewertung einer Handlung nebensächlich. Gerechtigkeit und charakterliche Hochwertigkeit sind in der ursprünglichen Fassung keine moralischen Güter. Moralisch wichtig sind nur oder vorrangig die sozialen Folgen von Handlungen: Sie sind richtig, wenn sie der Allgemeinheit oder der größten Zahl nützen und moralisch falsch, wenn sie der Allgemeinheit schaden. Das Leitprinzip ist das größte Glück der größten Zahl ( greatest-happiness-principle). Utilitarismus ist ferner dem Prinzip der Gleichheit verpflichtet (egalitär), da Glück und Leid jedes Menschen (oder auch sonstiger Lebewesen) das gleiche Gewicht besitzen. Dies widerspricht dem intuitiven moralischen Vorverständnis, wonach das Leben und Glück nahestehender Personen wichtiger als das Fremder ist, weshalb moderne Richtungen hier und an anderen Thesen des klassischen Utilitarismus Korrekturen vornehmen (s.u.).

J. Bentham [WikiCommons]Der Ansatz verbindet dabei ursprünglich bei Bentham [Bild rechts] eine atheistische und materialistische Weltanschauung mit der Forderung nach demokratischer Rechtsgleichheit und mit einem Rechtspositivismus, welcher die Vorstellung eines vorgegebenen Naturrechts als auch die Vorstellung natürlicher Menschenrechte zurückweist. Menschen verfolgen nach Bentham ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen nur eigene Interessen. Recht und Gesetz haben daher die Aufgabe, die Bürger durch Abschreckung mittels Strafandrohung zum Gemeinwohl und damit auch zum größten Nutzen jedes Einzelnen zu zwingen. Dies geschieht konkret durch einen staatlichen Überwachungs- und Kontrollapparat. Darum ist Bentham sowohl Vordenker des modernen liberal-demokratischen Rechtsstaates wie auch totalitärer Herrschafts- und Repressionsmethoden. Dieser auf den ersten Blick paradoxe Zusammenhang ist kein Zufall und kehrt als strukturelle Konstante und Problem im Utilitarismus stets wieder. (Die Bentham'sche Verbindung ebenso radikaler wie widersprüchlicher Standpunkte erschien übrigens seinem Altersgenossen Goethe als "Gipfel aller Tollheit" und für Marx war er ein "Genie ... der bürgerlichen Dummheit".) Von bleibender Bedeutung für den Utilitarismus resp. Konsequentialismus ist ferner der nichtmetaphysische Ansatz. Das Ziel ist und bleibt eine Ethik ohne Metaphysik.

Weiterentwicklung des Konsequentialismus

Der zweite große Denker des Utilitarismus ist John Stewart Mill in dem gleichnamigen Werk Utilitarianism (1863). Mill betont im Gegensatz zu Bentham, dass kulturelle, intellektuelle und spirituelle Erfüllung oder Lust eine im Vergleich zu körperlicher Befriedigung größere Qualität besitzt und dass Freiheit bessere Voraussetzungen für Nutzenmaximierung biete als staatliche Kontrolle und Zwang. In dieser Linie entwickelte auch Henry Sidgwick (18381900): Methods of Ethics (1875) und Bertrand Russell (18721970) den Utilitarismus weiter. Der heute stark vertretene distributive Präferenzutilitarismus (Peter Singer) definiert z.B. als moralisches Gut oder Ziel nicht gleiche Behandlung für alle, sondern gleiche Berücksichtigung der unterschiedlichen Präferenzen (Wünsche und Interessen) von Personen. Die zu bewertenden Konsequenzen können also auch andere Dinge als materielle und sinnliche Lustbefriedigung sein, beispielsweise Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, soziale Geltung.

Weiterführende und gegenüber Kritik verbesserte Varianten des Utilitarismus in neuerer Zeit stammen u.a. von R. M. Hare (19192002), R. Brandt (19101997), J. J. C. Smart (* 1920), dem erwähnten P. Singer (* 1946): Praktische Ethik, Stuttgart 1991 [Practical Ethics, Cambridge 1979). In Deutschland sind der Mainzer Rechtsphilosoph Norbert Hoerster, der Düsseldorfer Vordenker der Tier- und Bioethik Dieter Birnbacher und Rainer Trapp (Osnabrück) zu nennen. J. L. Mackie (19171981): Ethik, Stuttgart 1984 und W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, IV: Kripkes Wittgenstein. Empiristischer Vorstoß ins Normative und Transzendente, Stuttgart 1989, bieten eine der meist diskutierten aktuellen Rekonstruktionen. Das Moralprinzip wird von Mackie und Stegmüller (1989, 264265, 268281) als ichbezogener Altruismus definiert, der deontologisch als Pflicht in sich interpretiert wird. Der distributiven Gerechtigkeit soll durch Einbau verschiedener Universalisierbarkeitsfilter in einem utilitaristischen Rahmen Rechnung getragen werden. Es wird also (wie heute sehr oft) eine Synthese von Deontologie und Konsequentialismus angestrebt (vgl. Stegmüller 1989, 194200, 226236). Auf Hobbes’ diesbezügliche Vorarbeiten zurückgreifend, wird um die moralphilosophische Dimension ein rechtlicher Rahmen zur Garantierung des langfristigen Eigeninteresses gelegt, und dieser wiederum durch einen Gürtel von Sanktionsmechanismen (gegen nicht freiwillig Gehorchende) befestigt (vgl. Stegmüller 1989, 259261, 302304). Für eventuelle Kollisionen von Freiheitsrechten, Anspruchsrechten und Schutzrechten werden dabei Vorzugsregeln formuliert.

Auch das Recht wird in der Logik dieser Rekonstruktion nicht naturrechtlich bestimmt, durch zeit- und umständeabhängige Ausdifferenzierung realer Grundwerte durch die objektive praktische Vernunft, sondern im Sinne des subjektiven ethischen Rationalismus. Das Recht ist durch Tradition und Autorität positiv gesetztes Recht (Stegmüller 1989, 326333). Stegmüller diskutiert allerdings offen die Problematik jeder rechtspositivistischen Normenbegründung: Der tendenzielle Relativismus und Autoritarismus; die Ignorierung und Ausgrenzung von Minderheiten; die Ignorierung und Einebnung der individuellen Gewissensverantwortung durch Identifizierung der Moralität mit dem Gehorsam gegen die etablierten Institutionen. Die Kants Moralphilosophie verpflichtete Harvarder Ethikerin Christine Korsgaard (The Sources of Normativity, Cambridge 1996, 189, 225248) hebt daher als echte Schwachstellen der empiristischen Tradition und des Utilitarismus heraus, dass die Normenbegründung subjektivistisch erfolgt, und dass dieser Ansatz moralisches Bewusstsein und Verantwortung durch äußeres Lob bzw. Tadel entstehen und begründet sein lässt. Sie sieht demgegenüber die fundamentale Übereinstimmung zwischen Aristoteles' und Kants Ethik darin, dass beide menschliche Handlungen als durch die Vernunft bestimmt ansehen und beide als Ziel des Handelns das moralisch Gute bestimmen: „Wenn man also mit Kant und Aristoteles davon ausgeht, dass der Gegenstand von Moral die Handlungsweise als ganze ist, dann ist der Konsequenzialismus offensichtlich keine Moraltheorie, sondern eine Art technologische Vision, ein Moralersatz, ein sozialtechnisches Projekt.“ (Interview mit C. Korsgaard. In: Pauer-Studer (Hrsg.): Konstruktionen praktischer Vernunft, Frankfurt 2000, 47)

Dass auch Kants Ethik selbst in bewusster Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus gereift ist, zeigt überzeugend Recki (2001, 2841, v.a. 2829). Denn bereits vor Benthams Grundbuch des Utilitarismus von 1789 lag entsprechendes Gedankengut bei Hutcheson und tendenziell auch bei Chr. Wolff in der ersten Hälfte des 18. Jh. vor.

Gegenwärtige Ansätze und Standpunkte

Der Konsequentialismus ist heute kein einheitlicher Theorieansatz mehr, sondern eher ein Dachbegriff für sehr unterschiedliche Standpunkte und Moralbegründungen, deren gemeinsamer Nenner der Vorrang der Handlungsfolgen-Abschätzung in einem empiristischen, nichtmetaphysischen Rahmen ist. Die wichtigsten hiervon sind die Folgenden.

Die vorrangige Unterscheidung im Utilitarismus ist heute die zwischen Akt- oder Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus. Der Handlungsutilitarismus bezieht das „Prinzip des größten Nutzens“ auf die einzelne Handlung, wie z.B.: Entwicklung eines autarken spionagesicheren Betriebssystems für Bundesbehörden bis 12/2021. Die Folgen der zur Auswahl stehenden Handlungsalternativen werden ermittelt und unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens bewertet. Der Regelutilitarismus bezieht die utilitaristische Norm auf Handlungsregeln wie: Die nationale Sicherheit gebietet staatliche Kontrolle und Schutz des digitalen Datenverkehrs auf Geräte- wie Programmierebene. Man fragt dann, welche Folgen die Einhaltung der zur Auswahl stehenden Handlungsregeln jeweils hätte und wie man diese bewerten muss. Richtig ist sodann naheliegenderweise die Regel, die den größten allgemeinen Nutzen mit sich bringt. Die einzelnen Handlungen werden aufgrund der beschlossenen Regel moralisch bewertet.

Ähnlich wichtig ist die Unterscheidung von agensbezogenem (agent-relative) Konsequentialismus und agensneutralem (agent-neutral) K. Ersterer bewertet die Handlungsfolgen vom Standpunkt des Handelnden und nimmt einen Vorrang persönlicher und familiärer Interessen und Bedürfnisse vor dem globalen Gemeinwohl an. Letzterer verlangt einen neutralen Beobachterstandpunkt unabhängig von eigenen Interessen und Antrieben und fordert daher die Kritik heraus, dass die undifferenzierte Gleichbehandlung aller Menschen sowohl unmoralisch wie unrealistisch ist. Nahestehende und um einen selbst verdiente Menschen wie auch um das Gemeinwohl besorgte Leistungsträger und Persönlichkeiten hätten mehr Anspruch auf unsere Achtung, Zuwendung und Vergeltung als völlig Fremde oder unverschämte, amoralische Personen. Es sei geboten, die bürgerlichen Rechte anderer gleichmäßig zu respektieren, aber nicht unterschiedslos alle gleich zu lieben und zu begünstigen.

Eine viel erörterte fiktive Fallstudie ist Organtransplantation dergestalt, dass in einer Klinik fünf Patienten sterben werden, wenn der erste kein Spenderherz, der zweite keine Leber, der dritte keine Niere usw. erhält. Nur Organtransplantationen können ihr Leben erhalten. Ein sechster gesunder Patient, dessen Körpergewebe verträglich zu dem der anderen fünf Patienten ist, befindet sich zu einer Routineuntersuchung in derselben Klinik. Darf und soll der Chirurge dem sechsten Patienten gegen seinen Willen die Organe entnehmen, was dessen Tod zur Folge hat, um das Leben der anderen fünf zu retten? Agensneutrale K. müssten eigentlich sagen: Ja. Denn die objektive Gesamtnutzensumme der Folgen wäre besser: Ein Toter statt fünf Toten. Agensbezogene K. können sagen: Nein. Denn die persönliche traumatische Belastung des Chirurgen wäre z.B. so erheblich, dass sie stärker wiegt als der objektive Folgenkalkül.

Kritik an der utilitaristischen Ethik setzt überhaupt sehr oft daran an, dass sie Handlungen befürwortet, welche ansonsten als äußerst unmoralisch bewertet werden, wie z.B. Folterung oder Tötung von Menschen, um so andere zu retten. Utilitaristen oder Konsequentialisten sagen dazu, dass in solchen Dilemma-Situationen der Utilitarismus nur auf den ersten Blick eine falsch erscheinende Handlung nahelegt, was bei Berücksichtigung aller auch mittelbaren und langfristigen Folgen sich anders darstelle. So würde etwa Folter und politischer Mord langfristig den Verlust des Vertrauens in die staatliche Organisation nach sich ziehen und daher nicht optimal sein. Man betont, dass viele intuitive Moralvorstellungen utilitaristisch rekonstruiert werden können, da ihre Anwendung aufs Ganze gesehen und langfristig nutzenmaximierend ist.

Kritik und Widerstand erfährt auch die Fassung der Bio- und Tierethik, welche von modernen Konsequentialisten wie Peter Singer vorgelegt wird. Dabei wird der ontologische Vorrang der Spezies Mensch abgelehnt. Personalität und moralische Würde wird an aktuelles Selbstbewusstsein der eigenen Identität mit einer Vergangenheit und Zukunft gebunden, so dass Embryos und Neugeborene, Komatöse und schwer Geistesgestörte sie nicht oder weniger besitzen als höhere tierische Lebensformen mit ansatzhaftem Selbstbewusstsein und Gedächtnis wie besonders Wale, Delphine und Menschenaffen. Moralischer Wert wird an das Vorhandensein eines zentralen Nervensystems (Gehirn) gekoppelt als Grundlage von Gedächtnis und Fühlen von Lust und Schmerz. Die Zugehörigkeit zu einer Spezies (Rind, Hund, Thunfisch, Mensch) hat darüber hinaus bei der Frage des moralischen Unrechts, Leid zuzufügen oder zu töten, an sich keine Bedeutung, weshalb wir bewusst-empfindende Wesen mit einem zentralen Nervensystem (Gehirn) nicht töten sollten. Nur Wesen ohne Bewusstsein (leblose Dinge, Pflanzen, primitive Tiere ohne ZNS) haben keinen moralischen Wert an sich und sind grundsätzlich verfügbar.

Sodann gibt es objektive Konsequentialisten, für welche die objektiven, tatsächlich nachweisbaren Folgen zählen; und subjektive Konsequentialisten, welche die moralische Bewertung von den vernünftigerweise beabsichtigten oder vorhergesehenen Folgen abhängig machen.

Ein weiterer Gesichts- und Standpunkt ist der Duale Konsequentialismus, welcher bei der richtigen Handlung zwei Bedeutungen unterschiedet. Einmal die objektive Bedeutung = Handlung mit den besten Folgen; zum anderen die moralische Bedeutung = Handlung mit den besten vernünftigerweise erwarteten Folgen. Der verwandte Doppel-Konsequentialismus macht dieselbe Unterscheidung, definiert aber die moralische Bedeutung als Handlung, welche vernünftigerweise als objektiv richtig bewertet wird, nicht als beste Folge, welche vernünftigerweise erwartet wird. Auch wer es aufgrund fehlender eigener Kenntnisse als vernünftig ansieht, den geltenden sozialen und religiösen Regeln in Bezug auf erlaubte/verbotene Handlungen zu folgen, ohne eine Folgenabschätzung vorzunehmen, handelt demgemäß moralisch. Diese Weiterentwicklung des K. ist ein Beispiel dafür, dass und wie sich in der modernen Diskussion die Grenzen zu anderen Ethiken wie zu jener Kants öffnen. Denn hier handelt es sich schon um eine gemischt konsequentialistisch-deontologische Theorie: Die kantische Ethik gilt vergröbert als deontologische [= Pflichten-]Ethik, welche Moral von der Wahl in sich sittlicher Handlungen und damit von der Gesinnung her bestimmt.

Weiter: Der direkte Konsequentialismus macht die moralische Qualität einer Handlung / Motivs / Charaktereigenschaft von den Folgen der Handlung / des Motivs / der Eigenschaft abhängig. Der indirekte K. macht die moralische Qualität einer Handlung auch oder vorrangig von der Qualität des Motivs (motive consequentialism) oder des Charakters (virtue consequentialism) abhängig. Hier liegt ein weiterer Fall vor, wo der K. mit anderen Ethiken verschmilzt, hier mit der kantischen resp. aristotelischen Ethik. Letztere wird bekanntlich manchmal sehr vereinfacht als Tugendethik beschrieben, welche Moralität vom hochwertigen sittlichen Charakter des Handelnden und dessen sozial eingebetteter Verwirklichung her begründet.

Derselben Erscheinung begegnet man bei der Letztbegründung des Moralischen im Konsequentialismus. Ursprünglich und so auch bei dem weiteren großen Vordenker des K., J. S. Mill, ist die Letztbegründung empirisch, mit eventuellen impliziten naturrechtlichen Anleihen: Man verweist für die Begründung moralischen Handelns auf die faktisch bestehenden Wünsche und Interessen, also ganz allgemein das Glücksstreben der Menschen, das zu respektieren sei. Dagegen versuchte der sehr bedeutsame Utilitarist Sidgwick, den Konsequentialismus moralisch aus der praktischen Vernunft im Sinne des objektiven ethischen Rationalismus und dem Universalisierungskriterium abzuleiten, was ebenfalls eine Synthese des K. mit der kantischen Theorie ist. Ähnliche Anleihen bei Kant macht der heute sehr einflussreiche Konsequentialist Peter Singer, wenn er das "Paradox des Hedonismus" analysiert, wonach "diejenigen, die um des Glücks willen nach Glück streben, es oft verfehlen, während andere bei der Beschäftigung mit gänzlich anderen Zielen es finden". Denn: "Wir suchen einen Sinn für unser Leben jenseits unserer Vergnügungen und finden darin Erfüllung und Glück, daß wir tun, was wir für sinnvoll halten [...] Unser eigenes Glück ist daher ein Nebenprodukt des Strebens nach etwas anderem und nicht dadurch zu erlangen, daß wir unsere Blicke allein auf das Glück richten." (Praktische Ethik, Stuttgart 1991, 295296)

P. Singer [WikiCommons]In der 2. Hälfte des 20. Jh. wurden weitere Fassungen des K. vorgelegt, die den K. durch deontologische (R. M. Hare, Robert Nozick) resp. vertragstheoretische (wiederum Singer [Foto rechts, v. J. T. Sage], Harsanyi) und tugendtheoretische Grundsätze ergänzten und abfederten. So wird die Meinung vertreten, dass zu den moralisch relevanten Folgen auch der Einfluss der Handlung auf den Charakter des Handelnden zähle. Oder dass die Nutzenmaximierung über die Ausbildung eines hochwertigen Charakters führe, da dieser die besten Folgen hervorbringe. Man geht sogar soweit zu sagen, dass es moralisch richtig ist, den moralischen Intuitionen des Herzens und der Erziehung zu vertrauen, da diese erfahrungsgemäß Garant für die Nutzenmaximierung seien.

Weitere moderne Varianten wie der Satisficing Consequentialism und der Progressive C. räumen in derselben Linie ein, dass man nicht immer bis zur Selbstaufopferung das moralische Maximum für das Gemeinwohl wählen müsse, sondern es genüge, einen lediglich angemessenen Teil der Zeit und des Geldes zu investieren. Damit begegnen Konsequentialisten auch dem ferneren Einwand, dass der K. an sich und ursprünglich eine Form oder Strategie der Staats- oder Sozialethik ist und in der Individualethik grotesk wirke: Er bürde jedem Bürger die Verantwortung für das Ganze auf, die er gar nicht hat und weder beurteilen noch wahrnehmen kann.

Man will mit diesen verschiedenen Erweiterungen der Kritik Rechnung tragen, dass der K. unrealistisch sei, weil schon die Komplexität der natürlichen, sozialen und technischen Welt keine auch nur annähernde Berechenbarkeit erlaube. Es werde überhaupt zuviel verlangt. Dieser Rigorismus und diese utopische Überforderung und Überdehnung der sittlichen Verantwortung schlage in das Gegenteil um: Abstumpfung und Resignation oder aber ideologische Simplifizierung und Fanatismus. Nicht jeder Bürger müsse jede Handlung unmittelbar am Gemeinwohl ausrichten: Sein Beitrag zum Gemeinwohl bestehe darin, dass er die ihm zukommenden besonderen Verantwortlichkeiten erfülle und im Gehorsam gegen die Gesetze. Individuelle Verantwortlichkeit sei an konkrete Situationen und reale sittliche Verhältnisse gebunden (Freundschaft, Ehe, Familie, Arzt-Patient, Lehrer-Schüler, Kollegen). Sittliches Handeln sei nicht ein Mittel zur Maximierung zweckrationaler, außersittlicher Güter. Das Glück oder die Eudaimonie als Ziel und Gut sei z. B. nach Aristoteles der aus der Einsicht und Tugend eines hochwertigen Charakters resultierende Inbegriff der sittlichen, vernünftigen Praxis oder eines sinnvollen Lebens, kein außersittlicher Vorteils- und Lustgewinn. Viele dieser Kritikpunkte entfaltet ohne allerdings die innere Fortentwicklung des Konsequentialismus auszuwerten der Sammelband des an Aristoteles und Aquinas orientierten Ethikers R. Spaemann: Grenzen: Zur ethischen Dimension des Handelns, 2. Aufl. Stuttgart 2002. Von der kantischen Ethik her haben v.a. Gerechtigkeits-Theoretiker Kritiken des Konsequentialismus entwickelt. Diese anerkennen bekanntlich den Kategorischen Imperativ als deontologisches Moralprinzip qua Universalisierungs- und Gerechtigkeitsprinzip und setzen bei der Unverfügbarkeit (Selbstzweckhaftigkeit) der menschlichen Person an: Moralisch sind nur solche Normen, die distributiv für je alle Betroffenen von Vorteil und damit grundsätzlich konsensfähig sind. Im angelsächsischen Raum sind v.a. der wohl einflussreichste Vertreter der politischen Ethik der Gegenwart, John Rawls [Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2009] und seine Schüler Thomas Nagel und Christine Korsgaard zu nennen; in Deutschland K. O. Apel, J. Habermas, O. Schwemmer und O. Höffe.

Überhaupt sind Klassifizierungen wie Tugendethik (Moral bezieht sich auf die Bildung hochwertiger Handlungsdispositionen und Persönlichkeitsverwirklichung in Ein- und Unterordnung in konkreten sozialen Traditionen und Institutionen), deontologische oder Pflichtenethik (Moral bezieht sich auf Gesinnungen, Handlungen, Pflichten) oder konsequentialistische naturalistische Güterethik (Moral bezieht sich auf außermoralische Handlungsfolgen) in Reinkultur Unsinn und verfehlen die Sache. Weder ist die aristotelische Ethik eine reine Tugendethik, noch die kantische eine reine deontologische Ethik noch der Utilitarismus eine rein konsequentialistische Ethik, sondern in allen Ansätzen sind alle Gesichtspunkte in verschiedener Akzentuierung mindestens einschlussweise vertreten: Persönlichkeits- und Charakterbildung; Gesinnung und Pflichten; Bedürfnisse, Güter und Folgen. Es kann z.B. auch keine rein deontologische Ethik geben, die darin aufginge, ohne Rücksicht auf die Umstände immer bestimmte gebotene Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen. Das wäre eine nicht lebbare Torheit. Güterabwägung und Folgenbewertung sind zentral für sittliches, vernünftiges Handeln. Deontologie und Konsequentialismus unterscheiden sich nicht darin, ob Menschen für Wirkungen ihrer Handlungen die Verantwortung haben, sondern in der Frage, für welche Wirkungen ob nur für diejenigen, die zur konkreten Handlung gehören, oder auch für die beabsichtigten ferneren Folgen bzw. Nebenfolgen.

Einen guten Überblick über Positionen und Diskussionen mit weiterführenden Literaturverweisen gibt ansonsten der Eintrag Konsequentialismus von William Haines in der Internet Encyclopedia of Philosophy [IEP]. Auch der entsprechende Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy gibt eine nützliche erste Orientierung.

Existentialismus vs. Essentialismus in der Ethik

Autonomie – Angst – Epikie

Die existentialistische Ethik geht auf den dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard (18131855, Bild links) zurück. Sie wurde aufgegriffen und weiterentwickelt bei M. Heidegger, K. Jaspers, J.-P. Sartre, G. Marcel, und M. Buber. Sie kann als Akzentuierung und Rekonstruktion der zentralen Rolle des Moralprinzips der individuellen praktischen Vernunft, also der nicht determinierten Autonomie, Freiheit und Verantwortung des handelnden transzendentalen Subjekts gesehen werden. S. Kierkegaard [WikiCommons]Sie versteht Moral als eigentliche Existenz und Verwirklichung der je eigenen Möglichkeiten des Menschseins, statt des dumpfen, passiven, uneigentlichen Verfallenseins und Sich-treiben-Lassens im objektivistischen, unpersönlichen, durchschnittlichen Man. Im Gegensatz zu Nietzsches formal in manchem ähnlichen, aber heroisch-optimistischem Ansatz (s.u.) ist existentialistische Ethik jedoch heroisch-pessimistisch und kreist etwa bei Kierkegaard, Heidegger und Sartre um Schuld, Angst, Sorge, Verzweiflung und Sinnsuche.

Damit geht einher die Betonung der individuellen, subjektiven, wie radikal geschichtlich-kontingenten Faktoren der Praxis (Situationsethik), die zuweilen absolut gesetzt werden und sich gegen jede objektive Norm und vorgegebene Ordnung richten. Bekannt ist Sartres Axiom: Das Wesen des Menschen ist seine Existenz. Es gibt kein dem Existieren vorgegebenes Wesen des Menschen, sondern, was ich bin, ist das Ergebnis meiner existentiellen Entscheidungen. Existenz ist Offenheit auf Möglichkeiten hin und Freiheit zum Selbstentwurf. Dass dies so nicht geht, dazu in Folge mehr.

Dass aber die Situationsethik durchaus ein richtiges und wichtiges Moment moralischen Handelns herausstellt, welches in der Neuzeit und Moderne weithin aus dem Blick geriet, zeigt der folgende Grundsatz der aristotelischen, neutestamentlichen und thomistischen Ethik: Die Konkretisierung der sittlichen Prinzipien als den Handlungszielen (bzgl. des Wie und Wann) muss und kann nur vom individuellen Gewissen erkannt und geleistet werden. Aquinas bezieht sich hier wie Kant (vgl. RiGbV, 2. Aufl., 24) regelmäßig auf den Römerbrief des Apostels Paulus (14, 23): „Alles, was nicht aus Überzeugung geschieht, ist Sünde.“ (Vgl. Quaestio disputata de veritate XVII, art. 3, sed contra) Hierzu unverzichtbar ist die sogenannte Epikie oder deutsch: Billigkeit (griech.: epieikeía und lat.: aequitas) (Theol. Summe 2 II, qu. 120) „Denn die legale Gerechtigkeit wird nach Maßgabe der Epikie gesteuert. Daher ist die Epikie wie eine übergeordnete Regel der menschlichen Handlungen“ (2 II, qu. 120, art. 2, corp.). Anders formuliert: "Der Mensch kann von einem anderen nur Rat im allgemeiner Hinsicht empfangen; aber dass das Urteil im konkreten Handeln selber richtig ausfällt, das kommt allein aus der richtigen Steuerung durch die eigene Klugheit.“ (Thomas Aquinas: Quaestio disputata de veritate XVII [Über das Gewissen], art. 6, obiectio 2 und ad 2)

500 Argumente pro Essentialismus

Allerdings arbeitete auch die Existenzanalyse des Existentialismus anthropologische Grundstrukturen (sog. Existentialien) heraus, so dass jenseits absoluter subjektiver Autonomieansprüche metaethische naturgesetzliche Vorgaben identifiziert und akzeptiert werden. Vgl. Anzenbacher: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, 230243, und Bochenski: Die zeitgenössischen Denkmethoden, 10. Aufl. Tübingen/Basel 1993, 2736. Dass dies jedoch noch zu wenig ist, zeigt das aktuelle Plädoyer von Steven Pinker (Harvard) zugunsten universeller, objektiver Vorgaben der menschlichen Natur für unser Verhalten. Pinker ist einer der bekanntesten Sprach- und Kognitionswissenschaftler der Gegenwart. Sein Buch The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature (New York 2002) will mit dem Prinzip blank slate (unbeschriebene Tafel) die „secular religion of modern intellectual life“ (ebd. 3), für welche etwa der Existentialismus Jean-Paul Sartres typisch ist, beschreiben: Es gibt kein feststehendes Wesen des Menschen, keine menschliche Natur Alle sind von Natur aus gleich Unterschiede sind immer ein Produkt der Sozialisation, Erfahrung und Kultur. Dieser Kulturrelativismus genießt, so Pinker, einen „sacred status“ (ebd. 7) und definiert politische Korrektheit. Anderslautende Auffassungen werden als rassistische, sexistische und chauvinistische Vorurteile tabuisiert, als Sozialdarwinismus und Imperialismus.

Dieser Kulturrelativismus ist nun aber so Pinker eine problematische Überspannung progressiver Ideale: „Many intellectuals have denied the existence of human nature by embracing three linked dogmas: The Blank Slate (the mind has no innate traits), The Noble Savage (people are born good and corrupted by society), and The Ghost in the Machine (each of us has a soul that makes choices free from biology)“. Pinkers Absicht ist, „to inject calm and rationality into these debates by showing that equality, progress, responsibility, and purpose have nothing to fear from discoveries about rich human nature“ (Selbstdarstellung). Diese "rich human nature", diese reiche vorgegebene menschliche Natur dokumentiert ein Anhang, der ca. 500 beobachtbare und unmittelbare menschliche Universalien, also allgemeingültige Eigenschaften und Verhaltensweisen, auflistet (ebd. 435439).

Pinkers Argument ist wie folgt: Logische Voraussetzung des Kulturrelativismus ist die radikale Trennung von Materie, Biologie, Natur, Naturwissenschaften einerseits (nature) und Geist, Kultur, Gesellschaft, Geisteswissenschaften andererseits (nurture). Diese radikale Trennung steht jedoch, so Pinker, im Widerspruch zu den Fakten mehrerer Wissenschaften. So zeigt etwa die Verhaltensgenetik in der Zwillingsforschung die Durchschlagskraft identischer genetischer Ausstattung, während andererseits schon minimale genetische Unterschiede gegensätzliches Verhalten verursachen können (z. B. Schimpansen Bonobos). Und die Soziobiologie zeigt, dass angeborene Art- und Gattungsprogrammierungen individuelle Entscheidungen dominieren. Also müssen beide, nature und nurture anerkannt werden, und zwar in Verbundenheit. Pinker behandelt ferner offen u.a. angeborene Geschlechtsunterschiede (ebd. 337371) und apriorische Normen von Ästhetik und Kunst (ebd. 400420).

Pinker führt die Tabuisierung der menschlichen Natur und der naturhaften Vorgaben erstrangig auf das „biological concept of human nature“ des Nationalsozialismus zurück (ebd. 153). Überhaupt liege der Angst vor Ungleichheit aufgrund angeborener Unterschiede die Angst vor Folgen wie Vorurteilen und Diskriminierungen zu Grunde inkl. der Angst vor Rassismus, Sozialdarwinismus und Eugenik, Determinismus und Nihilismus (ebd. 153191). Der Analyse dieser Angst und ihrer Widerlegung als eines denkerischen Kurzschlusses widmet Pinker große Teile des Buches: „Despite its popularity among intellectuals during much of the twentieth century ... the doctrine of the Blank Slate may have done more harm than good“. Man müsse sich der Tatsache stellen, dass etwa der Fortschrittsglaube und die revolutionäre Vision des Kommunismus – so Pinker – genau die kulturrelativistische Tabula Rasa-Ideologie verkörperten, in der die political correctness heute das Heil sucht, also: Es gibt keine dauerhaften Eigenschaften der menschlichen Natur; diese kann völlig vorurteilslos umgeschaffen werden zu einem neuen Menschen; die Gleichheit aller Menschen ist das Ziel (ebd. 157). Mehr zu Pinker und The Blank Slate finden Interessierte im Menu Philosophie des Geistes.

Sitte: Amme der Moral

Gegenüber dem Existentialismus und seiner ausschließlichen Betonung des individuellen moralischen Bewusstseins und der Eigenverantwortlichkeit [= Prinzip der Moralität] sind aber nicht nur die praktischen und ethischen Vorgaben der menschlichen und äußeren Natur zur Geltung zu bringen, sondern auch die normalerweise durchaus ernstzunehmenden gewachsenen Gewohnheiten und sittlichen Vorgaben der Kultur oder Gesellschaft [= Prinzip der Sittlichkeit]. Gegenüber dem "Ansatz der Gewissensmoral" wurde daher auch und oft eingewandt so besonders prominent von Hegel, Gehlen, Gadamer und MacIntyre , dass dieser "Eigendünkel des Herzens, das heißt die Anmaßung des einzelnen, bei sich selbst und durch sich selbst über gut und böse zu befinden, die Wichtigkeit der großen Ordnungszusammenhänge [vernachlässigt], in die der Mensch so eingefügt ist, daß ihm von diesen Ordnungen her das Wissen vermittelt wird, was er in ethischer Hinsicht zu tun und zu lassen hat." (Walter Schulz: Philosophie in der veränderten Welt, Stuttgart 2001, 782)

Die hier angesprochene soziale und geschichtliche Sittlichkeit "kann sich also nur konstituieren innerhalb politischer und gesellschaftlicher Institutionen [...] die Familie und die Hausgemeinschaft [und] die großen Institutionen, insbesondere der Staat [...] Gadamer erklärt in seinem Hinweis auf den ethischen Ansatz des Aristoteles, 'daß Lohn und Strafe, daß Lob und Tadel, daß Vorbild und Nachfolge und der Grund von Solidarität, Sympathie und Liebe, auf dem ihre Wirkung beruht, noch vor aller Ansprechbarkeit der Vernunft das Gewissen des Menschen formen und so überhaupt erst Ansprechbarkeit durch Vernunft möglich machen, das ist der Kern der aristotelischen Lehre von der Ethik." (ebd. 783) Hier soll nur einschränkend angemerkt werden, dass unsere obige Darlegung der aristotelischen Ethik zeigte, dass das zwar nicht pauschal der Kern der aristotelischen Ethik ist, aber eine sehr wichtige Dimension derselben.

Wir stimmen überhaupt mit Walter Schulz überein, dass es nicht angeht, "Moralität und Sittlichkeit gegeneinander auszuspielen. Beide sind für die Konstitution des ethischen Bewußtseins wesentlich, aber in unterschiedlicher Weise [...] Es kann Zeiten geben, in denen ..,. das Subjekt von anerkannten Ordnungen eindeutig bestimmt und getragen wird [Aber:] Institutionen als die Subjektivität abstützende Außenhalte altern und verfallen. Sie vermögen dann nicht mehr als Träger sittlicher Ordnung zu fungieren [...] Es ist [ daher ...] für Krisenzeiten angebracht, das Prinzip der Moral als bestimmendes ethisches Element herauszustellen [...] Moralität bedeutet in Krisenzeiten ... daß der einzelne es auf sich nimmt, nun aufgrund seiner Eigenständigkeit, das heißt seiner Freiheit, die Situation von der Vernunft her neu zu ordnen. Fichtes Philosophie ist das große Beispiel eines solchen ethischen Einsatzes aus Freiheit [...] Fichte hat klar erkannt, daß in [solchen] Epochen die Moralität das realitätsgerechte Mittel ist, die Zustände zum Besseren hin zu verändern [...] Aber grundsätzlich gesehen ist jede Epoche sowohl durch das Prinzip der Sittlichkeit als auch das der Moralität bestimmt. Der einfache Grund dafür ist, daß das Böse zu allen Zeiten eine bestimmende Macht darstellt. Alle Zeiten sind insofern Krisenzeiten." (Schulz a.a.O. 2001, 782785)

Institutionen: Stabilisatoren der Moral

Auch der große alte Mann der Institutionentheorie und einer institutionalistischen Ethik, Arnold Gehlen, würde dieser Analyse von Walter Schulz zustimmen. Denn Gehlen betont zwar: Menschen sind durch objektive Weltoffenheit und Freiheit als Distanz zur Natur in Wahrnehmung, Vorstellung und Handlung charakterisiert. Dadurch und daher werde die vom Menschen handelnd veränderte Natur als eine neue, reale Dimension der Welt nötig: Das ist die Kultur als zweite Natur und deren Stabilisierung in Institutionen. Tiere leben hingegen in artspezifischen, subjektiven natürlichen Umwelten. Ein Beispiel Gehlens: Spinnen, Eulen und Rehe bewohnen nur und genau natürliche Nischen, welche nebeneinander existieren, ohne von der Natur/Umwelt der anderen Lebensformen Kenntnis zu nehmen und sie zu reflektieren (Gehlen, A.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131986 [11940].

Gehlens Ethiktheorie lässt auch das Ethos, die Praxis ursprünglich nicht von Subjektivität und Reflexion abhängen, sondern von der Außenwelt, Kultur, von den Institutionen als Führungssystemen der Gemeinschaft: Sie steuern das Bewusstsein und formen das Antriebsleben. Dadurch antworten sie auf die drei anthropologischen Grundbedürfnisse: Sinndeutung Normen Sicherheit (Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek bei Hamburg 1986, 7142).

Aber, so Gehlen weiter, echte Institutionen sind entlastende Sedimentation und Zementierung schwieriger und verletzlicher Ideale und Werte. Sie stabilisieren diese und verkörpern sie in objektiven Lebensformen als psychischen und ethischen Außenhalten. Und sie leben v.a. auf Dauer nur in gebildeten, verantwortungsbewussten Persönlichkeiten, welche ihren Geist verinnerlicht haben. Die staatlichen und wirtschaftlichen Organisationen der modernen Massengesellschaften etwa behandelt Gehlen nicht als genuine Institutionen, sondern als entpersönlichte, inhaltsleere Verfallsformen, als Funktionärsapparate, welche durch spezialisierte Fachleute verwaltet werden. Gehlens Analyse der modernen Gegenwart ging daher dahin, dass die hier vorherrschenden Superstrukturen der Wissenschaft, Technik, Wirtschaft nicht mehr verstehbar und beeinflussbar seien. Daher erfolge ein Rückzug in eine irreale Bildungswelt, ein Intellektuellendasein, bei gleichzeitiger Außenlenkung durch das allgemeine öffentliche Bewusstsein. Man sei dann mit der Erscheinung von Spätkulturen konfrontiert, d.h. alternden, verfallenden Institutionen, die nicht mehr Träger der sittlichen Ordnung sind. Dem Einzelnen bleibe hier nur, sich selbst Gehlens bekanntestes Wort zu einer Persönlichkeit zu bilden, als einer Institution in einem Fall (Gehlen a.a.O. 1986, 147263, v.a. 250258; vgl. Schulz a.a.O. 2001, 442456, 782840).

Eine weitere These Gehlens (in Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Wiesbaden 1986) erscheint hingegen absurd. Die These nämlich, dass die universelle, philosophische namentlich stoische Ethik der spätantiken hellenistischen Weltkultur und die gleichfalls universelle Ethik des prophetischen Theismus des alt- und neutestamentlichen Israel zerstörerische Konstrukte, irreal überzogene Hypermoralen seien, welche die Pluralität der gewachsenen moralischen Traditionen und Institutionen der örtlichen und regionalen Volksstämme, Stadtstaaten und Reiche zersetzt hätten. Sie stünden ferner Pate bei den modernen liberalistischen und sozialistischen Hypermoralen, welche ebenfalls gefährliche, realitätsabgelöste Intellektuellenträume seien. Letzteres scheint uns servatis servandis nachvollziehbar. Ersteres widerspricht jedoch der ethnologischen sowie religions- und kulturgeschichtlichen Faktenlage. Sie zeigt in die umgekehrte Richtung, wonach in den lokalen Traditionen im geschichtlichen Verlauf eine zunehmende weltanschauliche Irrealität und geradezu kriminelle Zersetzung moralischer Intuitionen zu beobachten ist. Unabhängig vom weltanschaulichen Standpunkt wird man hierzu mit Gewinn das opus magnum von Aurelius Augustinus De civitate dei (Vom Gottesstaat, 413426 n.C.) konsultieren. Es bietet in den Büchern 110 die umfassendste, detaillierteste und reflektierteste wissenschaftliche Darstellung und Kritik der römisch-griechischen und überhaupt indogermanischen Religionen und Moralen, durch den vielleicht brillantesten Analytiker der antiken Zivilisation. Sie verbindet unmittelbares persönliches Erleben derselben mit Aufarbeitung aller wichtigen religionsphilosophischen Autoren der Antike unter durchgängiger Konfrontation mit dem prophetischen Theismus des alt- und neutestamentlichen Israel.

Nietzsche zu Handlungstheorie und Ethik

Mächtige Seele vs maskierte Manipulation

Von Friedrich Nietzsche (18441900) und seinem in Folge mit vorgestellten frühen Mentor Arthur Schopenhauer (17881860, Bild rechts, von L. S. Ruhl 1815) gilt m. E. dasselbe Urteil, das die Wittgenstein-Assistentin und Ethikerin Elizabeth Anscombe über Hume fällte: "The features of Hume’s philosophy ... would incline me to think that Hume was a mere—brilliant—sophist [...] But I am forced ... to add ... that although he reaches his conclusions—with which he is in love—by sophistical methods, his considerations constantly open up very deep and important problems [...] Arthur SchopenhauerHence he is a very profound and great philosopher, in spite of his sophistry." (Modern Moral Philosophy. In: Philosophy 33 (1958)).

Nietzsches radikales Infragestellen "falscher Werte und Wahn-Worte" (Zarathustra II, Von den Priestern) inkl. seiner alternativen Vision der "heilen, gesunden Selbstsucht ... aus mächtiger Seele, zu welcher der hohe Leib gehört" (Zarathustra III, Von den drei Bösen) haben die postmoderne Einstellung geprägt und vorweg genommen. Radikaler und brillanter sind Subjektivismus, Relativismus, Skeptizismus, Nihilismus einerseits und evolutiver Fortschrittsoptimismus sowie fiktionalistischer Pragmatismus andererseits kaum zu haben.

Schlüsselerfahrungen des hier zu Grunde liegenden intellektuellen Misstrauens und moralischen Argwohns sind die kulturellen, kognitiven und motivationalen Grenzen und Widerstände menschlicher Rationalität, und damit auch der Erkennbarkeit und Verwirklichung einer gültigen und realitätsdichten praktischen Vernunft. Darüber hinausgehend der allgegenwärtige "Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten" (Zarathustra, I, Von den drei Verwandlungen), d.h. die Instrumentalisierung von Weltanschauungen und Moralen als Maskeraden natürlicher und sozialer Bedürfnisse, Schwächen und des universellen Machtwillens, sowie als Deckmantel betrügerischer Manipulation und Ausbeutung.

In der Philosophie wurde die Sache jedoch stets ex professo erörtert, von Sokrates bis zu den englischen und französischen Moralisten, aber auch und sehr hellsichtig bei Kant und in der selbst von Ressentiment und verdecktem Machtwillen gespeisten kulturmarxistischen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Dies betrifft erstens die bekanntlich gerade bei Kant radikal festgehaltene Dimension des Bösen (Bosheit) und der Schwächlichkeit (Feigheit und Unbeherrschtheit). Es betrifft zweitens auch die Dimension des Versagens ohne mindestens aktuelle persönliche Zurechenbarkeit (Unwissenheit und Irrtum); und drittens die begrenzte Reichweite der menschlichen Vernunft überhaupt. Dabei sollte man aber eine zweite berühmte Feststellung Anscombes in dem o.g. Papier im Auge behalten: Die moderne philosophische Ethik inkl. der philosophischen Kritik moralischen Fehlverhaltens ist ein Kind des prophetischen Theismus und der anspruchsvollen universellen Moral der messianischen Zivilisation des Christentums. Hier wurde die Kritik an "Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten" angedacht, hier wurde die Entlarvung von Weltanschauungen und Moralen als Maskeraden des Machtwillens und (selbst)betrügerischer Manipulation perfektioniert. Stellvertretend soll nur die besonders vernichtende und vielgelesene Kritik der endlosen Verlogenheit und Verkommenheit der Religion und Moral der griechisch-römischen Antike genannt werden, Tertullians Apologetikum. Wir werden diesem prophetischen und messianischen Hintergrund in Folge noch mehrfach begegnen.

Dennoch ist Nietzsche der Denker, der wie kein anderer für Aufdeckung mentaler Illusionen und praktischer Lebenslügen steht: "Falsche Küsten und falsche Sicherheiten lehrten auch die Guten [...] Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten" (Zarathustra III, Von alten und neuen Tafeln).   "Der Europäer verkleidet sich in die Moral [wegen ...] seiner tiefen Mittelmäßigkeit, Angst und Langeweile an sich selbst" (Fröhl. Wissenschaft, Abhdlg. 352). "Wagt es doch erst, euch selber zu glauben euch und euren Eingeweiden! Wer sich selbst nicht glaubt, lügt immer." (Zarathustra II, Von der Unbefleckten Erkenntnis) Die in vielem genuin tiefenpsychologischen Analysen Arthur Schopenhauers standen dabei Pate (wie später bei Freud und Jung).

Tummelplatz gequälter Wesen

Es liegt zu Tage und ist bekannt, dass Schopenhauer aus diesen Fakten heraus eine asketische, lebensverneinende Ethik entwickelt: Die Welt ist ein "Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen". Ihr Zweck ist läuternde "Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden, gekrönt durch den Tod" (Wille und Vorstellung II, Kap. 46), welches alles die ethische Einsicht erzeugt, dass diese Welt ein Irrtum bzw. eine moralisch verderbte ist und so nicht sein soll.

Nietzsche analysiert Schopenhauers Pessimismus als eine erste und unreife, aber psychologisch zwangsläufige Folge des "Niedergangs des Glaubens an den christlichen Gott, de[s] Sieg[es] des wissenschaftlichen Atheismus": Er spiegelt "seinen entsetzten Blick in eine entgöttlichte, dumm, blind, verrückt und fragwürdig gewordene Welt" (Fröhl. Wissenschaft, Abhdl. 357). Deswegen wird er zum „Prediger des Todes“: Das höchste Gut ist Nirwana (Nichtsein) resp. die asketische Abtötung als Selbstzweck.

Letzteres trifft Schopenhauers Denken nur bedingt. Denn Schopenhauers Motivation ist weniger der Atheismus und eine daraus kommende Verzweiflung als die negative Theologie, die Mystik und die Aszetik. Naturwissenschaftlich erkennbar und philosophisch interpretierbar ist, so Schopenhauer, nur die Erscheinungswelt. Aber er betont genauso, dass dies nicht alles ist, sondern immanent und/oder transzendent eine metaphysische Realität als Verursacher der Phänomene und ihrer Gesetze da sein muss. Und der Zugang zu dieser Realität erfolgt über Ethik, Aszese, Mystik und Religion. Die physische Welt der Phänomene ist unmittelbar ein Produkt des Geistes und mittelbar des metaphysischen Willens als des göttlichen Absoluten, das zugleich unser intelligibler Charakter ist (Welt als Wille und Vorstellung Band I, Buch 1, § 28). Dass einer seiner größten Inkonsequenzen und Widersprüche der ist, den Geist andererseits als Produkt des physiologischen Gehirns vorzustellen, sei am Rande bemerkt.

Eine noch größere Inkonsequenz ist jedoch, dass er einerseits v.a. gegen Hegel und Schelling die negative Theologie beschwört, wonach wir keine positive Erkenntnis der immateriellen Transzendenz besitzen. Andererseits und im Widerspruch dazu findet sich bei Schopenhauer eine vollmundige positive Theologie, die Einsicht in das transzendente Absolute beansprucht, insofern er behauptet, dass Gott keine Erkenntnis und Selbsterkenntnis besitze, dass Bewusstsein und Erkenntnis nur in der Erscheinungswelt möglich seien und existieren, nicht aber in Gott, im Absoluten (Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Buch 4, Kap. 4749).

Noch eine dritte abenteuerliche Fehlleistung Schopenhauers sei hier erwähnt. Wie schon im Titel seines Hauptwerkes ausgedrückt, hält er den erkenntnistheoretischen Idealismus für die entscheidende, von Platon zuerst formulierte Einsicht der Philosophie, die Kant dann erstmals wissenschaftich und im Detail bewiesen habe.  Augustinus sei dagegen der antike Begründer des falschen, entgegengesetzten, naiven dogmatischen Realismus, der bis zu Leibniz in der Neuzeit herrschend gewesen sei, ja Leibniz sei dessen abschließender Vollender (Welt als Wille und Vorstellung, Band I, Vorrede 2. Aufl.; Kritik der Kantischen Philosophie, Einleitung). Tatsächlich sind jedoch Augustinus und Leibniz genau umgekehrt die profiliertesten und wirkmächtigsten Vertreter des philosophischen Idealismus in Spätantike und Mittelalter resp. in der Neuzeit. Augustinus ist Platonist durch und durch und prägt dieses platonische Weltbild der Scholastik bis in das 12. Jh. auf. Und Leibniz ist, wie jede Philosophiegeschichte weiß, ein viel folgerichtigerer Idealist als Kant. Dies alles zeigt, dass man sich frei nach Anscombe stets vor Augen halten muss, dass Schopenhauer bei allem echtem Fragen und Forschen auch ein sophistischer Schwadroneur ist.

Aszetische Moral

Mit diesem Vorbehalt im Hinterkopf zurück zu Schopenhauers o.e. zentraler Überzeugung, dass der Zugang zur ultimativen transzendenten Realität über Ästhetik, Ethik, Aszetik, Mystik und Religion erfolgt (a.a.O. II, 4, Kap. 47 und 48). Die beiden Bände seines Hauptwerkes gipfeln jeweils in dem der Ethik gewidmeten Buch 4. Sein Ausgangspunkt ist, dass genuine, zu Erlösung und Glück führende Ethik nur Aszese und Abtötung selbstischer irdischer Begierden sowie Mitleid und selbstlose Liebe sein kann: Der Eck- und Prüfstein echter Ethik ist für Schopenhauer die Anerkennung und Praxis des Zölibates als vollkommene Keuschheit. Schopenhauers Ethik ist eigentlich nichts anderes er sagt es selbst als eine philosophische Rekonstruktion der Ethik und Spiritualität des katholischen Christentums, v.a. des weltverleugnenden aszetischen Mönchtums und dessen Parallelen in der brahmanischen und buddhistischen Mystik resp. Mönchtum. Seine Hauptquellen sind die "Dogmen der christlichen Glaubenslehre" (a.a.O, I, 4, § 70), die Lehren von Sündenfall und Erbsünde, das Neue Testament, der Apostel Paulus, die Kirchenväter, die Wüstenväter, die Rheinische Mystik (Meister Eckhart und Tauler), der hl. Franziskus, der hl. Philipp Neri, Angelus Silesius, die Trappisten, Erzbischof Fénélon und Madame Guyon (Welt als Wille und Vorstellung, Band I, Buch 4, v.a. §§ 6871, Band II, Buch 4, v.a. Kap. 4749). Schopenhauers Haupt- und Lebenswerk schließt mit den Worten: Bei "denjenigen, welche die Welt überwanden [...] zeigt sich uns [...] jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene [...] unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raffael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist". Dass Schopenhauer andererseits ganz selbstverständlich das protestantische und atheistische Stereotyp des finsteren, unaufgeklärten Mittelalters verwendet, ist nur ein weiterer seiner vielen Widersprüche.

Für eines ist Schopenhauer aber ein authentischer Gewährsmann. Er hat wie vielleicht kein anderer Denker des Westens den Geist und die Lehre des Buddhismus oder Buddhaismus, wie Schopenhauer sagt, erfasst und die europäische Philosophie zum dritten Mal mit demselben bekannt gemacht. Das erste Mal geschah dies durch die griechische politische und kulturelle Expansion nach Indien und Innerasien 300 vor bis 50 nach Christus, wodurch nicht nur Süd- und Innerasien in die hellenistische Globalisierung voll einbezogen waren, sondern auch die europäische Philosophie und Kunst den frühen Buddhismus bis in die kanonischen Schriften und künstlerischen Normen hinein stark beeinflusste. Umgekehrt ist die skeptizistische Philosophie Pyrrhos, der zum wissenschaftlichen Beraterstab Alexanders des Großen zählte, ein in Indien mit brahmanischen und buddhistischen Gelehrten angedachter Ableger des Buddhismus, wie Diogenes Laertius berichtet. Quellen wie die buddhistische Große Chronik (Mahayamsa XII) wissen, dass die griechischen Herrscher und Städte Graeco-Indiens weithin den Buddhismus übernahmen und viele tausende Griechen buddhistische Mönche und Nonnen wurden. Dass ferner griechische Missionare wie der aus dem fernen Westen kommende "blauäugige Ausländer" Bodhidharma im 5. Jh. n. C. den Buddhismus in China und Ostasien einführten und insbesondere die Tradition des Shaolin Kung fu und des Zen begründeten.

Das zweite Mal war die europäische Geisteswelt durch den großangelegten religionskundlichen Kulturtransfer der Jesuiten Chinas im 17./18. Jh. mit dem Buddhismus bekannt gemacht worden, dessen philosophische Rezeption und Reflexion durch Gottfried Wilhelm Leibniz erfolgte, mit dem Schwerpunkt allerdings auf dem Konfuzianismus. Siehe G. W. Leibniz: Briefe über China (16941716)..Die Korrespondenz mit Barthélemy Des Bosses S.J. und anderen Mitgliedern des Ordens, Hamburg 2017.

Wilhelm Raabe und andere nannten Schopenhauer daher nicht zu Unrecht den Buddha von Frankfurt. Das ist umso bemerkenswerter als die religionswissenschaftliche Dokumentation der Quellenschriften und Kommentare zum Buddhismus zu seiner Zeit in Europa erst eine sehr begrenzte war. Wenn man Schopenhauers Philosophie von der Weltanschauung und Ethik des Buddhismus aus liest, v.a. in der ursprünglichen Form des Kleinen Fahrzeugs (Hinayana), dann wird plötzlich vieles klar, einschließlich mancher Widersprüche. Denn es sind oft die Widersprüche des Buddhismus selbst.

Der bekannteste Widerspruch, an dem sich viele Generationen seiner Mönche und Interpreten abgearbeitet haben, ist der zwischen den beiden Grunddogmen des Buddhismus: (A) Es gibt nur einen Illusionsstrom isolierter Phänomene ohne realen Träger, Leugnung jedes substantiellen identischen Seins, jeder Personidentität, jeder Seele und jedes Ichs. Das sind die drei dogmatischen Daseinsmerkmale des Buddhismus: Nicht-Dauer (Flüchtigkeit) Un-Befriedigendheit (Leere und Unglück) Nicht-Selbststand (Substanz- und Ichlosigkeit). Versus (B) Das Ich und sein Wille oder Lebenshunger erzeugt die ganze Welt der Illusion mit grenzenlosem Leid: Das Ich ist das einzige Reale, Stabile und Beharrende in zahllosen Inkarnationen im endlosen Kreislauf der Universen (Seelenwanderung); sein Tun und Handeln verursacht und definiert die Zukunft der Welt und ihrer Leiden. Dieser fundamentale Widerspruch durchzieht auch Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung. Meine Kollegin, Schopenhauer-Expertin und Reakteurin der Kant-Studien Margit Ruffing erzählte mir in diesem Zusammenhang einmal, dass ihr philosophischer Mentor Joachim Kopper trotz mehrfacher Verständnisbemühungen vor der Ungreifbarkeit und Inkohärenz Schopenhauers kapituliert habe und ihn grundsätzlich nicht mehr in Lehrveranstaltungen behandle.

Auch Schopenhauers Ethik ist im Kern trotz o.g. zahlreicher Anleihen aus dem Denk- und Lebensraum der orthodox-katholischen Theologie und Weltkirche genuin buddhistisch: Das ethische Ziel ist, den die illusionäre Welt erzeugenden und festhaltenden Willen zu ertöten, den Lebenshunger und damit den Weltprozess selbst zu beenden, indem man ihn wie einen schmutzigen, gewalttätigen und verstörenden Spielfilm im Fernseher ausknipst und wohltuendes Dunkel und Schweigen eintritt (Nirwana). Freilich gilt dieses Programm nur für den ursprünglichen Buddhismus, der von Buddha ausschließlich als ein aszetisch-elitärer (männlicher und weiblicher) Mönchsorden im Hinduismus angedacht und organisiert war, während er die große Masse des Volkes weiterhin in der hinduistischen Religion zuhause sah. Überall, wo der Buddhismus dennoch zur Volksreligion wurde, wurde aus ihm früher oder später auch wieder ein Hinduismus 2.0 mit metaphysischem Götterpantheon, Geistern, Halbgöttern, weißer und schwarzer Magie, Mythen und Tempelkulten, transzendentem Paradies und Hölle.      

Moralische Elite

Nietzsches elitäre Moraltheorie steht wie Schopenhauers Erleben unter dem beherrschenden Eindruck der Verkommenheit, Gemeinheit, Grausamkeit und der Not, Qual und des Elendes der Menschenwelt. Insbesondere versteht sie sich als Entlarvung des heuchlerischen, weil idealistisch und moralistisch verbrämten ­ reaktionären, verneinenden Willens zu schmarotzerischer Trägheit, egoistischer Pöbelhaftigkeit und müder Dekadenz (Sklavenmoral und Nihilismus), dessen hervorstechender Ausdruck Ressentiment (herabsetzender Neid, Hass und Rachsucht gegen Gesundheit, Schönheit, Leistung und Hochgesinntheit) ist: "Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß“ (Zarathustra, passim).

Aber ergänzend und positiv versteht sich Nietzsches elitäre Theorie als schaffender, vitaler Willen zur Macht, zum Adel, zur Bejahung und Optimierung der Erde: "Lachende Löwen müssen kommen!" (Zarathustra, IV, Die Begrüßung) Dies ist „Zarathustras, des Gottlosen“ Botschaft, das nachatheistische Ideal, der neue Glaube: Im Aushalten von Einsamkeit, Verachtung, Selbstzweifel, Leidensdruck und Untergang „soll ein auserwähltes Volk erwachsen: und aus ihm der Übermensch.“ (Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend) Der neue Mythos des Übermenschen als "Antichrist und Antinihilist" und seine Ethik der heroischen Lebens- und Schicksalsbejahung (Lehre von der ewigen Wiederkehr) soll "der Erde ihr Ziel zurück[geben]" (Genealogie der Moral, 2. Abhdl., Aphor. 24).

Nietzsche bleibt sich dabei freilich bewusst, dass diese (wie jede) elitäre Philosophie und Moral nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Sie hängt erstens existentiell vom "Gewöhnten ... und Unentbehrlichen" ab, von der Arbeit und Pflichterfüllung der Mehrheit. Letztere hat "tausendfach Recht "auf vorgegebene soziale und moralische Rahmen: "Der Anwalt der Regel werden das könnte vielleicht die letzte Form und Feinheit ... des Edelsinns" sein (Fröhl. Wissenschaft, Abhdl. 55, vgl. 76 und 352). Und zweitens ist die Frage: "Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? [...] Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören, und nicht, dass du einem Joch entronnen bist. Bist du ein solcher, der einem Joch entrinnen durfte?" (Zarathustra I, Vom Wege der Schaffenden).

Marcus T. Cicero [Vatik. Museen]Zu letzterem Punkt gibt es kaum Realitätsdichteres als Marcus T. Ciceros Dialoge de re publica [Vom Gemeinwesen] und de officiis [Vom pflichtgemäßen Handeln]. In ihnen verbindet sich lebenslanges Studium von Recht und Ethik mit der Inhabe von Führungspositionen des Römischen Weltreiches in dessen Machtzenit [Portrait links: M. T. Cicero]. De re publica entwickelt unter Einbeziehung der Theoretiker Platon, Aristoteles und sonstiger Positionen eine elitäre Ethik des consilium (vernünftiger Gemeinwille oder Herrschaft der konkreten praktischen Vernunft). Sein Träger sind die principes, idealerweise in einer ausbalancierten Mischverfassung. Deren Typus ist der selbstbeherrschte und gebildete prudens (Kluger, Weiser), dessen Maßstab ethisch-ästhetische Harmonie und Ehrenhaftigkeit (honestum, kalón) ist. Seine nicht amtsgebundene Leistung ist, „in sich das Vernünftige durch ständiges sich in der Situation Heimischmachen, durch ständige Selbstbeobachtung zu verwirklichen und die übrigen zur Nachahmung anzuregen ... durch den Glanz seiner Seele und seines Lebens“ (Karl Büchner [Hrsg.]: De re publica, Stuttgart 1979, 38). Solche Männer müssen in jeder Generation da sein, so Cicero, sonst korrumpiert der Staat. Ähnlich das Fazit von Platons Sozialethik im Dialog Gorgias.
Auch die fernöstliche Sozialethik macht die Existenz des spirituellen Weisen (vir honestus) zur Bedingung glücklicher und erfolgreicher Staaten: "Wer leuchtend seinen Geist bewahrt [...] wer seine Seele einfältig macht und demütig [...] wer reinigt und läutert sein inneres Schauen [...] wer seine Leute liebt als Herrscher des Reiches, der mag wohl ohne Handeln wirken können [= wu wei]: Das ist geheimes Leben" (Laotse: Tao te king, Abschnitt 10). Denn: "Der Sinn [= Vernunftordnung] ist ewig ohne Handeln, und nichts bleibt ungewirkt [...] So wird die Welt von selber recht" (37).

Der Dialog Ciceros de officiis bietet hingegen das ergänzende Programm einer Ethik der Allgemeinheit, dessen Typus der vir iustus (Gerechter) ist. Sein Maßstab ist die verantwortungsvolle Umsetzung konkreter, vom honestum abgeleiteter praktischer Regeln oder Pflichten (officia).

Naturalistische Achillesferse

Die Moderne und Postmoderne sind nun in vielem als experimentelle Umsetzung der metaphysikfeindlichen, naturalistischen Positionen Nietzsches zu sehen. Auch abgesehen von der Frage nach der Authentiziät der Nietzscheaneignung durch den Nationalsozialismus werden die Ergebnisse nicht als befriedigend, sondern eher kontraproduktiv eingestuft. Friedrich Nietzsche Edvard Munch 1906 gemeinfreiAls Ursache kann ausgemacht werden, dass auch Nietzsche selbst im Bann einer großen Illusion steht, nämlich der naturalistischen, szientistischen Vorurteilsstruktur des 19. und 20. Jh.: "Wir müssen Physiker sein", d.h. "Lerner und Entdecker ... der Welt" (Fröhliche Wissenschaft, 336) - "Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem" (Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes). [Bild rechts: Expressionistisches Portrait Nietzsches von Edvard Munch 1906]

Die aristotelische Tradition und auch Schopenhauer unterstrichen zwar ebenso, "daß die möglichst vollständige Naturerkenntniß die berichtigte Darlegung des Problems der Metaphysik ist: daher soll Keiner sich an diese wagen, ohne ... allgemeine ... Kenntniß ... der Naturwissenschaft sich erworben zu haben." (Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17).

Sie argumentierten aber auch mit sehr guten Gründen für die andere Seite der Wahrheit: „Die Physik vermag nicht auf eigenen Beinen zu stehen, sondern bedarf einer Metaphysik [...] Denn sie erklärt die Erscheinungen durch ein noch Unbekannteres, als diese selbst sind: durch Naturgesetze, beruhend auf Naturkräften [...] Daher kann man als das nothwendige Credo aller Gerechten und Guten dieses aufstellen: »ich glaube an eine Metaphysik«“ (Welt als Wille und Vorstellung II, Buch 1, Kap. 17; vgl. I, 1, §§ 9 und 24). Nietzsche geht damit soweit einig, dass eine mechanistisch verstandene naturwissenschaftliche "Weltinterpretation ..., die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehen und Greifen und nichts weiter zuläßt [...] eine Plumpheit und Naivität" ist (Fröhl. Wissenschaft, Abhdl. 373). Aber seine Alternative ist radikaler Relativismus (Perspektivismus) und Agnostizismus - im Horizont einer naturalistisch fixierten Vorurteilsstruktur.

Der Übermensch: Spirituelles Original

Letztere ist ein Motiv von Nietzsches Religionskritik und Ressentimentverdachts gegen Theologie und Religion: "Böse heiße ich's ... dies Lehren vom Einen und ... Unbewegten und ... Unvergänglichen" (Zarathustra II, Auf den glückseligen Inseln). Das andere Motiv ist wie bekannt wahrscheinlich biographisch: emotionale Abwehr der Option Theismus aufgrund traumatisierender religiöser Sozialisation: "Sie nannten Gott, was ihnen widersprach und wehe tat Als Leichname gedachten sie zu leben" (Zarathustra II, Von den Priestern).

Scheler differenzierte in der brillanten Untersuchung Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, diesen Ressentimentverdacht. Er akzeptierte ihn als für die faktische (v.a. neuzeitliche) Theologie und Praxis mehr und mehr zutreffend, aber nicht für das authentische theistische und christliche Ethos in Theorie und Praxis. Ähnlich zuletzt Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983. Dieselbe Unterscheidung machte wiederum bereits in etwa Schopenhauer.

Das scheint geschichtlich korrekt. Überhaupt sehen Kenner der Materie unschwer, dass Nietzsches Polemik und Vision im Prinzip gerade das vergessene und verfremdete prophetische Ideal des Theismus spiegelt und atheistisch rekonstruiert: Hosea, Amos, Jesaja, Jeremia, Kohelet, Ijob, Paulus Apostolus etc. verstehen sich im Namen des Theismus als Vorkämpfer von Aufklärung  und Emanzipation unter „dem Hasse der [pseudomoralischen] Guten und Gerechten“ (vgl. Zarathustra I, Vom freien Tode) und entwickeln ebenso harte Kult- und Sozialkritik. Auch ihre Vision ist im Namen des Theismus die Überwindung des alten Menschen zugunsten eines neuen Menschentyps (homo spiritualis).

Der Übermensch: Vernunftfreie Kopie

Nietzsches Defizite scheinen sich insbesondere in der fehlenden gründlichen Auseinandersetzung mit der Struktur der theoretischen und praktischen Vernunft und ihrer transzendent(al)en Implikate festmachen zulassen, also mit dem „eigenste[n] Gebiet der Metaphysik [...] was man Geistesphilosophie genannt hat.“ (Schopenhauer, a.a.O. II, Kap. 17) Sein expressionistisches Denken spielt auf der Ebene von Phantasie und Leidenschaft und ist von sophistischen Argumentationen nicht frei: "Bei allem ist Eins unmöglich Vernünftigkeit!" (Zarathustra III, Vor Sonnenaufgang) In der Fröhlichen Wissenschaft ist er allerdings nur einen Schritt davon entfernt: „Aller philosophische Idealismus war bisher etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Platos, die Vorsicht einer überreichen ... Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen war. - Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Platos Idealismus nötig zu haben?“ (Abhandl. 372)

Trotz seines Eintretens für Willen, Herz und Trieb als ultimativer Realität oder Ding an sich unterstrich dagegen Schopenhauer stets die eigenständige Bedeutung von Verstand und Vernunft. Er hätte Nietzsches bekanntem Diktum wohl zugestimmt: "Das Größere [als dein Ich] ist  ... dein Leib und seine große Vernunft" (Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes). Aber ebenso ist er überzeugt: „Der Begriff [...] allein eignet sich zum sicheren Lenker unserer Schritte im Leben. Daher sagt Seneka mit Recht: Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi [Wenn du dir alles unterwerfen willst, unterwirf dich der Vernunft] (ep. 37).“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, II, Kap. 6) Dass hier kein Widerspruch vorliegt, sondern das dialektische Zusammenspiel von intuitiven Axiomen und instinktiven Handlungsantrieben einerseits (= vorgegebene Prinzipien und Motive) und diskursivem Urteilen und Schließen andererseits (= autonome Konkretisierung und Umsetzung), zeigen Schopenhauers Erläuterungen zur Sache, wie auch die Handlungstheorien von Aristoteles und Aquinas (siehe oben) und Maslow (in Folge). Dasselbe Verhältnis findet sich auch empiristisch verkürzt in Humes Enquiry concerning the principles of morals mit dem Primat des moralischen Gefühls (instinktive Neigung / intuitiver Sinn für Zwecke und Werte) vor der instrumentellen Vernunft (hier verstanden als diskursiver Verstand und Klugheit betreffs der Mittel). Dass Schopenhauer übrigens diese Analysen wieder durch schizophrene Ausreißer untergräbt, kennen wir bereits: Hier geschieht dies dadurch, dass er gegen Aristoteles und Kant (a.a.O. I, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie Kantische Ethik) ethische Tugend als unvereinbar mit praktischer Vernunft und ihr diametral entgegengesetzt erklärt, dies aber an derselben Stelle! auch wieder zurücknimmt und korrigiert.

Hier noch ein Literaturhinweis: Wer eine ebenso brillante und dazu kohärente, systematische Argumentation pro Vernunft sucht, wie sie Nietzsche contra Vernunft entwickelte, sollte das vielleicht wichtigste Werk Thomas Nagels lesen: Das Letzte Wort [The Last Word], Stuttgart 1998 [Oxford 1997]. Kernthese des Buches ist: "Das rationale Denken ... das logische, empirische [wissenschaftliche] und praktische [ethische] Denken ... kann ... nicht bloß als ein psychologisches oder soziales Phänomen aufgefaßt werden,denn das hieße versuchen, in einer für uns unmöglichen Weise daraus herauszutreten [...] Bei jedem Denk- oder Argumentationsprozeß [muß es] manche Gedanken geben..., die man nicht als biologisch programmierte Anlagen begreift, sondern einfach von innen her denkt [...] Sofern wir überhaupt denken, müssen wir uns selbst – individuell wie kollektiv – als Wesen begreifen, die die Ordnung der Vernunftgründe nicht erschaffen, sondern ihr unterworfen sind“ (41, 189, 201, 210).

Nagels Werk gibt auch eine Beobachtung wieder, die den o.e. Zusammenhang von Nietzsches Abwehr von Vernunft und Religion wohl psychologisch zutreffend beschreibt: "Der Zugang des Menschen zu objektiven oder allgemeinen Werten [...] macht viele Menschen unseres Zeitalters nervös, [ist] Ausdruck einer [fundamentalen] Religionsangst [...] Ich spreche hier [nicht von berechtigter Kritik an Missbrauch und Aberglauben etablierter Religionen, sondern] von etwas viel Tieferem, nämlich von der Angst vor der Religion selbst. Dabei rede ich aus Erfahrung, denn ich selbst bin dieser Angst in hohem Maß ausgesetzt: Ich will, dass der Atheismus wahr ist". Nagel: "Eine der dadurch geförderten Tendenzen ist der groteske, übermäßige Gebrauch der biologischen Evolutionstheorie zur Erklärung aller Seiten des Lebens, einschließlich aller Seiten des menschlichen Geistes [...] Diese Situation hat etwas Lächerliches an sich [...] Man [sollte] sich den intellektuellen Auswirkungen einer solchen Angst ... widersetzen" (Das letzte Wort, 190192).

Siehe hierzu auch den Abschnitt Kognitives Objekt 3 = Welt 3: Ideelles Universum im Untermenu Ontologie!

Marxismus zu Handlungstheorie und Ethik

Marxismus als Moral

K. Marx [WikiCommons]Einer der besten Kenner des Marxismus hat ihn primär als eine Ethik definiert: "Zuerst ... ist der Marxismus-Leninismus eine Moral; erst nachträglich wird diese Moral durch eine theoretische Lehre ... erklärt und begründet [...] Zugleich ist der moralische Aspekt des Kommunismus die Ursache seiner Anziehungskraft. Denn die Moral spricht die Menschen eher an als die ziemlich abstrusen Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus [DIAMAT und HISTOMAT]" (Bochenski: Marxismus-Leninismus, 4. Aufl. München 1975, 22). Das heißt zunächst: "Der Kommunismus ist ein Humanismus. Das bedeutet, daß gemäß dem Marxismus-Leninismus der Mensch das höchste Wesen ist [...] Da es [im Marxismus] keinen Gott gibt, ist der Mensch ... das Höchste überhaupt" (ebd. 23). Zweitens heißt dies, "daß die kommunistische Moral eine Erlösungslehre ist. Der Mensch soll aus seinem Elend und aus seinem Unglück erlöst werden. Wer aber ist der Erlöser [...] der Messias? [...] Es ist der Proletarier [der ...] nicht durch die Erbsünde [= Privateigentum an Produktionsgütern] befleckt ist" (ebd. 26). Die oberste Maxime ist demnach: "Handle so, daß das Proletariat so schnell wie möglich siegt" (ebd. 26). [Foto oben (1869): Karl Marx, 18181883]

Oberstes moralisches Prinzip: Die Partei

Das Proletariat ist, so die Ideologie, für sich unerleuchtet und schwach. Es "ist ohne Partei nicht fähig, sein eigenes Interesse, seinen Willen zu verstehen" (Bochenski a.a.O. 1975, 115), weshalb gilt: "Gewissen  und ... Bewußtsein [des Proletariats ...] ist die Kommunistische Partei. Und deshalb wird jetzt gesagt: 'Handle so, daß die Kommunistische Partei so schnell wie möglich siege.' Oder anders noch: 'Gut und moralisch ist das, was der Taktik der Partei nützlich ist; böse und unmoralisch ist alles, was sie ... behindert' [...] Das bedeutet, daß ... nur ein Wert, ein Gebot, unbedingt, absolut gilt der Wert nämlich des Sieges der Partei. Alles andere wird als gut und böse nur relativ im Hinblick auf diesen einzigen Wert angesehen" (ebd. 2627). Die "Kommunistische Partei ist ... eine Ideologie in Aktion. Sie wurde begründet, besteht und handelt ausschließlich in der Absicht, diese Ideologie samt ihren Konsequenzen der ganzen Menschheit aufzuzwingen [...] Man kann die marxistisch-leninistische Auffassung der Partei in vier Hauptpunkte zusammenfassen: Die Partei ist eine kleine Elite, sie ist die führende Elite, sie besteht aus beruflichen Revolutionären und sie ist militärisch organisiert" (ebd. 113114).

Oberste Nahziele: Zersetzung und Diktatur

Der Marxismus spricht von zwei Phasen der praktischen Umsetzung seines Glaubens und seiner Moral: die Phase der Zersetzung der bestehenden Ordnung eines Staates und die Phase der Diktatur des Proletariates oder der Partei: "Die Partei [soll] in ihrem Kampf um Machteroberung alle verfügbaren Mittel nach kriegerischen Prinzipien einsetzen ... - etwa diplomatische, wirtschaftliche, geistige und militärische [durch ...] möglichst weitgehende Zersetzung aller lebendigen Kräfte [...] des zu besetzenden Landes [sodass ...] die Massen vor allem jedes Vertrauen zu den bestehenden Autoritäten verlieren und möglichst unzufrieden werden" (Bochenski a.a.O. 1975, 118). Zu diesem Zweck besitzt "die kommunistische Organisation außer der Partei ... zwei Arten von Hilfsorganisationen ...: die sogenannten 'Transmissionen' und 'Frontorganisationen'. Die erste Art besteht aus Organisationen, die offiziell der Partei angeschlossen sind [...] zum Beispiel kommunistische Gewerkschaften, Verbände der kommunistischen Jugend und ähnliche. Die anderen sind Massenorganisationen von Nicht-Kommunisten, die durch die Partei errichtet und durch sie geleitet werden und zwar, um gewisse taktische Tiele der Partei zu erreichen. Eine solche Organisation sind die bekannten Friedenskongresse. Es gibt Dutzende solcher Frontorganisationen, in welchen eine große Masse von Nichtkommunisten durch einige Mitgieder der Partei geleitet werden." (ebd. 116)

Dieser Phase folgt nach der revolutionären Machtergreifung die bekannte sog. Diktatur des Proletariates "gegen jeden ... der nicht unbedingt der Partei gehorchen will", wobei das Recht "als eine Waffe aufgefaßt und ohne Rücksicht auf irgendeine Norm zur Vernichtung der Gegner der Partei gebraucht" wird und so "die Gestalt des Terrors" annimmt (ebd. 125).

Diese Moral "verspricht ... dem einzig wirklichen Einzelmenschen von heute nichts für ihn selbst, sondern fordert, daß er sich für etwas aufopfere, das außer ihm steht [Sie sagt:] Ich habe nur den Kampf und die Arbeit anzubieten. Aber dein Leben wird ein einziges Abenteuer im Dienste einer großen Idee sein." (ebd. 2728)

Relativistische und autoritäre Moral

Der Marxismus als Moral und als weltanschauliches System stellt wie Nietzsche und wie die in Folge kurz vorzustellende klassische Psychoanalyse Freuds die eigenständige Bedeutung des Moralischen daher grundsätzlich in Frage. Dies gilt nicht ohne weiteres für Marx' Frühschriften und auch nicht für den v.a in Frankreich und in Ostmitteleuropa verbreiteten Reform-Marxismus der letzten Phase des Ostblocks.

Aber auch hier sind die Ansätze des späteren Systems schon in der frühesten Schrift 1843/44 greifbar (Marx: Zur Judenfrage, Berlin 1919 [11844]), wie folgendes Kurzreferat zeigt: Marx sieht in der 1789 begonnenen „politischen Revolution“ in Frankreich und Europa einerseits eine „politische Emanzipation“ durch „Auflösung der alten [feudalistischen] Gesellschaft“. Letztere stellte in sich durchaus eine organische Verbindung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft dar, „das heißt, die Elemente des bürgerlichen Lebens, wie zum Beispiel der Besitz oder die Familie, oder die Art und Weise der Arbeit, waren in der Form der Grundherrlichkeit, des Standes und der Korporation zu Elementen des Staatslebens erhoben.“ (Marx a.a.O. 35) Nur dass diese „Organisation des Volkslebens“ in Marx‘ Augen zum einen schon in sich suboptimal war und zum anderen sich im Laufe der Geschichte „das Staatswesen“ zusätzlich „dem Volk entfremdet“ hatte (3536).

Aber andererseits hob „die politische Revolution […] damit den politischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft auf“ (36). Sie zerstörte die frühere organische Verbindung von Staat und Gesellschaft und verwandelte die bürgerliche Gesellschaft in eine Masse atomisierter Individuen, welche nur in der Theorie politisch zu „Staatsbürgern“ ermächtigt wurden, in der Praxis aber entpolitisiert und „nach Abschüttelung der [dem Egoismus und Materialismus steuernden] Bande“ zu „zügellosen […] egoistischen Menschen“ entfesselt wurden (37). Die liberalen Freiheitsrechte der französischen Revolution legitimieren und zementieren genau diesen Zustand: „Keines der sogenannten Menschenrechte geht … über den egoistischen Menschen hinaus […] Das Staatsbürgertum wird sogar zum letzten Mittel für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte herabgesetzt“ (a.a.O. 3334).

In der Praxis setzte sich aber schon in der französischen Revolution tendenziell der Vorrang des kollektiven Staatsinteresses vor den individuellen Menschenrechten durch: Es „steht seine [= der bürgerliche, liberale Staat der französischen Revolution] revolutionäre Praxis [z.B. Infragestellung des Briefgeheimnisses und der Pressefreiheit unter Robespierre] in flagrantem Widerspruch mit seiner Theorie […] Das heißt also: Das Menschenrecht der Freiheit [Leben, Sicherheit, Privateigentum …] hört auf ein Recht zu sein, sobald es mit dem politischen Leben in Konflikt tritt“ (3435). Marx selbst „will“ nun „diese revolutionäre Praxis als die richtige Stellung des Verhältnisses betrachten“ (35) Denn der Konflikt zwischen freiheitlicher Theorie und totalitärer Praxis der französischen Revolution rühre eben daher, dass die [franz.] politische Revolution die Revolution der bürgerlichen Gesellschaft ist, also die Enthemmung des egoistischen Menschen und seines Geistes (3637). Die innere Logik der Revolution müsse also dahin gehen, den egoistischen Menschen dahin zu bringen, zum überindividuellen Staatsbürger und so zum moralischen Menschen zu werden: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt [= in sich aufnimmt] und als individueller Mensch … Gattungswesen geworden ist […] erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (39)

Eine vieldiskutierte textnahe Analyse bilanziert dasselbe zu Marxens größtem und letztem Werk Das Kapital:

"Marx’s notion of freedom has nothing to do with the autonomy of the individual. Rather, Marx applies the term freedom to man in socialist society, a social order in which man has established conscious control over social production and is no longer subject to the blind forces of the market. In Marx’s sense, man is not free in a market economy because it is an unplanned form of social organization that has control over man. Planned social production, in Marx’s view, abolishes exchange altogether and establishes a direct unity of production and use. There is no humanist in Marx. His concept of freedom is the negation of spontaneity or individual autonomy. It means precisely society’s liberation from autonomous forces—a freedom that comes with society’s ability to control its own destiny. Marx’s denial of the existence of goodwill among different classes and his view that violence is the effective mediator between divergent class interests led logically to Leninism and Stalinism." (Paul Craig Roberts / Matthew A. Stephenson: Marx’s Theory of Exchange, Alienation, and Crisis, Stanford 1973; Zitat aus P. C. Roberts: My Time with Karl Marx. In: The Independent Review, Spring 2004)

Die ökonomische Theorie des orthodoxen Marxismus von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Lenin besitzt zwar heute keine größere systematische Bedeutung mehr, aber Weltbild, Moral und Strategien des Marxismus sind in anderer Einkleidung durchaus weiterhin sehr präsent. So namentlich im heute Weltwirtschaft und Weltpolitik dominierenden Neokonservativismus mit seinen zahllosen Frontorganisationen alias Nichtregierungsorganisationen zur Destablisierung bzw. Zersetzung der bestehenden Ordnung von Staaten, die sich nicht dem globalen Herrschaftsanspruch der neokonservativen Elite bzw. Partei unterwerfen. Deswegen hier folgende Bilanz zu Weltbild, Moral und Strategien des Marxismus: Der Marxismus scheiterte in der Geschichte zunächst einmal auch und natürlich deswegen, weil die Marx'sche Theorie für ihre Zeit zwar eine bedeutende volkswirtschaftliche Leistung darstellte, aber bald "ein vollständiger Anachronismus [... und] Dogmatismus ... längst veralteter Ideen" wurde (Bochenski a.a.O. 1975, 71). Insbesondere der geschichtsphilosophische (HISTOMAT) und metaphysische (DIAMAT) Überbau "enthält wohl einige richtige Einsichten, [ist] aber im wesentlichen ... falsch" und "vereinfacht und verallgemeinert auf eine geradezu unerträgliche Weise" (ebd. 90, 100).

Die marxistische Ethik und Praxis scheiterte näherhin vorrangig daran und erwies sich so als nicht realitätsdicht, dass sie die persönliche Moralität als Gewissen des Individuums nicht ernst genug nahm. Moralität und Gewissen wurden mehr oder minder zu Epiphänomenen der sozialen Verhältnisse, der Klasse, der Gattung reduziert: Der Marxismus "vermeint, Geschichte ... kenne ... keine Rücksicht auf einzelne Subjekte, sondern gehe unbeirrbar auf ihr Ziel zu [...] Der orthodoxe Kommunist spricht von historischer Verantwortlichkeit, und diese überholt, wie Merleau-Ponty sagt, 'die Kategorien ... Absicht und Tat, Umstände und Willen, Objektives und Subjektives. Sie erdrückt das Individuum'". So der selbst dem Reformsozialismus zuneigende Walter Schulz in der groß angelegten und einflussreichen ethischen Grundlegung Philosophie in der veränderten Welt, Stuttgart 2001 [1972], 825. In den Worten Bochenskis (a.a.O. 1975, 110): "Für den Einzelmenschen und seine ... Fragen hat der Marxismus-Leninismus kein Interesse [...] Es ist eine Lehre, in welcher nicht der Einzelmensch, sondern das Absolute, die ewige, unendliche Natur im Zentrum steht - eine Art Gott, der in der Menschheit zum Bewußtsein kommt."

Der Marxismus neigte also stets sehr massiv dazu, Moralität / Immoralität nur und genau als säkularisierte überindividuelle Erlösung / Erbsünde zu interpretieren, das heißt als strukturelles Gutes / Böses. Persönliche Sittlichkeit wird mit äußeren Normen (soziales Ethos) identifiziert: "Solange es Klassen gibt, kann es keine allgemeine menschliche Moral ... geben, vielmehr hat jede antagonistische Klasse ihre eigene [...] Daraus ergibt sich, wenigstens was die Moral betrifft, ein durchgehender Relativismus" (Bochenski a.a.O. 1975, 108109). Daraus folgt wiederum die systemische Blindheit dafür, dass das strukturelle Gute/Böse ein Produkt des individualethischen Guten/Bösen ist. Noch einmal Walter Schulz: "Moral darf nicht zu einer Ideologie werden, in der die Überzeugung des einzelnen total vernichtet wird zugunsten einer dogmatisch angesetzten reinen Lehre. Die kritische Haltung sich ethisch als Gewissen konstituierend bleibt ... die letzte Möglichkeit für den einzelnen, die ihm Halt gewährt, auch wenn er weiß, daß er politisch scheitern wird" (a.a.O 2001, 831).

Und Bochenski: "Der Marxismus-Leninismus [... ist] keine Wissenschaft, er ist ein militanter Glaube [...] Sein Humanismus anerkennt den heutigen Menschen nicht." (Bochenski a.a.O. 143)

Von bleibender Bedeutung an der marxistischen Theorie ist freilich nach dem abstrakten Rationalismus und Individualismus der Aufklärung die Bewusstmachung der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen und damit des Einflusses der sozialen und materiellen Verhältnisse auf das soziale Ethos und den Motivationshorizont des individuellen Gewissens. Aber das ist keine sozialwissenschaftliche Entdeckung Marxens, sondern selbstverständlicher Ausgangspunkt gerade der vorrevolutionären Staatstheorie und politischen Praxis.Siehe z.B. das Grundbuch konservativer Politik, Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France von 1790. Hier auch noch einmal die schon vorgestellte Kritik des Kognitionswissenschaftlers und Soziobiologen Steven Pinker (Harvard), dass der Marxismus diesen Punkt heillos zu einer kulturrelativistischen Tabula Rasa-Ideologie überzieht: Es gibt keine dauerhaften Eigenschaften der menschlichen Natur; diese kann völlig vorurteilslos umgeschaffen werden zu einem neuen Menschen Alle sind von Natur aus gleich Unterschiede sind immer ein Produkt der Sozialisation, Erfahrung und Kultur (Pinker: The Blank Slate, New York 2002, 157). In diesem Kulturrelativismus sieht Pinker, wie in Kap. 6 dargestellt, die „secular religion of modern intellectual life“ (2002, 3), welche einen „sacred status“ genießt (7). Man müsse sich aber der Tatsache stellen, dass (i) der revolutionäre Fortschrittsglaube des Kommunismus genau die kulturrelativistische Ideologie verkörperte, in der die political correctness heute das Heil sucht. Und dass (ii) im Namen dieser Ideologie der Gleichheit Terrorregime in historisch parallellosen Dimensionen errichtet wurden, denen so Pinkers vorsichtige Schätzungen im sowjetischen Ostblock 25 Millionen Menschen (im Minimum; Solschenizyn zählt 55 Millionen) zum Opfer fielen und im maoistischen China 65 Millionen (2002, 156).

Verhaltensforschung zu Handlungstheorie und Ethik

Es liegen starke Parallelen vor zwischen der soziologischen, marxistischen Relativierung echter Moral und der biologischen, ethologischen (an der biologischen Verhaltensforschung ausgerichteten) Relativierung der Moral. Letztere wurde v.a. von Konrad Lorenz entwickelt. Vgl. Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, München 1998, und ders.:  Der Abbau des Menschlichen, München 3. Aufl. 1992. Heute wird dieser Ansatz v.a. von der Human-Soziobiologie fortgeführt. Wir haben gesehen: Der dialektische Materialismus [DIAMAT] des Marxismus vertritt eine evolutionistisch von unten nach oben determinierte materiell-ökonomische Zielrichtung der Geschichte. In der Verhaltensforschung ist Norm und Prinzip der Ethik ebenfalls die hier biologisch verstandene Zielrichtung (Teleonomie) der evolutionären Stammesgeschichte. Lorenz deutet Moral als Kompensation der stammesgeschichtlichen biologischen Ausstattung nach dem Übergang zur Kulturgeschichte. "Im Gegensatz zum Tier, das seine Aggressionen unmittelbar auslebt, müssen wir verständig unsere Aggressionen steuern." (Schulz a.a.O. 2001, 770). Die Theorie arbeitet methodisch mit einem biologischen Utilitarismus, der vor allem sozialethisch ausgerichtet ist. Auch das hat eine formale Parallele im Marxismus: Man ersetze nur 'biologisch' durch 'ökonomisch' und 'sozialethisch' durch 'klassenethisch'.

Von den Einsichten der Tradition und Kants her fällt also auch hier das Fehlen der Selbstzweckhaftigkeit der Person ins Auge, die letztlich einer biologisch-ökologischen Diktatur der Arterhaltung nachgeordnet wird. W. Schulz (a.a.O. 2001, 459, 773) ist zuzustimmen, wenn er sagt: "Der Mensch [vermag] sich vom Tier ... durch das Mittel der Selbstreflexion grundsätzlich zu unterscheiden ...: 'Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebenden Wesen.' [Kant: Anthropologie §1] Die Ichhaftigkeit des Menschen kann und muß als Ausgangspunkt einer jeden Besinnung des Menschen auf sich selbst angesetzt werden [...] Erst von der her ergibt sich ... die Chance, eine mögliche Überwindung ... 'schlechter' Aggression ["das heißt lebenszerstörender Destruktion"] in wirklichkeitsnaher Form zu diskutieren und durchzuführen ... und [von] 'guter' Aggression, das heißt aufbauender Aktivkraft" abzugrenzen.

Der letzte Absatz zeigte: Der zentrale Begriff dieser biologischen Ethik wie übrigens auch der sozialpsychologischen Moralforschung ist jener der Aggression. Für die biologische Ethik ist sie "im Menschen als solchem veranlagt. Aggressivität ist auszugebende Energie", und zwar eigentlich und ursprünglich im Rivalenkampf um die innerartliche soziale Rangordnung und im Existenzkampf um Beute und gegen äußere Feinde (Schulz a.a.O. 2001, 768).

Dieser biologischen These von der Aggression als positivem Trieb der menschlichen Natur stellte bekanntlich die Sozialpsychologie die Frustrationsthese gegenüber: "Aggression ist [negatives] Produkt der Kultur, ihr eigentlicher Quellbereich ist die falsche Erziehung des Kindes ... Der Mensch würde gut, wenn die Repression durch die Rationalität wegfiele. Der Eros würde dann regieren" und es gäbe keine Aggression mehr (Schulz a.a.O. 2001, 770771). Beides wirkt absurd. Ethik wird zur hausbackenen Rezeptur aus der Froschperspektive quantifizierender realwissenschaftlicher Einzeldisziplinen: "Solche Untersuchungen ersetzen den moralischen und politischen Einsatz nicht, wohl aber können sie Möglichkeiten einer Umwandlung des Verhaltens aufweisen [...] Vor allem ... muß man sich klarmachen, daß keine Wissenschaft dem Einzelnen den Entschluß abnehmen kann. Diesen muß ich selbst leisten. Nur wenn ich dies tue, ist die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe der Wissenschaft die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit, durch die der Mensch in concreto durchgängig bestimmt ist, verantwortlich zu durchdenken und zu praktizieren." (Schulz a.a.O. 2001, 779780)

Eine deutschsprachige Standardarstellung zur Soziobiologie von F. Wuketits (Heidelberg / Berlin / Oxford 1996) zeigt, dass die Diskussion auf biologischer Seite inzwischen auch recht differenziert ausfallen kann. Wuketits geht von Kampf / Aggression und Kooperation / Altruismus als zwei komplementären, synergistischen Prinzipien der sozialen Intelligenz und des sozialen Lebens aller Spezies aus. Wahres Eigeninteresse und ausgeprägte Hilfsbereitschaft sind bikonditional: "Der wahre Egoist kooperiert" (1996, 76) wie auch kämpferische Aggression notwendig ist zur Führung und zum Schutz Schwächerer. Rousseaus Theorie eines pazifistischen natürlichen Urzustandes ist falsch (144, 147, 150). Wuketits nennt dies den reziproken Altruismus, der "die soziale Evolution der Hominiden in entscheidender Weise" (150) geprägt hat und "eine der größten Errungenschaften" war (180). Dieser ist soziobiologisch ursprünglich auf die Kleingruppe ausgerichtet (Ethnozentrismus) und mit Abgrenzung Außenstehender (Xenophobie) verbunden (96100, 152159). Das heißt: "Wir dürfen davon ausgehen, dass Moral einen Selektionsvorteil hat" (180) wie auch die Zehn Gebote den Daten der Soziobiologie entsprechen (172173). Im Fazit: "Die vielleicht wichtigste von den Soziobiologen vermittelte Einsicht ist, dass Kultur [und moralische Normen] als spezifischer Ausdruck unserer [biologischen] Natur betrachtet werden kann" (196).

Noch grundsätzlicher ist der evolutionsbiologische Konstruktivismus der Kritiker einer Soziobiologie, wie sie z.B. Konrad Lorenz oder aktuell Richard Dawkins mit der Theorie des egoistischen, amoralischen, einzelkämpferischen Gens vertreten. Man sieht in letzterer Soziobiologie einerseits ein Abweichen von Darwins ursprünglicher Einsicht, dass vitale und Bindungsbedürfnisse, Zuneigung und Gerechtigkeitssinn primäre biologische Bedürfnisse und Einstellungen sind, und Kampf und Aggression sekundäre Reaktionen auf Bedrohungen dieser primären Bedürfnisse. Vgl. auch hier die Übersicht bei Bauer: Das kooperative Gen, 2008, 147156, 160170, und ausführlicher ders.: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006. Andererseits macht man darauf aufmerksam, dass sich dennoch umgekehrt Charles Darwin ausdrücklich zu Rassismus und Sozialdarwinismus bekannte, einen globalen Existenzkampf zwischen stärkeren und schwächeren Individuen sowie höheren und niederen Rassen um Lebensrecht und Weltherrschaft voraussagte und den Sozialstaat ablehnte (vgl. Darwin: Die Abstammung des Menschen, Paderborn 2005 [1871] und Bauer: Das kooperative Gen 2008, 148150). Vgl. weiterführend das Menu Evolutionsbiologie und folgende Verknüpfung zum Eudaimonologischen Gottesargument in der gegenwärtigen Atheismusdebatte mit einer Bilanz der ganz aktuellen soziobiologischen Schwerpunkte auf Ethik und Religion.

Die ethologische, wie auch die marxistische und in Folge noch anzusprechende  psychoanalytische Relativierung der Moral trifft darüber hinaus eine sehr grundsätzliche logische und ethische Kritik: Sie arbeiten mit einem doppelten Vernunftbegriff, dem vorkritischen, unreflektierten, unmündigen, und dem aufgeklärten der Selbstreflexion, der nur und genau der eigenen Theorie zugesprochen wird und theorieabhängig ist. Gegen dieses tendenziell ideologisch-autoritäre Verfahren sprechen zwei Fakten: Einmal verfügen alle Menschen theorieunabhängig über eine relative Selbstreflexion und Autonomie, sonst wäre das Bemühen um Aufklärung ohne Anknüpfungspunkt.

Zum anderen zeigt sich, dass die Sachfragen im geschichtlichen Ablauf und im interkulturellen Vergleich identisch bleiben. Man lese dazu nur die glänzenden Analysen Humes, etwa in der Untersuchung über den menschlichen Verstand (1748), Abschnitt 8, 1. Teil: "Allgemein wird zugestanden, daß eine große Gleichförmigkeit in den Handlungen der Menschen aller Nationen und Zeitalter besteht, und daß die menschliche Natur in ihren Prinzipien und Tätigkeiten stets dieselbe bleibt. Dieselben Beweggründe rufen immer dieselben Handlungen hervor: [...] Ehrsucht, Geiz, Selbstliebe, Eitelkeit, Freundschaft, Edelmut, Gemeingeist: diese Affekte sind in verschiedenen Mischungsgraden in der menschlichen Gesellschaft verteilt und [...] der Quell aller Handlungen und Unternehmungen [...] Wollt ihr etwas über die Gefühle, Neigungen und den ganzen Verlauf des Lebens bei den Griechen und Römern wissen? So vertieft euch in das Temperament und die Handlungsweise der Franzosen und der Engländer; ihr könnt nicht weit fehlgehen, wenn ihr auf jene die meisten Beobachtungen übertragt, die ihr bei diesen gemacht habt. Die Menschen sind in allen Zeiten und Orten so sehr dieselben, daß uns die Geschichte auf diesem Gebiete nichts Neues oder Fremdartiges berichtet". Vgl. auch Anzenbacher: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, 218222, und Maslow: Motivationspsychologie, Reinbek bei Hamburg 1999.

Psychologie & Psychoanalyse zu Handlungstheorie und Ethik

Psychosoziale Grenzen und Widerstände praktischer Vernunft

Die kulturellen, kognitiven und motivationalen Grenzen und Widerstände menschlicher Rationalität waren auch stets eine zentrale Einsicht der Theologie und der Psychologie. In der Theologie betonen v.a. die sogenannte Negative Theologie und entsprechende passive Spiritualität der Nacht der Sinne und des Geistes die kontraproduktive und realitätsverzerrende Macht von Sozialisation, Milieu, Interesse, Vorurteilsstruktur, Gewohnheit, Illusionen, Angst, Verdrängung, Verleugnung und selbstherrlicher Manipulation. Weltliterarische Paradigmen dieser Einsichten sind das Buch Hiob, und die Religions-, Kult- und Sozialkritik der israelitischen Propheten und des von ihnen angesagten Neuen Bundes. Die Evangelien alias messianischen Biographien des Neuen Testamentes bieten die mit riesigem Abstand wirkungsgeschichtlich einflussreichsten Erörterungen zur Sache. Eine wissenschaftliche Systematisierung legt Juan de la Cruz in der spanischen Mystik vor [siehe den entsprechenden Eintrag auf der Seite über Negative Theologie].

Es ist daher kein Zufall, dass Schopenhauer und Nietzsche Vorläufer ihrer skeptischen Philosophie des Verdachtes paradoxer Weise in den "homines religiosi" v.a. der katholischen Orthodoxie sehen: "Der Bau der Kirche ruht ... auf einer südländischen Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist er ruht auf einer ganz anderen Kenntnis des Gracián Graus NetzMenschen, Erfahrung vom Menschen" [...] "in welchem  ... die Erbschaft des ... Orients, des uralten ... Asien und seiner Kontemplation [liegt] Schon der Protestantismus ist ein Volksaufstand zugunsten des Biederen, ... Oberflächlichen; aber erst die Französische Revolution hat dem 'guten Menschen' das Szepter vollends ... in die Hand gegeben" (Fröhl. Wissenschaft, Abhdl. 358 u. 350). Vgl. Schopenhauer: Wille und Vorstellung, Buch IV und das von Schopenhauer übersetzte Handorakel [Kunst der Weltklugheit] seines und Nietzsches Lieblingsschriftstellers Baltasar Gracián (16011658, Bild links). Seit 25 Jahren erfährt Graciáns Handorakel ausgehend von den USA explosionsartiges Interesse und wurde ein in viele Sprachen übersetztes Erfolgsbuch. Graciáns opus magnum El criticón gilt als Bibel illusionsloser Menschenkenntnis und skeptischer Lebensklugheit und literarisch auf Augenhöhe mit Miguel de Cervantes' Don Quichotte.

Auch in der Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie wurden und werden diese Sachverhalte stets verhandelt. Zu ihnen zählen auch und zentral die weitverbreiteten neurotischen Abwehrmechanismen.

Hier eine Skizze der neurotischen [= angstmotivierten] Abwehrmechanismen

Angst ist ein Haupthindernis vernunftgeleiteten Handelns: "Angst ist die Basis jeder Neurose. Alle Neurosen sind beschreibbar als fehlgeleitete Versuche des Ichs, Angst, Unlust und Schmerz zu vermeiden." (Hoffmann / Hochapfel: Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin, Stuttgart / New York 5. Aufl. 1995, 57) Die folgende Verknüpfung informiert allgemein über die psychologische Forschung und Theoriebildung zur Emotion Angst unter Abgleich mit der Analyse von Angst bei Aristoteles und Aquinas:

Hier die Verknüpfung zur Definition und Differenzierung des Angstbegriffs

In der Entwicklungspsychologie ist zu den Grenzen und Widerständen praktischer Vernunft einschlägig die immer mehr im Mittelpunkt stehende Forschung zum sozioemotionalen Bindungsverhalten. Dieses meint das Werden der menschlichen Psyche im emotionalen und sozialen Umfeld einschließlich dabei auftretender geistiger wie emotionaler Verformungen und deren Therapie. Die bahnbrechenden Untersuchungen von R. Spitz und H. F. Harlow nach dem II. Weltkrieg mündeten in die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrundegelegten Ergebnisse von J. Bowlby. Eine maßgebliche Systematisierung erfolgte durch M. Ainsworth und P. Fonagy.

Eine Darstellung zur sozio-emotionalen Bindung (attachment) finden Sie hier

Die Grenzen und Widerstände vernünftigen, realitätsdichten Handelns werden dabei allerdings nicht als Gegeninstanz zur Grundlegung der Ethik in der praktischen Vernunft betrachtet. Denn die Auseinandersetzung mit diesen Hemmnissen unserer Rationalität und die Bereitschaft zu Engagement, zu aktiver Aszese, zu Umdenken und Zivilcourage sind rationale Forderungen der praktischen Vernunft auch in Nietzsches (sowohl heroischer wie positivistisch-sinnlicher) ethischer Vernunft. Dies schließt einen dabei unvermeidlichen inneren wie äußeren Leidensdruck ein. Dies ist die von Juan de la Cruz unter dem Begriff "Nacht der Sinne und des Geistes" diagnostizierte läuternde Lebenskrise und passive Prüfung.

Diese Dimension gilt den sich über sie äußernden Theoretikern und Praktikern in Psychologie, Ethik und Negativer Theologie auch und ferner nicht als Gegeninstanz zum individuellen und sozialen Bonum oder Glück als ultimativem inhaltlichem Prinzip der praktischen Vernunft. Ausnahmen wie Schopenhauer bestätigen die Regel. Denn der hier thematische Wille zu existentieller Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit wird als Bedingung der Möglichkeit maximaler Realitätsdichte, Freiheit und gelingendem Leben beschrieben. Das heißt anders ausgedrückt: als Bedingung von Glück. Mit den Worten Aristoteles': "Was dem hochwertigen Menschen wertvoll und lustvoll ist, ist wertvoll und ist lustvoll: [...] Das glückliche Leben ist ein ethisch hochstehendes Leben. Ein solches aber erfordert Anstrengung und ist kein Spiel." (Nikomachische Ethik, X, 1176 b 2427; 1177 a 13)

Dass und wie nach spirituellen Autoren, prophetischen Aufklärern und ethischen Kritikern des alt- und neutestamentlichen Israel, oder Ethikern wie Platon, Aristoteles und Schopenhauer, aber auch Psychologen und Psychotherapeuten wie Abraham Maslow und Viktor Frankl, dieser Prozess nicht nur die verantwortliche Auseinandersetzung mit der ultimativen transzendenten Realität einschließt, die wir Gott nennen, sondern auch als transzendentes Geschenk oder Gnade zu definieren ist, kann nicht weiter verfolgt, sondern nur angedeutet werden:

"Das vollendete Menschenglück [...] kann man [nur] leben, insofern ein göttliches Element in uns wohnt [...]: der Geist [...] Was dem Einzelnen wesenseigen ist, das stellt für den Einzelnen von Natur aus das Höchste und das Lustvollste dar. Für den Menschen ist dies ... das Leben des Geistes, nachdem dieser vor allem das wahre Selbst des Menschen darstellt" (Aristoteles: Nikomachische Ethik, X, 1177 b 2428, 1178 a 47).

In anderer Perspektive: "Wir sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch praktische Vernunft uns vorgestellten Reichs der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt desselben, und die Verkennung unserer ... Stufe, als Geschöpfe, und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes, ist schon eine Abtrünnigkeit ... dem Geiste nach" (Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 1. Aufl. 147).

In noch anderer Perspektive: Wir "bedürfen einer vollständigen Umgestaltung unseres Sinnes und Wesens, d.i. der Wiedergeburt, als deren Folge die Erlösung eintritt [...] Das Bedürfnis der Erlösung aus einem Daseyn, welches dem Leiden und dem Tode anheimgefallen ist [...] ist  ... die wichtigste [...] im Christenthum, wie im Brahmanismus und Buddhaismus enthaltene Grundwahrheit." (Schopenhauer: Wille und Vorstellung II, Kap. 48)

Und eine letzte Perspektive aus der neomarxistischen Frankfurter Schule: "Unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens kann die Philosophie [...] auch heute noch den moralischen Gesichtspunkt erklären, unter dem wir etwas unparteilich als recht und unrecht beurteilen [...] Ein anderes ist es aber, eine motivierende Antwort auf die Frage zu geben, warum wir unseren moralischen Einsichten folgen, überhaupt moralisch sein sollen. In dieser Hinsicht ließe sich vielleicht sagen: einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel." (J. Habermas: Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel. Reflexionen über einen Satz von Max Horkheimer. In: Lutz-Bachmann / Schmid-Noerr: Kritischer Materialismus, München / Wien 1991, 125)

Klassische Psychoanalyse und praktische Vernunft

Repräsentativ für die klassische oder alte Psychoanalyse ist natürlich das Theoriengebäude Sigmund Freuds. Repräsentativ für die neoanalytische Schule ist in praktischer, handlungstheoretischer Hinsicht die Motivationspsychologie Abraham Maslows (siehe in Folge). Freuds psychoanalytisches Modell teilt Nietzsches methodologisches Defizit an objektiver Systematizität und Operationalisierbarkeit. Jeder Fachpsycholge weiß, dass dies ein Hauptkritikpunkt der Fachpsychologie an der Psychoanalyse ist.

Auch inhaltlich weist sie - so die Kritik der neoanalytischen Psychoanalyse - eine analoge zentrale Fehlstelle auf. Diese sieht man in der  Konzentration auf die Analyse destruktiver, kranker und suboptimaler Praxis, die die Theorie und Praxis der Psychoanalyse tendenziell „von tiefer Verzweiflung und von einem Zynismus charakterisiert“ sein lässt, der bis „zur zersetzenden Bosheit“ ausarten kann, und die „Gegen-Moralität“ einer „Subkultur der Verzweiflung“ erzeugen kann und oft erzeugt hat (Maslow: Motivationspsychologie, Reinbek bei Hamburg 1999 [1954], 8). Anzenbacher (Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, 200214) bietet eine gute Zusammenfassung dieser Kritik an Freuds psychoanalytischer Relativierung der Moral mittels deren Herleitung (Genealogie) aus unauflösbaren und stets belastenden psychosozialen Dichotomien und Dynamiken. Demnach ist Moral ein entlastendes Produkt der Kultur. Genauer ist sie eine Leistung und Einsetzung des Überich zur Triebsublimierung und Aggressionshemmung, die vom Ich durch Angst und Liebesverlust eingefordert wird, und mit unvermeidlicher Frustration des Lust- und Aggressionsprinzips (Es) verbunden ist. Anzenbachers philosophische Analyse macht auf den egoistisch-hedonistischen Ansatz dieser Theorie aufmerksam: Sie versteht Moral als  subjektive Libido-Ökonomie, in welcher der Vernunft nur eine instrumentelle Rolle zukommt. Damit geht einher, dass die theoretische und praktische Selbstreflexion des (transzendentalen) Ich fehlt: Die Über-Ich-Einsetzung vollzieht sich als individuell-lebensgeschichtliche und kollektiv-kulturgeschichtliche Konditionierung des passiven Ich. Emanzipation, Kritik und partielle Unabhängigkeit vom Überich sind paradoxerweise ebenfalls nicht selbst möglich, sondern nur durch Außensteuerung, durch den Therapeuten.

Die kompetenteste und bekannteste systematische Kritik der klassischen Psychoanalyse stammt von dem aus Berlin gebürtigen und in London wirkenden Hans Jürgen Eysenck (19161997): Sigmund Freud: Niedergang und Ende der Psychoanalyse, München 1985 [englisch: The Decline and Fall of the Freudian Empire, London 1985]. Eysenck war in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts der vielleicht einflussreichste Psychologe und ist namentlich in der Persönlichkeitspsychologie und Intelligenzforschung bis heute maßgeblich.

Eysenck untersuchte ab 1952 systematisch die Heilungserfolge der Psychoanalyse. Er wertete dazu mehrere hundert Bücher und Tausende von Artikeln über Freud und die Psychoanalyse aus. Dazu kamen eigene einschlägige Experimente und seine singuläre berufliche Expertise in dem hier anstehenden Feld der Persönlichkeitspsychologie.

Diese Forschungen und Auswertungen führten schließlich zu der o.g. Bilanz in Buchform, die ich wissenschaftstheoretisch, klinisch und experimentell für so gut begründet halte, dass sie nicht zu entkräften ist. In folgender Verknüpfung werden Eysencks Thesen und Argumente vorgestellt:

Motivationspsychologie und praktische Vernunft

E. Erikson [PhilWeb]Für die Handlungstheorie und Ethik ist in der neueren Psychoanalyse besonders die sog. Humanistische Psychologie wichtig. Sie ist das die hier thematischen experimentellen Daten, empirischen Theorien und Metareflexionen integrierende Paradigma der Psychologie. Deren Grundbuch ist Abraham Maslows Motivation und Persönlichkeit (Reinbek bei Hamburg 1999 [1954]). Maslow ist einer der führenden neoanalytischen Psychologen des 20. Jh. Er war während Jahrzehnten Vorsitzender der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft, ist aber v.a. der Klassiker der Motivationspsychologie. Sein Hauptwerk Motivation und Persönlichkeit ist bis heute ein Standardwerk der Disziplin. Es ist ein natur- und sozialwissenschaftliches Pendant zur aristotelischen Handlungstheorie oder auch in manchen Gesichtspunkten zur kantischen Kritik der praktischen Vernunft. Es steht im Horizont der neoanalytischen Weiterentwicklung und Modifizierung der Psychoanalyse und analytischen Psychotherapie, wie auch H. E. Eriksons [Foto oben] bis heute grundlegendes psychosoziales Entwicklungsmodell und die Analysen E. Fromms. Der heute vorherrschende kognitive Ansatz der deskriptiven Persönlichkeits- und Sozialpsychologie zum moralischen Bewusstsein und Verhalten (J. Piaget, L. Kohlberg und R. A. Lazarus) ist Maslow ebenfalls verpflichtet. Hier einige zentrale Thesen aus diesem Werk:

Trotz der Notwendigkeit „der gründlichen Kenntnis der Psychopathologie und der Tiefenpsychologie“ als „notwendige vorbeugende Maßnahme gegen ... Illusionen“ über negative, neurotische, vulgäre Motivation gilt: „Das Motivationsleben von Neurotikern sollte, sogar prinzipiell, als Paradigma für gesunde Motivation zurückgewiesen werden“ (1999, 61).

„Man wird das menschliche Leben nie verstehen können, ohne seine höchsten Ambitionen in Rechnung zu stellen. Wachstum, Selbstverwirklichung, das Streben nach Gesundheit, nach Identität und Autonomie, das Verlangen nach Vortrefflichkeit ... müssen als ... universelle menschliche Tendenz akzeptiert werden“ (1999, 10).

Die deutlichste Instinktsicherheit und biologische Natürlichkeit ist „paradoxerweise bei den am meisten durchgeistigten, heiligen und weisen, den (organismisch) rationalsten Individuen“ zu beobachten: „Gesunde Vernunft ... und gesunde instinktoide Triebe zeigen alle in dieselbe Richtung und stehen bei der gesunden Person nicht im Gegensatz zueinander“ (1999, 112, 114).

Anmerkung: In religiöser Perspektive symbolisiert dies das Phänomen der rituellen Nacktheit. So erfolgt im Ritus der Kinder- und Erwachsenentaufe und -firmung des frühen und bis heute des östlichen Christentums ein Ganzkörpertauchbad und mehrere Ganzkörpersalbungen durch den Bischof/Priester. Hierzu der bedeutendste Religionswissenschaftler des 20. Jh., Mircea Eliade (Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 32007, Seitenverweise beziehen sich auf die Erstauflage, Hamburg 1957): „Der Nacktheit des Täuflings haftet eine zugleich rituelle und metaphysische Bedeutung an, nämlich das Ablegen des alten Kleides des Verderbens und der Sünde, ... mit dem Adam nach dem Sündenfall bekleidet wurde, und zugleich die Rückkehr zur ursprünglichen Unschuld, zu der Verfassung Adams vor dem Fall. ‚O Wunder‘, schreibt Kyrill, ‚ihr wart vor aller Augen nackt, ohne daß ihr euch geschämt habt, denn ihr tragt in euch das Bild des ersten Adam, der im Paradies nackt war, ohne sich zu schämen.‘“ (79) Weiter Eliade: „Der Symbolismus der Taufnacktheit ist keine Besonderheit der jüdisch-christlichen Überlieferung. Die rituelle Nacktheit bedeutet Unversehrtheit und Fülle [...] Alle rituelle Nacktheit weist auf ein zeitloses Modell, ein paradiesisches Bild“ (79), wobei die Harmonie von gesunder Vernunft und gesunder instinktoider Triebe von Erlösung resp. Initiationstod oder geistiger Neugeburt sowie sittlicher Hochwertigkeit abhängen: „Der Symbolismus [… und] das uralte Thema der zweiten Geburt [hat ...] immer ein gemeinsames Element, eine unveränderliche Größe, die man auf folgende Art definieren kann: wer Zugang zum geistigen Leben erlangen will, muß der profanen Seinsweise absterben und neu geboren werden.“ (118119). Es kann plausibel gemacht werden, dass ethisch gegründete Nacktheit und ästhetische Unbefangenheit mutatis mutandis auch in den sozialen und emotionalen Beziehungen der Alltagswelt Sinn und Bedeutung haben kann. Für deren biologisch-psychologische Berechtigung und praktische Durchführbarkeit argumentiert z.B. Michael Preuschoff (Das Durchblickkonzept für junge Menschen. Für ein Projekt der Reife und der Freiheit, Kerpen 2008), allerdings eingebettet in ein Potpourri meist unhaltbarer oder überholter religionswissenschaftlicher Positionen (vgl. dazu Bde. 9 und 10 der Edition novum studium generale zur Religionsphilosophie) und im Einzelnen nicht unhinterfragbar. Pate steht dabei Gandhis Interpretation des aszetischen Zölibates (Brahmacharya) und sein damals wie heute kontroverses experimentelles Ausloten desselben: "Who never has any lustful intention, who, by constant attendance upon God, has become proof against conscious or unconscious emissions ... is capable of lying naked with naked women, however beautiful, without being in any manner whatsoever sexually excited". Bekanntlich ist dies auch ein Thema Platons, v.a. in den Dialogen Phaidros und Symposion, siehe in Folge.

"Die individuellen und die sozialen Interessen sind unter gesunden sozialen Bedingungen synergisch und nicht antagonistisch“ (1999, 115). Umgekehrt gilt, dass „vieles, was als Moral, Ethik und Wert aussieht, einfach das Nebenprodukt der alles durchdringenden Psychopathologie des Durchschnittlichen ist“ (1999, 209).

Bei dem psychisch gesunden, selbstverwirklichenden Menschen „arbeiten das Es, Ich und Überich zusammen und sind synergisch; sie kämpfen nicht untereinander, noch sind ihre Interessen im grundlegenden Konflikt wie bei Neurotikern“ (1999, 211).

Vernunft und Instinkt sind keine unauflösbaren Dichotomien, sondern miteinander verträglich und ergänzen sich. Dasselbe gilt von den Dichotomien von Rationalität und Emotionalität, Egoismus und Selbstlosigkeit, Geistigkeit und Sinnlichkeit, Pflicht und Glück, Reife und Natürlichkeit, Individualität und Sozialität, Liebe und Sexualität (1999, 179212, 213235, 276301).

Anmerkung: Die Dichotomie von Vernunft und Trieb und allgemeiner von Geist und Leben haben namentlich östliche Religionen (Brahmanismus / Buddhismus mit den jeweiligen Ausnahmen Tantra resp. Vajrayana), die spätantike Weltreligion des Manichäismus mit seinen mittelalterlichen Ablegern (Paulizianer / Bogomilen / Katharer / Albigenser), der Protestantismus und die Philosophie Schopenhauers ins Relief gehoben, verteidigt und zum Zentrum der Lebenserfahrung und Weltanschauung gemacht. Arthur Schopenhauer etwa sieht im Willen zum Leben und im Geschlechtstrieb ontologisch die böse Substanz und ethisch die systematisch tabuisierte Quintessenz alles Tuns und Trachtens der Welt. Er analysiert den Zustand der Welt als schlecht und böse, weil durch den Sexualtrieb bestimmt, der das Wesen, die Substanz, die Entelechie der Welt ist. Schopenhauers Bewunderung gilt daher unbeschadet seiner auch vorhandenen atheistischen bzw. monistischen Tendenzen dem Brahmanismus und Buddhismus und den leibabtötenden urchristlichen Aszeten und strengen Mönchsorden wie Trappisten. Im Abschnitt zu Nietzsches Ethik wurde gezeigt, dass Schopenhauers Hauptwerk Wille und Vorstellung in der These des 4. Buches gipfelt, wonach Erlösung und Weisheit in der Nachfolge christlicher Heiliger, hinduistischer Yogis und buddhistischer Mönche nur durch Aszese und Abtötung des amoralischen selbstischen Willens zum Leben und speziell des Geschlechtstriebs möglich sind.

Auch für den mit den Schriften und Selbstzeugnissen Luthers, Melanchthons, Zwinglis und Calvins Bekannten liegt auf der Hand, dass ein Ausgangspunkt und zentrales Motiv des lutherischen etc. Bekenntnisses die Verzweiflung an der vernünftigen Ordnung speziell des geschlechtlichen Lebens zu sein scheint und die pauschale Kriminalisierung natürlicher erotischer und sexueller Antriebe als böse Begierde und radikale, unüberwindliche moralische Verderbtheit. Die Lösung wird dann in der bekannten Trennung von Glaube und Moral gesehen und in der Rechtfertigung durch den Glauben allein und bei Luther und Zwingli darüber hinaus in der Leugnung von Willensfreiheit und praktischer Vernunft: „Das Wesenhafte, das Luther in der Erbsünde fand, setzte sich übrigens nach ihm im Geist und Leib des Menschen an [...] Seine Ausdrücke sind: Sündigen sei die Natur des Menschen, die Natur des Menschen [und der Welt] sei nach dem Fall eine andere geworden, die Erbsünde sei eben ... der Leim, aus dem wir gebildet werden [...] der Mensch mit seiner ganzen Natur und Wesen sei nicht nur Sünder, sondern die Sünde selbst [...] ein völliges Auf- und Untergehen aller Triebe, Neigungen und Bestrebungen des gefallenen und nicht Wiedergeborenen im Bösen [was] selbst nicht durch die Wiedergeburt ... aus dem Menschen ... verschwinde [so dass ...] die verdorbene Natur aus sich und ihren Kräften vor Gott nur sündigen könne.“ (Möhler, J. A.: Symbolik, oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, Mainz 111890, 7377, vgl. 4453, 153197, 232240).

Eine wissenschaftliche Ethik hat die „Konzeption des psychologisch gesunden Menschen“ zu Grunde zu legen (1999, 302318). Die Ethik hat davon auszugehen, dass der Mensch eine eigene wesentliche physische und psychische Natur hat mit genetisch / epigenetisch teils menschspezifischen, teils individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Tendenzen, die gut oder neutral sind. Psychische Gesundheit, Reife und sittlicher Wert liegt in der vernünftigen Verwirklichung dieser essentiellen Motive. Es gilt, „daß wir mir Aristoteles übereinstimmen können, wenn er annahm, daß das gute Leben darin besteht, in Übereinstimmung mit der wahren Natur des Menschen zu leben“ (1999, 306). Dies kann man zwar alles richtig verstehen, trägt aber insgesamt zu wenig der misère de la condition humaine Rechnung, die wir in dem obigen Abschnitt 'Psychosoziale Grenzen und Widerstände praktischer Vernunft' angesprochen haben. Hier werden die Grenzen der humanistischen Psychologie deutlich: Sie bekämpft zwar mit Recht den pessimistischen Zynismus der klassischen Psychoanalyse, verortet sich aber selbst in Richtung des anderen Extrems eines zu optimistischen Naturalismus. Bezeichnend hierfür ist, dass Maslow jahrzehntelang bemüht war, konkrete Beispiele gesunder selbstverwirklichender Menschen auf säkular humanistischer Basis ausfindig zu machen und zu publizieren, aber schlussendlich hierbei keinen Erfolg hatte, sondern an den Rand des Komischen geriet.  

An Aristoteles anknüpfend lässt sich eine angeborene Bedürfnishierarchie identifizieren (1999, 308), deren Stufen normalerweise wenigstens schwerpunktmäßig sukzessive abgearbeitet werden müssen. Diese Stufen oder Phasen sind: Biologische Bedürfnisse Sicherheit Bindung Selbstwert Wissen Ästhetik Selbstverwirklichung Transzendenz (Metaphysik, Spiritualität, Mystik). Dieses ethische Programm „ist eine große und schwierige Leistung ..., die selten erreicht wird und gewöhnlich langer Jahre der Courage und harten Arbeit bedarf“ (1999, 310).

Amor und Psyche. A. Canova. Foto: Wikicommons Analog versteht sich Platons Philosophie in Theorie und Praxis als éros (Liebe, Sehnsucht, Trieb) nach Erfüllung einer Bedürfnishierarchie bis zum „[End-]Ziel der Liebe [...] als ginge es eine Stufenleiter hinauf [...], von den schönen Körpern ... zu den [wohlgestalteten Seelen und] schönen Lebensberufen und von diesen zu den schönen Wissensgebieten, um schließlich ... zu jenem Wissen zu gelangen, das nichts anderes zum Gegenstand hat als jenes Schöne an sich, das er ... schließlich in seiner Absolutheit erkennt“ (Diotimarede des Dialoges sympósion (211c und überhaupt 201d212c; vgl. Krüger: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a. M.,  6. Aufl. 1992). Man kann das bekannte Märchen Amor und Psyche (170 n.C.) des Neuplatonikers L. Apuleius als literarische Einkleidung der Diotimarede lesen [Skulptur oben: Amor (= Eros) und Psyche, 1793 v. Antonio Canova, Europas gefeierter Künstler der Epoche, bekannt durch Grabmonumente für den Petersdom und das Haus Habsburg in Wien]

Soziologie zu Handlungstheorie und Ethik Kommunitarismus

Einleitung und Überblick

Die Normenbegründung für die intrinsische Moralität und die extrinsische Sozialität und Legalität kann autoritativ, durch politische oder rechtliche oder religiöse Autoritäten, Institutionen und Traditionen erfolgen, oder rational-diskursiv. Philosophische Ethik ist nun methodologisch per se rational-diskursiv, auch wenn sie im Resultat zu einer mehr oder minder großen Anerkennung autoritativer Begründungen gelangt.

Rational-diskursive Normenbegründung kann nun subjektivistisch und empiristisch vorgenommen werden. Das ist namentlich im Rahmen des utilitaristischen bzw. konsequentialistischen Ethiktypus der Fall. Aus sachlichen Gründen stellt sich diese Normenbegründung immer wieder, nicht zuletzt in der aktuellen Diskussion, als mit großen Defiziten belastet heraus (siehe Ch. Korsgaard et al.: The Sources of Normativity, Cambridge 1996; A. Anzenbacher: Einführung in die Ethik [ab 4. Aufl. 2012 unter dem Titel: Ethik. Eine Einführung], Düsseldorf 1992, 1842).

Rational-subjektivistische Normenbegründung kann zweitens gerechtigkeitstheoretisch bzw. diskurstheoretisch, konstruktivistisch vorgenommen werden. Hierfür kann das kantische Konzept der praktischen Vernunft als vernünftige Selbstgesetzgebung aufgegriffen werden: Die vier geläufigen Formeln des kategorischen Imperativs sind als gerechtigkeitstheoretische Kriterien und Handlungsbegründungen avant la lettre deutbar. Es ist daher kein Zufall, dass die moderne, aktuelle Normenbegründungs-Diskussion sich weitgehend als bewusste kantische Rekonstruktion versteht. Im angelsächsischen Raum ist der große alte Mann der ethischen Gerechtigkeitstheorie selbst zu nennen: J. Rawls (Kantian Constructionism in Moral Theory. In: The Journal of Philosophy 77, 1980, 515572), sowie O. O’Neill (Construction of Reason. Exploration of Kant’s Practical Philosophy, Cambridge 1989) und Korsgaard et al. a.a.O. 1996. Im kontinentaleuropäischen Raum gehören dazu die Transzendentalpragmatik K.-O. Apels (Transformation der Philosophie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1973) und die Diskursethik J. Habermas’ (Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981, und ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983).

Die jüngste Diskussion zeigt aber auch, dass Diskurs- oder Gerechtigkeitstheorien zwar in der Lage sind, sozial akzeptierte Normen extrinsisch zu begründen, aber nicht intrinsische Moralität oder Pflicht. Es sind eben nur und genau universalisierungs-theoretische, prozedurale Rekonstruktionen der kantischen Ethik und kein ethischer rationaler Objektivismus wie Kants Ethik (vgl. K. Flikschuh: Kant and Modern Political Philosophy, Cambridge 2000). Die jüngste Diskussion zeigt ferner, dass sie zweitens zwar distributive Gerechtigkeit abzudecken in der Lage sind, aber keine inhaltlichen Werte oder inhaltlichen Sinn evaluieren können, also nicht in der Lage sind, wie der ethische Realismus natural oder objektiv Unbedingtes zu identifizieren, beginnend mit der materialen Bestimmung der Menschenwürde. J. M. Gillroy (Making Public Choices: Kant’s Justice from Autonomy As An Alternative to Rawls’ Justice As Fairness. In: KS 91, 2000, 4472) analysiert Rawls’ „Justice as Fairness“ zutreffend als politische Entscheidungstheorie für die institutionelle Praxis. Was ihr fehle, sei eine echte Moraltheorie der praktischen Prinzipien, wie sie Kants „justice from autonomy“ biete. K. Ameriks: The Practical Foundations of Philosophy. In: Sedgwick, S. (ed.) The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Fichte, Schelling, and Hegel, Cambridge 2000, 109128, charakterisiert zutreffend solche Rekonstruktionen der kantischen Ethik (Alan Wood, Christine Korsgaard u.a.) (112114) als ethischen Konstruktionismus und Demontage traditioneller Metaphysik und transzendenter Behauptungen (114, 116), wodurch Kant schlicht unverständlich werde (115). T. Bailey (‚Kant and Autonomy’ Conference. University of Warwick, Saturday 4th May 2002. In: Kant-Studien 93 (2002), 488490) berichtet über eine schwerpunktmäßig dieser Frage gewidmeten Konferenz. Deren Ergebnis war, dass die liberalistische, individualistische, legalistische Interpretation der ethischen Autonomie das Gegenteil von Kants Auffassung ist: Selbstbestimmung ist für Kant reflexiv, d.h. Bewusstmachen der in uns vorfindlichen objektiven praktischen Vernunft, nicht subjektiv im Sinne konventionalistischer Setzung und willkürlicher Konstruktion. Schmucker (Die primären Quellen des Gottesglaubens, Freiburg/Basel/Wien 1967) fasst Kants Konzeption der ethischen Normenbegründung so zusammen: Die Autonomie der praktischen Vernunft ist kein arbiträres, selbstherrliches Wesenswollen im Sinne Sartres, sondern das als vernünftige Ordnung des Seins und der Werte bindend vorgegebene Faktum der Vernunft. Dieses zeigt die indirekte Abhängigkeit der Autonomie der praktischen Vernunft von einem „absoluten transzendent-personalen Willen“ als „totale Bindung der Freiheit als Freiheit“ (1967, 201).

Auf diesem Hintergrund ist eine dritte, rational-diskursive Theorie der Normenbegründung neuerdings aktuell und interessant geworden, die klassische antik-scholastische, aber auch frühneuzeitliche Naturrechtstheorie. Auf sie beziehen sich auch viele Kommunitaristen (siehe in Folge). Ihr Gegenstand ist die Erarbeitung und Identifizierung materialer Prinzipien, abgeleiteter Normen und individuell-kontingenter Anwendungen als Vernunftordnung (ordo rationis) und deren soziale Umsetzung in einer sittlichen Handlungsgemeinschaft (bonum commune). Dies beantwortet das Problem der intrinsischen Begründung der Moralität als subjektiver Pflicht im Sinne des ethischen Objektivismus und das Problem der verbindlichen Evaluation materialer Prinzipien im Sinne des ethischen Realismus. Vgl. zur scholastischen Tradition dieses Naturrechts R. Linhardt (Die Sozialprinzipien des heiligen Thomas von Aquin, Freiburg 1932), und zu dessen Aktualisierung in der Moderne L. Strauss (The Rebirth of Classical Political Rationalism, Chicago/London 1989), E. Voegelin (Die Neue Wissenschaft der Politik, Freiburg/München 41991), A. Anzenbacher (Einführung in die Ethik [ab 42012 unter dem Titel: Ethik. Eine Einführung], Düsseldorf 1992, 130133), S. Pinker (The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York 2002), Ch. Halbig (Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt a. M. 2007).

Dieser Naturrechtsansatz ist auch der kantische. Dies erhellt daraus, dass Kant Moralität als praktische Vernunft definiert: Prinzip, Regel der Praxis ist die objektive vernünftige Rationalität, also der ordo rationis, nicht ein nichtkognitives moralisches Gefühl, soziale Konventionen oder ein äußerlicher Rechtspositivismus. Inhaltlich orientiert sich diese Rationalität des Handelns an realen ethischen Idealen/Zwecken/Werten im Zusammenspiel mit der individuellen und intersubjektiven Erfahrung. Vgl. G. Dulckeit: Naturrecht und positives Recht bei Kant. (Abhandlungen der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen, 14), Leipzig 1932; Anzenbacher a.a.O. 1992, 81–170; Flikschuh a.a.O. 2000, und Th. S. Hoffmann: Kant und das Naturrechtsdenken. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87, 2001, 449–467. Anzenbachers (Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn 1998, 71) Erörterung von Kants Moralphilosophie mit der Rechtslehre (Rechtspflichten) und der Tugendlehre (Tugendpflichten) kommt zu dem Schluss: „Man kann durchaus die Meinung vertreten, daß sich durch diese beiden Ethikbereiche miteinander jener Gesamtraum rekonstruieren läßt, den das klassische Naturrecht umreißt.“

Dennoch ist Kant neben Locke natürlich ein Hauptgewährsmann des modernen politischen Liberalismus, insofern er den staatlichen Raum als Raum des Rechtes und nur des Rechtes definiert und nicht als Raum der Tugend, des guten Lebens, des Lebenssinns und des Glaubens. Aufgabe des Staates ist die formale Rechtsordnung. Die inhaltliche Frage nach dem weltanschaulich, moralisch, ökonomisch Richtigen und Guten wird privatisiert. Kant verpflichtet den Staat nur auf ein prozedurales, formales Naturrecht, während das materiale Naturrecht dem privaten und religiösen Raum zugewiesen wird. Da aber bei Kant beide aus der derselben Wurzel kommen, hängen bei ihm mittelbar doch beide Bereiche zusammen und gehorchen denselben Gesetzen. Das ultimative Hochziel individueller und sozialer Theorie und Praxis ist bei Kant darum auch das bonum commune: „eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 437438), was als „ethischer Staat“ das Reich Gottes ausmacht. Dieses an sich ethisch-spirituelle Reich der praktischen Vernunft soll zugleich die notwendige soziale und rechtliche Ordnung einer sichtbaren Kirche (Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kap. 3, Abschnitt 4) und des Staates (RiGbV, Kap. 3, Einleitung) beseelen. Claus Dierksmeier, Direktor des Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen, trifft in Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, Berlin/New York 1998, trotz seiner radikal fiktionalistisch-antimetaphysischen Interpretation mit Folgendem doch Kants Denken: Recht, personale Wohlfahrtssuche und technisch-politische Pragmatik sind zu wenig; dies „muß verbunden und überformt werden durch eine Deutung der Welt im Ganzen, damit es zu einem stimmigen Programm politischen Handelns kommen kann“ (1998, 136). Letzteres ist ein „konstitutives Merkmal gelingenden politischen Handelns“ (136); nur die „religiös inspirierte Kultur liefert orientierende Endzweckhorizonte“ (142). Und: „Das utopische Ziel muß sich als letztlich historisch realisierbares Projekt denken lassen […] Die Idee des höchsten Gutes hat demnach eine klare geschichtsphilosophische Dimension, die im politischen Leben konzeptive und interpretative Wirkung entfalten kann“ (148).

Über Kants Behandlung der in Rede stehenden Fragen informiert darüber hinaus knapp die folgende Verknüpfung: "Thesen und theologische Verortung von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)":

Moderne vertragstheoretische Rekonstruktionen der kantischen Ethik liefern Verfassung und Gesetzgebung jedoch geschichtlich wechselnden demokratischen Mehrheiten aus ohne Rückbindung an objektive, reale Normen oder Werte: „Das neuzeitliche Natur- und Vernunftrecht nimmt … die Gestalt einer formalen Gerechtigkeitstheorie auf menschenrechtlicher Grundlage an“ (Anzenbacher 1998, 71). Auch Anzenbacher sieht „keine Alternative zur liberal-modernen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft […] von Rechtsperson und ethischer Person“, weil er keine „Renaissance des Weltanschauungsstaates“ will (a.a.O. 1998, 119). Aber er ist redlich genug, auf zwei ungelöste Probleme hinzuweisen: (1) „Wie kann gewährleistet werden, daß in diesen Freiheitsspielräumen gut gelebt wird und ein vernünftiges soziales Ethos dominiert?“ (2) „Wieweit ist Politik selbst möglich ohne grundlegende Wert- und Sinnoptionen, d.h. ohne letztfundierende kriterielle Gewißheiten, deren Unverzichtbarkeit wir …. behaupteten?“ (a.a.O. 1998, 72)

Der Kommunitarismus

Der Kommunitarismus kann nun schlicht als Antwort auf diese letztgenannten ungelösten Probleme des liberalen Staates gelten. Einen ersten Überblick hierzu bietet W. Reese-Schäfer: Kommunitarismus, Frankfurt a. M./New York 32001. M. J. Sandel, einer der wichtigsten Vordenker, sagt in dem kommunitaristischen Grundbuch Liberalism and the Limits of Justice (Cambridge 22010 [11982]): Der Mensch ist nicht ein freischwebendes, atomisiertes, egoistisches Individuum. Er ist nicht nur Rechtsperson in individualisierten Freiheitsräumen, sondern angelegt, in Gemeinschaften, Traditionen, sozialen Bindungen zu leben: „Die Bindungen sind nicht bloß solche der freiwilligen Kooperation, sondern sie sind konstitutiv für die eigene Personwerdung und den eigenen Charakter“ (Reese-Schäfer a.a.O. 2001, 21). Das liberale Konzept der Person ist „parasitisch zu einem Begriff der Gemeinschaft, den sie offiziell verwirft“ (Sandel in: Reese-Schäfer 2001, 22). Der liberale Staat, namentlich unter dem Diktat des Ökonomischen, des egoistischen Kapitalismus und der Globalisierung, führt, so Sandel, in Demokratieverlust und Gemeinschaftsverlust. Anders ausgedrückt: in Kontrollverlust der Bürger und deren moralische Zersetzung. Der Bürger wird nicht befreit, sondern entmachtet. Der Kommunitarismus will nun eine Balance zwischen Autonomie und Ordnung, einen dritten Weg zwischen Individualismus und Kollektivismus.

Es liegt auf der Hand, dass sich zentrale Ideen des modernen Kommunitarismus bereits bei Arnold Gehlen, dem großen alten Mann der Institutionentheorie und einer institutionalistischen Ethik finden. Wir haben diese oben in dem Abschnitt 'Existentialismus versus Essentialismus in der Ethik' vorgestellt und eingeordnet. Gehlens Ethiktheorie lässt das Ethos, die Praxis ursprünglich nicht von Subjektivität und Reflexion abhängen, sondern von der Außenwelt, Kultur, von den Institutionen als Führungssystemen der Gemeinschaft: Sie steuern das Bewusstsein und formen das Antriebsleben. Dadurch antworten sie auf die drei anthropologischen Grundbedürfnisse: Sinndeutung Normen Sicherheit (Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek bei Hamburg 1986, 7-142; ders.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131986 [11940]).

Historische Hauptgegner des Kommunitarismus sind der Liberalismus Lockes und Kants sowie die ebenfalls die angeborene Sozialnatur des Menschen leugnenden und vergewaltigenden absolutistischen bzw. volksdiktatorischen Staatstheorien Hobbes' und Rousseaus. Zeitgenössische Hauptgegner der Gegenwart sind John Rawls' (und ähnlich Jürgen Habermas) von Kant her kommende liberale Gerechtigkeitstheorie (Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2009 [11971]) und Robert Nozicks (Anarchie, Staat, Utopia, München 2011 /11974 als Anarchy, State and Utopia) und James Buchanans von Locke bzw. Hobbes herkommender Libertarianismus und Kapitalismus. Gemeinsam ist diesen Gegnern ihr künstlicher vertragstheoretischer, kontraktualistischer Ansatz bei der Begründung von Ethik und Recht. Unterschiede liegen darin, dass Rawls und Habermas auf einen Sozialstaat und Gleichheit zielen und dem Urzustand einen naturrechtlichen Rahmen geben. Nozick und Buchanan betonen dagegen den reinen Rechtsstaat und die uneingeschränkte Freiheit sowie den ungebremsten Kapitalismus und definieren den Urzustand als Recht und Macht des Stärkeren und anarchischen Existenzkampf. Nozick hat im Übrigen später eine Bekehrung zum Kommunitarismus vollzogen.

Ein weiterer Vordenker des Kommunitarismus ist Charles Taylor [Foto rechts], insbesondere mit Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, Mass. 1989 [dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996] sowie Action and Purpose, New York 1973. Er macht gegen Locke, Hobbes, den frühen Robert Nozick und den Libertarianismus (1) Aristoteles‘ soziale Konzeption des Menschen geltend: Der Mensch ist von Natur aus ein zoon politikon, ein soziales Wesen. Und die (2) soziale These der Rechte: Rechte und Freiheit sind schon rein logisch nur in einCharles Taylor Wikipedia Commons 2.0er Gemeinschaft möglich und einräumbar. Außerdem sind, so Taylor, die Quellen des freien Subjekts und seiner Menschenrechte weltanschaulich und religiös. Das ist die Substanz, das Gute, in dem das Rechte gründet. Dies zeigte z.B. der Marxismus-Leninismus: Er unterdrückte Freiheit und Menschenrechte, weil er die Weltanschauung des Christentums und der klassischen Philosophie verwarf. Der abstrakte ethische und politische Liberalismus ist falsch, weil sittliches Bewusstsein und sinnvolle Freiheit des Individuums von der Ein- und Unterordnung unter die gemeinsamen Traditionen, Werte und Moralvorstellungen einer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft abhängig sind. In den Worten Anzenbachers: „Ohne lebendige, aus den Quellen gemeinsam lebbare weltanschaulich-ethisch-religiöse Wert- und Sinnoptionen des Guten ist das moderne System des Rechten (Recht und Gerechtigkeit) ein Koloß auf tönenern Füßen“ (Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn 1998, 118)

Eine weitere kommunitaristische Autorin und Diplomatin ist Martha Nussbaum, die ebenfalls von Aristoteles ausgeht. Sie ist bekannt durch die Kritik ethnologisch-fundamentalistischer und postmoderner Versionen des Kommunitarismus, die keinen priviligierten Standpunkt eines objektiv Wahren und Gerechten akzeptieren, für die jede Art von Gemeinschaft und jeder Kult gut und erhaltenswert sind, inkl. Menschenopfern, schwarzer Magie, Unterlassung von Seuchenbekämpfung etc. (vgl. Reese-Schäfer 2001, 67).

Tonangebend ist ferner Michael Walzer mit Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt am Main 2006 und Gibt es einen gerechten Krieg? Stuttgart 1982. Walzer ist heute maßgeblicher Theoretiker der amerikanischen Zivilgesellschaft und der globalen Militärexpansion der USA. Die Rechtfertigung Letzterer mit dem 11. September 2001 mag freilich mancher angesichts der „gut belegten Zweifel an der offiziellen Version“ (Prof. Richard Falk, Princeton) als naiv oder manipulativ empfinden (vgl. M. Bröckers/Ch. C. Walters: 11.9. Zehn Jahre danach, Frankfurt a. M. 2011). Walzer schreibt ebenfalls gegen Rawls und hält den Liberalismus für selbstzerstörerisch: Das Endstadium, wenn der Vorrat an Gemeinsinn aufgebraucht ist, ist die Anomie amerikanischer Ghettos und der Innenstädte globaler Metropolen wie Berlin-Kreuzberg (vgl. Reese-Schäfer 2001, 82). Der Staatsrechtler Wilfried Brugger meint allerdings, dass im Prinzip und bis zu einem gewissen Grad der „Kommunitarismus als Verfassungstheorie des [deutschen] Grundgesetzes“ anzusprechen ist, insofern dessen grundlegende Prämisse die „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person“ ist (vgl. Reese-Schäfer 2001, 12).

Der praktischen Seite widmet sich der internationale Netzwerker Amitai Etzioni [eig.: Werner Falk], ehem. Berater Jimmy Carters: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Stuttgart 1995, und: Die aktive Gesellschaft. Eine Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse, Wiesbaden 2009. Er analysiert die Zersetzung der Gesellschaft durch Individualisierung, Ökonomisierung, Entsolidarisierung. Dagegen stellt er die Aktivierung und Stärkung von Gemeinschaften und Traditionen, in welchen die Menschen kulturelle Identität, soziales Ethos, Solidarität und Gemeinsinn erfahren und einüben: Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Kirchengemeinden, Vereine, Netzwerke und die sinnerfüllte soziale Identität der Nation.

Alle bisher genannten Vordenker des Kommunitarismus beschränken sich trotz ihrer z.T. harten Kritik auf Symptombekämpfung, wenn  der zuletzt vorzustellende kommunitaristische Ethiker Recht hat: Alasdair MacIntyre. Er ist einer der einflussreichsten Moralphilosophen der Gegenwart und Begründer der Tugendethik (virtue ethics). Sein schulbildendes Hauptwerk ist Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995 [orig.: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame, Ind. 11981]. Reese-Schäfer (a.a.O. 2001, 48): „Der Wert von MacIntyres Denken liegt in seinem eindrucksvollen Zugriff auf die gesamte Tradition der Moralphilosophie“. Und: „Er stellt nicht wie Burke die Tradition und das historisch Gewachsene dem Vernünftigen gegenüber, sondern er meint, es sprächen gute Argumente dafür, das Richtige und Vernünftige gerade in der alten Tugendtradition zu suchen.“ (ebd. 58) MacIntyre, der ursprünglich vom Marxismus herkommt, formuliert in Kapitel 1 von Verlust der Tugend die These: Die moderne Moral ist eine Scheinmoral aus dem Zusammenhang gerissener, inkohärenter, ungeordneter Bruchstücke einer untergegangenen vernünftigen und gelingenden, objektiven ethischen Normen folgenden Theorie und Praxis. Das Beweisziel von Kapitel 2  ist: Das Fehlen objektiver sachlicher Kriterien und die rational unauflösbaren Widersprüche der modernen Scheinmoral erzeugen den die modernen Kultur faktisch prägenden moralischen Emotivismus: Alle moralischen Urteile sind nichtkognitiver Ausdruck von subjektiven Vorlieben, Einstellungen und Gefühlen und emotional-voluntative Beeinflussung der Einstellungen und Gefühle anderer. Kapitel 3 zeigt: Der Emotivismus löscht den Unterschied zwischen manipulativen und nichtmanipulativen sozialen Beziehungen aus. Der typische Charakter der Moderne ist der Manager und Therapeut als Experte moralfreier beruflicher und privater instrumenteller Vernunft in bürokratischer Organisation resp. Psychotechnik. Der Emotivismus erzeugt zwangsläufig die falsche Alternative zweier unvereinbarer Formen sozialen Lebens: (A) Anarchischer Individualismus und Liberalismus sowie (B) kollektivistischer, bürokratischer Autoritarismus (1988, 55). Die moralische Debatte erscheint als Auseinandersetzung zwischen nach willkürlichen Kriterien gewählten unvereinbaren und unvergleichbaren moralischen Prämissen (A) und (B).

Ich glaube, dass MacIntyre im Großen und Ganzen Recht hat und der gründlichste und v.a. Ernst zu nehmende kommunitaristische Moralphilosoph ist. Am Ende des vorliegenden Abschnittes zum Kommunitarismus werden wir daher in Form einer Verknüpfung einen knappen Abriss der Gedankenführung in Verlust der Tugend vorstellen. Hier nur noch die wichtigsten sonstigen Veröffentlichungen MacIntyres zur Sache: Whose Justice? Which Rationality? Notre Dame 1988; Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopedia, Genealogy, and Tradition, Notre Dame 1990; Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues,London 1999; Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, Hamburg 2001.

Aristotelische Ethik und Kommunitarismus

Bikonditionalität von Gemeinschaft und Person 

MacIntyre sieht die untergegangene und wieder zu gewinnende vernünftige und gelingende, objektiven ethischen Normen folgende Moraltheorie und -praxis in der aristotelischen Ethik und ihrer Fortführung bei Aquinas, von der auch viele andere Kommunitaristen ausgehen, freilich nicht so gründlich und folgerichtig wie MacIntyre. Er ist aber auch zugleich wie erwähnt ein entschiedener Gegner der von Edmund Burke ausgehenden modernen Konservativen. Sie stehen in den Augen MacIntyres für eine tote Tradition, nämlich Tradition als Gegensatz zur Vernunft und Kontinuität als Widerspruch zu Konflikt. Demgegenüber gilt: „Traditionen verkörpern, wenn sie lebendig sind, kontinuierliche Konflikte“ (1995, 296). Und: „Eine Tradition wird durch die eigenen inneren Argumente und Konflikte aufrechterhalten und vorangetrieben.“ (1995, 346347) Hier kurz noch einmal zentrale Eckdaten der aristotelisch-thomistischen Moraltheorie. Für sie, aber auch schon die platonische Ethik ist erstens die

„Ursache, einen Staat zu gründen, ... nicht die als gegeben vorausgesetzte Freiheit und Souveränität der Einzelindividuen, zu deren bestmöglichem Schutz sich die Einzelnen durch irgendeinen (hypothetisch angenommenen oder als historisches Faktum behaupteten) Vertrag in einer institutionell geregelten Gemeinschaft zusammengeschlossen haben, sondern die Überzeugung, daß der Einzelne seine mögliche Souveränität überhaupt erst im Staat und durch den Staat erlangen kann. Ausgangspunkt ist die Einsicht in die Bedürftigkeit und Endlichkeit des Menschen [Platon, Politeia 369b57] [...] Der Mensch [ist] nur dann Mensch, wenn er seine Anlagen und Fähigkeiten, d.h. eben die Fähigkeiten, die er hat, sofern er ein ‚politisches Lebewesen‘ ... ist, verwirklicht, und deshalb ist der Staat in der Tat das, woraufhin der Einzelne angelegt ist, so wie Fleisch, Sehnen, Neuronenzäpfchen usw. des Auges auf das Sehen hin angelegt sind. In diesem Sinn ist der Staat dem Einzelnen vorgeordnet, nicht als etwas, was ihn von außen oder entgegen seinen eigenen Tendenzen und Neigungen lenkt und leitet, sondern als ein inneres Ziel [...] Der Staat ist ... nötig für die Vollendung der je besonderen Vermögen und Fähigkeiten seiner einzelnen Glieder [...] Der Staat ... soll bieten: die Bedingung der Möglichkeit des guten Lebens seiner Einzelglieder.“ (Schmitt, A.: Die Moderne und Platon, Stuttgart 22008, 398, 400402)

Staatswohl ist Einzelwohl

Zweitens: Diese Vorordnung des Staates vor den Einzelnen bedeutet keine totalitäre Einebnung der individuellen Würde und Autonomie. Für Aristoteles hat das Christof Rapp in der gegenwärtigen Diskussion deutlich gemacht: War Aristoteles ein Kommunitarist? In: Internat. Zs f. Philos. 6 (1997), 5775. Mit anderen Worten: „Das ‚Werk‘ des Menschen bei Platon und Aristoteles ist ... sich selbst in der Gemeinschaft mit den anderen, die ihrer dazu gegenseitig bedürfen, zu verwirklichen.“ (Schmitt a.a.O. 2008, 353/4) Dabei gilt der Grundsatz: „Die rationale Sorge um den besten Vollzug des eigenen ‚Werks‘ [optimale Selbstliebe] [ist] zugleich die beste Form des sittlichen Lebens in der Gemeinschaft“ (ebd. 355). Es geht um die Einsicht, „daß das wahre Wohl des Einzelnen mit dem Wohl des Ganzen zusammenfällt, und daß der falsche Egoismus des Einzelnen nicht nur die Gemeinschaft schädigt, sondern zugleich zu einem Scheitern der wirklichen Ziele des Einzelnen führt.“ (ebd. 396)

Vgl. dazu auch folgende Darlegung des in Rede stehenden Sachverhalts, welche von einem kantkritischen, platonisch-aristotelischen Standpunkt aus avant la lettre der Sache nach das Kernargument des Kategorischen Imperativs als autonome Selbstgesetzgebung unter der Metaregel der praxisbezogenen Vernunftorientierung und Gemeinwohlverträglichkeit formuliert: "Wenn unter dem Recht des Einzelnen und dem Recht des Ganzen die Verwirklichung der je spezifischen Möglichkeiten und damit des größtmöglichsten und ‚individuellsten‘ Glückes des Einzelnen bzw. des Ganzen verstanden wird, dann fällt die Verfolgung dieser Ziele das ist die platonische These nicht auseinander und kann untereinander nicht in Konflikt geraten. ‚Totalitär‘ ist das Einfordern des Rechts des Ganzen bzw. ‚partikularistisch‘ oder ‚lobbyistisch‘, d.h. egoistisch und letztlich gemeinschaftsschädigend, ist das Einfordern des Rechts des Einzelnen nur dann, wenn diese Bestrebungen selbst fehlgeleitet sind und nicht in einem umfassenden und reflektierten Sinn dem Erreichen des Ziels dienen.“ (Schmitt a.a.O. 2008, 421) „Das allgemeine Gute, das bonum commune, [ist] nichts dem Menschen Äußerliches [...] Es ist ihm als Bedingung der Möglichkeit seiner Selbstentfaltung immanent ... und ist zugleich dasjenige Verbindungselement, das seine persönlichen Glücksziele mit der Gemeinschaft der Bürger in Übereinstimmung bringt.“ (ebd. 510; Hervorhebungen in Halbfett durch mich, PN).

In anderen Worten: Zu den Bedingungen des Gemeinwohls gehört bei Aquinas und „für Platon und Aristoteles zwingend auch die Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen, diese Freiheit ist aber nicht das einzige und auch nicht das höchste Ziel des Staats, dieses Ziel ist vielmehr: alle Bedingungen, die zum guten, und das heißt: glücklichen, Leben des Einzelnen nötig sind, bereitzustellen. Unter dem für Platon und Aristoteles typischen Deutungsaspekt von Freiheit, daß nämlich das einzige, was jeder in jeder Hinsicht aus sich selbst heraus frei will, der vollendete Zustand des Glücks ist, kann man auch diese ideale Freiheit als dasjenige Ziel bezeichnen, das jeder Einzelne und der Staat als das höchste Gut anstrebt“ (Schmitt a.a.O. 2008, 402403; Hervorhebungen in Halbfett durch mich, PN).

Gemeinwohl ist Bedingung der Selbstentfaltung

Drittens: Ultimativer Bezugspunkt des Vernunftgesetzes ist daher der Staat als vollkommene, autarke Gemeinschaft. Wir haben bereits gesehen, dass dies nicht mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit im Konflikt steht, im Gegenteil.  Man kann dazu „ein scheinbares Paradoxon formulieren: Je mehr jemand das allgemein Menschliche in sich verwirklicht, desto individueller wird er sein [...] Der Begriff des Menschen hat eine größere Affinität zum Staat als zum Individuum. Erst im Staat, d.h. im Zusammenleben einer größeren Anzahl von Menschen miteinander, können die Möglichkeiten des Menschseins so verwirklicht werden, daß jeder Einzelne sein ihm gemäßes Menschsein entfalten kann [...] Ein in völliger Einsamkeit lebender Mensch [wäre] fast ganz auf die Bewältigung der reinen Überlebensprobleme eingeschränkt ..., eine Eingeschränktheit, die auch im Leben in der Familie oder im Dorf noch in vielen Hinsichten weiter bestünde. Unter diesem Aspekt wird der Mensch in der Tat erst im Staat zum Menschen und kann sich über seine animalischen Bedürfnisse zu sich selbst, zu den ihm gemäßen Betätigungen erheben (Schmitt a.a.O. 2008, 508, 510, Hervorhebungen in Halbfett von mir, PN). Man kommt also auch von dieser Perspektive her zu dem schon zitierten Fazit: "Das allgemeine Gute, das bonum commune, [ist] nichts dem Menschen Äußerliches [...] Es ist ihm als Bedingung der Möglichkeit seiner Selbstentfaltung immanent ... und ist zugleich dasjenige Verbindungselement, das seine persönlichen Glücksziele mit der Gemeinschaft der Bürger in Übereinstimmung bringt.“ (Schmitt a.a.O. 2008, 510).

Mit diesen Orientierungen ist man in der Lage zu verstehen, dass und wieso Platon und in anderer Form Aristoteles die Staatstheorie und Politik zur Ethik rechnen und zwar als deren vorzüglichste Teildisziplin. In den Worten des Stuttgarter Philosophen Günther Bien: „Die politische Philosophie und Anthropologie des Aristoteles spricht sich zusammengenommen in fünf aufs engste miteinander verknüpften und sich gegenseitig erläuternden Grund- und Hauptsätzen aus.

These 1: Der Staat ist kononia teleios, societas perfecta et finalis, d.d. die ranghöchste […] und alle anderen Gemeinschaften/Gesellschaften umfassende Form menschlicher Gemeinschaft, weil er auf die Realisierung des höchsten und umfassendsten Gutes, die menschliche Wesenserfüllung zielt […]

These 2: Der Staat gehört zu den von Natur bestehenden Dingen.

These 3: Der Mensch ist von Natur ein staatliches Lebewesen.

Rhese 4: Der Staat ist früher als die Hausgemeinschaft und der Einzelne: er ist deren Substanz, Natur und Erfüllung.

These 5: Der Mensch hat darum als einziges Lebewesen Sprache [= Kommunikationsmedium der theoretischen und praktischen Vernunft ], weil er zur Gerechtigkeit und Sittlichkeit bestimmt ist.“ (G. Bien, Einleitung. In: Aristoteles: Politik, Hamburg 1990, XXVIXXVII)

Weise und Vollkommene transzendieren und inspirieren Staaten

Wenn Aristoteles in der Nikomachischen Ethik das Leben der Theorie bzw. Kontemplation (bíos theoretikos), alleine oder in einem Freundeskreis von gleicher Hochgesinntheit, als Hochziel der Ethik formuliert, dann ist das kein Widerspruch gegen das Gesagte. Zwar steht das staatsmännische Handeln für ein sittlich hochwertiges und glückliches Leben der Bürger rangmäßig über der individuellen Ethik. Aber auch das theoretische Leben ist Praxis und Handeln für das Gemeinwohl und es steht rangmäßig noch höher. Es ist die wichtigste und einflussreichste Praxis: „Ein Beweis dafür ist, daß auch bei den nach außen gerichteten Tätigkeiten diejenigen als die am meisten Tätigen gelten, die gleich den Architekten die äußeren Handlungen maßgebend beeinflussen. Der Vollzug der reinen Theorie ist die höchste Form menschlicher Praxis. Diese ist jedoch nicht Gegenstand der staatstheoretischen Forschung, sondern nur die Frage, welche Verfassung und welchen staatlichen Zustand man für den besten erklären wolle, 'mag nun das Leben im Staate für alle ohne Ausnahme den Vorzug verdienen, oder wenn auch für Einzelne nicht, so doch für die Mehrzahl' [Buch VII, 2]. In dieser Erklärung des menschlich-übermenschlichen Ranges der Theorie, zu welcher der Mensch nicht fähig ist, sofern er Mensch ist, sondern sofern er etwas Göttliches in sich hat, also wird die ausschließliche Beschränkung des Menschen auf den sich im politisch-praktischen Leben erfüllenden Bürger durchbrochen und überboten.“ (Bien a.a.O. 1990, XLVII)

Außergewöhnliche intellektuelle Einsicht und ethische Integrität führen über das durchschnittliche Gemeinschaftsleben und den konventionellen staatlichen Apparat hinaus. Wie sich das Verhältnis solcher Persönlichkeiten zum Staat bzw. zur Gemeinschaft gestalten kann und soll, hat Aristoteles stark beschäftigt, nicht zuletzt wegen des Schicksals Sokrates', den die Athener Demokratie wegen Infragestellung der traditionellen polytheistischen Religion und wegen wissenschaftlicher und moralischer Reformbestrebungen hingerichtet hatte. Und 323 v. C. richtete die Athener Demokratie bekanntlich dieselbe Anklage gegen Aristoteles, der daraufhin ins Exil ging, "damit die Athener nicht noch einmal ein Verbrechen gegen die Philosophie" begingen, also intellektuelle und ethische Hochwertigkeit mordeten. Selbst der bedeutendste athenische Staatsmann, der philosophisch gebildete und unbestechliche Perikles (490429 v. C.), der das klassische Athen in den Zenit seiner Macht führte und dessen bis heute andauernde kulturelle Strahlkraft begründete, entging nur knapp diesem Schicksal. Er konnte aber nicht verhindern, dass seine wichtigsten Berater, der Philosoph Anaxagoras und die Gesprächspartnerin des Sokrates Aspasia, unter dieselbe Anklage wie Sokrates und Aristoteles gestellt wurden und in die Verbannung gingen, um dem Todesurteil zu entgehen. In der Politik erörtert Aristoteles diese Frage im 3. Buch, Kap. 13 und 17: 

„Ist nun aber ein Einziger oder mehrere […] so sehr durch überragende sittliche Hochwertigkeit ausgezeichnet, dass die Tugend aller übrigen und auch ihre staatliche Tüchtigkeit gar nicht in Vergleich kommen kann mit der Tugend und Tüchtigkeit jener […] dann kann man diese Art Menschen gar nicht mehr als Bestandteil eines Staates gelten lassen. Denn es geschähe ihnen Unrecht, wollte man ihnen zumuten, dass sie mit gleichem Anteil zufrieden seien, da sie an Tugend und staatlicher Tüchtigkeit so sehr ungleich sind. Denn gleichsam als ein Gott unter Menschen würde wohl ein so Gearteter erscheinen. Hieraus ist nun auch zu ersehen, dass die Gesetzgebung sich notwendig nur auf Menschen von gleichem Schlage und gleicher Ausbildung richten kann; für Menschen dagegen von der obigen überragenden Art gibt es kein Gesetz; denn sie selbst sind Gesetz. Lächerlich in der Tat würde sich machen, wer es unternähme, sie durch Gesetzgebung zu binden […] Es bleibt also nur das übrig, was auch wohl in der Natur der Sache liegt, dass nämlich einem Solchen alle freudig gehorchen, und mithin Männer solcher Art ewige Könige in freien Staaten sind.“ (Buch III, Kap. 13)

Dasselbe noch einmal in Politik, III, 17: "Wenn ein ganzes Geschlecht oder ... ein einziger aufsteht, der so durch Tugend hervorragt, dass die seinige vorzüglicher ist als die aller anderen, dann ist es Recht, dass jenes Geschlecht ein königliches und allseitig souveränes und jener Einzige König sei [...] Es ist ja wahrlich nicht statthaft, einen solchen Mann hinzurichten oder zu verbannen [...] Es ist zwar nicht Sache eines Teiles, vorzüglicher zu sein als das Ganze, bei dem Manne aber, der eine solche außerordentliche Vortrefflichkeit besitzt, ist das allerdings der Fall. Es bleibt also nichts anderes übrig als dass man einem solchen Manne gehorche und er nicht bloss abwechselnd und turnusmäßig, sondern schlechthin Souverän sei.“

Aristoteles hat wegen menschlicher Schwäche und Gewaltmissbrauch durchaus Vorbehalte gegen ein nicht durch Verfassung und Rat/Parlament ausbalanciertes Königtum oder Aristokratie, sieht aber im gegebenen Fall diese Gefahren per definitionem nicht gegeben. Was Aristoteles hier im Auge hat, steht in seinem provokativen Profil dem prophetischen Charisma nahe. Vgl. die bekannte Aussage der messianischen Biographien: "Ich sende Propheten, Weise und Schriftgelehrte zu euch; ihr aber werdet einige von ihnen töten, ja sogar kreuzigen, andere in euren Synagogen auspeitschen und von Stadt zu Stadt verfolgen [...] Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind.“ (Matthäusevangelium 23, 34.37)  

Aristoteles ist bemüht, vorurteilslos allen Faktoren und Phänomenen menschlichen Zusammenlebens gerecht zu werden. Das schließt positive Ausnahmeerscheinungen ein wie auch den häufigeren Fall suboptimaler Randbedingungen und Kompromisslösungen. Die Bücher II bis VI der Politik und damit zwei Drittel des Werkes referieren und bewerten vorliegende staatstheoretische Ansätze und sortieren die bestehenden Verfassungen der griechischen Zivilisation in sechs Grundtypen von Regierungsformen: Königtum und die Verfallsform Tyrannis Aristokratie und und die Verfallsform Oligarchie [Demokratische] Politie und die Verfallsform [demagogische] Demokratie. Und sie diskutieren im Rahmen der von Aristoteles entwickelten Drei-Gewalten-Lehre: Legislative (Rat / Senat / Volksversammlung bzw. Parlament) Exekutive (Ämter / Magistrat) Judikative (Rechtsprechung) detailliert, welche dieser sechs Formen in welchen Kombinationen und auf welchen Ebenen (Gesetzgebung Regierung Gerichte Streitkräfte Religion/Kult) für welche gesellschaftlichen Parameter (Geschichte, bestehende Verfassung, Volkscharakter, moralisches Profil u.a.) und in welcher Vorgehensweise gangbare und relativ beste Lösungen sind. Eine einzige Staatsform wie z. B. Demokratie zur alleinseligmachenden zu erklären und rücksichtslos durchzusetzen, hält er für Unverstand oder Bauernfängerei und zum Scheitern verurteilt. 

Drei Sozialprinzipien

Eine systematische Darstellung und moderne Begründung der auf einer Synthese von Individualität und Sozialität beruhenden Staatstheorie und Sozialethik der grosso modo platonisch-aristotelisch-scholastischen Tradition findet sich bei A. Anzenbacher: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn 1998, 178224, und B. Sutor: Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn/München/Wien/Zürich 1991, v.a. 1940. Sie wird aus diesen drei Sozialprinzipien entwickelt: (1) Personalität: Die menschliche Person mit ihrer Sozialnatur und transzendenten Würde ist Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen. (2) Solidarität: Das Gemeinwohl und damit die soziale Gerechtigkeit und Verantwortung ist die Grundnorm allen Rechts und politischen Handelns. (3) Subsidiarität: Eigeninitiative und Eigenkompetenz der Individuen und untergeordneten Gemeinwesen dürfen nicht vom Staat aufgesaugt oder zerschlagen werden, sondern der gestufte Aufbau der sozialen Sphäre im Dienst der Person ist Bedingung von Autorität und Effizienz sozialer Organisation.

Politische Theologie

Nicht mit dieser Tradition stimmt freilich Sutors (und Anzenbachers) Konzept des profanen, wertpluralistischen Staates überein, was er selbst einräumt: „Wir wissen nicht, ob das ‚Experiment‘ pluralistische Gesellschaft gelingt. Alle früheren Kulturen beruhten auf gemeinsamen Glaubensüberzeugungen.“ (1991, 160) Plädoyers für die gesamte platonisch-aristotelisch-scholastische Tradition stammen dagegen abgesehen von Alasdair MacIntyre Alasdair Macintyre[Photo rechts] von zwei der bekanntesten Politikwissenschaftlern und politischen Philosophen des 20. Jh.: Eric Voegelin (maßgeblich Die Neue Wissenschaft der Politik, Freiburg/München 41991 [11952]), und Leo Strauss (vgl. The Rebirth of Classical Political Rationalism (hrsg. v. Thomas L. Pangle), Chicago/London 1989). Das Werk der beiden deutschen Emigranten verbindet Kritik an der positivistischen Sozialwissenschaft mit der Rückbesinnung auf die antike platonisch-sokratische Philosophie inkl. der Wiedergewinnung der „politischen Wissenschaft eines Platon, Aristoteles oder Thomas [… als] eine rationale Wissenschaft von der menschlichen und sozialen Ordnung und vor allem vom Naturrecht“ (Voegelin 1991, 43). Strauss, der in den letzten Jahrzehnten zu einer geistigen Leitfigur des amerikanischen Neokonservativismus und der politischen Agenda der Bush-Ära avancierte, bearbeitete v.a. das „politisch-theologische Problem“. Er macht die Aufklärung und den Liberalismus für den Positivismus und Historismus und damit für das nivellierte moderne Denken und für die Zersetzung der klassischen philosophischen Überzeugungen verantwortlich, dass (i) die Philosophie sich vor der Religion und Offenbarung rechtfertigen müsse, (ii) das Staatsvolk den Halt der Religion benötige und (iii) das Ziel politischen Lebens die Tugend sei. Der Liberalismus definiert, so Strauss, Menschlichkeit durch Wohlstandshedonismus, der moralische und religiöse Fragen privatisiert und die Frage nach der richtigen politischen und sozialen Ordnung zugunsten des für Strauss fragwürdigen Wertpluralismus verdrängt. Denn die Natur des Menschen ist nicht zur bloßen Freiheit geschaffen, sondern braucht Ordnung, Herrschaft und Gesetz. Ein Grundfehler der Aufklärung und Moderne sei ferner, die Religion mittels eines zweifelhaften Vernunftbegriffs bewältigen oder erledigen zu können (vgl. dazu auch P. J. Opitz: Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, München 2010).

Ein Caveat zu Strauss: Dieser ist ein durchaus problematischer Philosoph, da er im Gegensatz zu Voegelin und MacIntyre nicht wirklich an die innere Wahrheit der von ihm vertretenen Tradition glaubt. Nation und Religion gründen für ihn in politischen und religiösen Mythen. Diese sind nützliche und notwendige Fiktionen bzw. staatserhaltende Lügen für die Bevölkerung. Die Elite muss diese fiktiven Mythen verwalten und vom Volk einfordern. Im Grunde ist Strauss also Machiavellist und Hobbesianer und glaubt mehr an staatspolitische Lüge und Gewalt und nicht an die Möglichkeit echter rationaler Einsicht und gerechter Ordnung in Politik und Religion. Berufen kann sich Strauss aber sehr wohl auf das Verständnis und die Handhabung der traditionellen Römischen Staatsreligion in der späten Republik und Kaiserzeit: Sie wurde tatsächlich seitens der von philosophischer Skepsis geprägten Eliten als staatserhaltender fiktiver Mythos und Kult aufrechterhalten und eingefordert. In dieser Epoche liegen seine Forschungsschwerpunkte und von hier kommt ein Gutteil seiner Inspiration. Ähnliches gilt von sonstigen Staaten der späteren griechisch-römischen Antike. Aber das Problem ist natürlich letztlich ein Allgemeinmenschliches. Religions- und kulturgeschichtlich entging nur der prophetische Theismus dieser auch hier gegenwärtig auf breiter Front versuchten skeptischen Dekonstruktion und fiktionalistischen Rekonstruktion traditioneller Religionen und Kulturen. Hier liegt auch der Kern des epochalen Ringens zwischen dem jungen, genuiner Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Christentum und dem spätantiken, auf fiktive traditionelle und neue Mythen bauenden Römischen Reich.  

Man kann Strauss so als Paradebeispiel eines (spätantiken und) modernen Konservativen sehen, der nach MacIntyre nichts anderes ist als ein Bewahrer älterer Versionen des liberalen Individualismus. Religion und Ethik werden dann leicht zu willkürlichen Fiktionen im Dienst bürokratischer Organisation der Nützlichkeit (vgl. MacIntyre 1995, 100). Solche Konservative sind Mitverursacher der Scheinrationalität und Phrasenhaftigkeit moderner moralischer Debatten: Wegen der Willkür des Willens und der Macht muss Protest und Empörung oder Fiktion / Lüge und Gewalt / Terror die rationale Beweisführung ersetzen. Es ist ein Theater der Illusionen, gegen das sich das Entlarvungspathos Freuds, Marx‘ und Nietzsches richtete. Moderne Konservative übersehen: „Mangel an Gerechtigkeit, Mangel an Wahrheitsliebe, Mangel an Tapferkeit, Mangel an relevanten intellektuellen Tugenden korrumpiert die Tugenden“ (1995, 217). 

Man sieht wie erwähnt in Strauss den geistigen Vater des heute in Amerika und global tonangebenden Neokonservativismus, so dass man die politische Agenda der sog. Neocons als die Probe aufs Exempel betrachten kann. Einer der geschätztesten politischen und moralischen Zeitanalytiker ist nun der bekannte Wirtschaftswissenschaftler und Vordenker der Makroökonomie („Father of reagonomics“) Professor Paul Craig Roberts, Ex-Wirtschaftsminister und stellvertretender Finanzminister der USA und früherer Mitherausgeber des Wall Street Journal. Seine Bilanz: Die "symbiotische Beziehung zwischen der neokonservativen Ideologie ... und den wirtschaftlichen Interessen mächtiger privater Interessengruppen" hat eine Situation geschaffen, die er wie folgt beschreibt: „In Amerika zu leben wird sehr schwierig für jeden mit einem moralischen Gewissen [...] Wenn Sie glauben, dass man Gegner umbringen soll, ... die Machtlosen enteignen, eine fiktive Welt schaffen soll auf der Grundlage von Lügen und die Medienkonzerne dafür bezahlen, dass sie die Lügen und Fiktionen aufrecht halten, dann gehören Sie zu dem, was der Rest der Welt unter ‚Der Westen‘ versteht" (Artikel: Does the West have a Future? Hat der Westen eine Zukunft?, 10. Mai 2012

Zurück zur Sache: Es ist bekannt, dass im Übrigen der prophetische Theismus des alt- und neutestamentlichen Israel seit drei Jahrtausenden die in Rede stehende Tradition vertritt. In der Bibel des Alten wie des Neuen Testamentes dominiert diese sozialethische Tradition qualitativ wie quantitativ. In der Tora (Pentateuch) und den Propheten haben ca. 75 % der Texte diese Sozialethik und Staatstheorie zum Gegenstand. In der nach Autorität und Größe führenden Römischen Kirche wurde diese Tradition erst in Folge der Kulturrevolution der 1960er Jahre mit den Auswirkungen auf das II. Vatikanische Konzil (Erklärung über die Religionsfreiheit) trotz ihrer normativen Geltung in Frage gestellt. Vgl. etwa die Enzyklika Immortale Dei Leos XIII. zur Staatstheorie vom 01.11.1885 [In: E. Marmy (Hrsg.): Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg/Schweiz, 1945, 571602]: „Der Staat [… muss] seinen vielfachen … Verpflichtungen, die ihn mit Gott verknüpfen, durch öffentliches Gottesbekenntnis … Genüge leisten […] Den Einzelmenschen [… und] auch d[em] bürgerliche[n] Gemeinwesen […] ist es die allerhöchste Pflicht, in Gesinnung und Lebensführung sich an die […] gottgewollte und … durch sichere und untrügliche Beweise als die … wahr erwiesene Religion zu halten […] So können auch die Staaten sich nicht ohne ein Verbrechen derart benehmen, als ob es gar keinen Gott gebe, oder die Pflege des Glaubenslebens als etwas ablehnen, was sie nichts angeht […] Es gehört zu ihren [= den Staatsoberhäuptern] vorzüglichsten Pflichten, die Religion zu begünstigen, sie … zu schützen, sie zu verteidigen durch die Autorität und Macht der Gesetze […]: ‚Von  der Religion […] hängt das Staatswohl ab‘ [Theodosius II]“ (a.a.O. 578579, 587).

Und Libertas praestantissimum Leos XIII. zu den Freiheitsrechten vom 20.6.1888 [In: E. Marmy a.a.O. 1945, 84116]: „Die Freiheit [ist] das hervorragendste Gut der Natur“, aber im Blick auf die neuzeitlichen Freiheitsrechte (in der Verfassung der USA, in der Erklärung der Menschenrechte der französischen Revolution) muss „das Richtige vom Falschen geschieden“ werden. Richtig ist „die bürgerliche und politische Freiheit der Völker [… und]  die Rechtsgleichheit aller, wie die wahre Brüderlichkeit der Menschen untereinander“: Aber „das Recht ist ... eine sittliche Macht, und es ist daher töricht zu glauben, es sei von der Natur unterschiedslos … der Wahrheit wie der Lüge, der Sittlichkeit wie dem Laster verliehen. Es besteht ein Recht: das, was wahr und sittlich ist, frei und weise im Staat auszubreiten […]; mit Recht unterdrückt aber die Obrigkeit […] Laster, welche … die Sitten verderben, damit sie nicht zum Schaden des Staates um sich greifen [… und] auch die Irrtümer eines ausschweifenden Geistes, die das unerfahrene Volk geradezu vergewaltigen […] wie die mit offener Gewalt an den Schwächeren verübten Ungerechtigkeiten.“ (a.a.O. 84, 87, 95, 104105) Carlyle hat dasselbe so formuliert: "Sureley of all 'rights of man', this right of the ignorant man to be guided by the wiser, to be, gently or forcibly, in the true course by him, is the indisputabelst."

Letzteres deckt sich übrigens mit dem aktuellen moralphilosophischen Konsens: Absolute, beziehungslose Natur- und Menschenrechte auf beliebige subjektive Meinungen, Einstellungen, Verhaltensweisen sind eine Fiktion: „Es gibt keine solchen Rechte und der Glaube daran entspricht dem Glauben an Hexen und Einhörnern“ (MacIntyre a.a.O. 1995, 98): Auch der bekannteste zeitgenössische Menschenrechtstheoretiker Ronald Dworkin (Taking Rights Seriously, 1976 / dt.: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a. M. 1984) kommt zu dem Fazit, dass kein Nachweis solcher abstrakter Menschenrechte möglich sei (ebd. 99).

Es wurde bereits gesagt: Durch Alasdair MacIntyre wurde diese individual- und sozialethische Tradition neu in die Ethik der Gegenwart eingeführt. Seine These ist, dass sie hinsichtlich Realitätsdichte, Widerspruchsfreiheit und Leistungsfähigkeit allen geschichtlichen und zeitgenössischen Mitbewerbern überlegen ist. Die folgende Verknüpfung bietet einen Abriss zu A. MacIntyres Grundbuch: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995 [orig.: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame, Ind. 11981]: