Dr. phil. Paul Natterer

Historiographische Exzellenz des Alten Orients

Ursprung genuiner Geschichtsschreibung

Im kulturellen Gedächtnis unserer Zivilisation ist die Vorgeschichte v.a. mit der Bibel des Alten Testamentes verbunden. Auch wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussionen um Erdgeschichte und Vorgeschichte in Vergangenheit und Gegenwart haben als vorrangigen Hintergrund die Kosmologie und Vorgeschichte des Buches Genesis der Bibel. Dies ist nicht nur ein zufälliger, mit unserer Geschichte und Sozialisation zusammenhängender Umstand. Im Gegenteil: Man kann die auf den ersten Blick sehr herausfordernde und im Einzelnen andernorts [Menu: ReligionsphilosophieTora] zu begründende These formulieren: Der Tanakh [Altes Testament] ist (1) das global früheste zusammenhängende Geschichtswerk zur (2) Frühgeschichte und zu den ersten Hochkulturen mit (3) dem rationalsten Ansatz, (4) dem größten Textumfang sowie (5) dem längsten Berichtszeitraum und mit (6) dem Focus auf dem prophetischen Theismus als (7) effektivem Schrittmacher von vernunftbasierter Aufklärung und Ethik sowie (8) der längsten und umfassendsten Religions-, Kult- und Sozialkritik der Geschichte im (9) Umfeld der jeweils modernsten urbanen Zivilisationen Sumer, Ägypten, Phönikien, Babylonien, Persien, Hellenistische Globalisierung (Oikumene).

Eine wesentliche Vorausetzung dieser These ist eine entsprechende Schriftkultur. Flavius Josephus (37—100 n. C.), Phariser, General im Jüdischen Krieg und später Cäsarenberater, neben Philon von Alexandrien der wichtigste Autor des hellenistischen Judentums und Hauptgewährsmann für die jüdische Kultur und Geschichte um die Zeitenwende, schrieb um 96 n. C. eine Abhandlung Über das Alter der Juden (auch u. d. T. Über die Ursprünglichkeit der Juden und Contra Apionem). Ebenda, 1, 6—8, formuliert Josephus folgende Einschätzung:

„Angesichts der verbreiteten Meinung, dass bei der Erforschung der Frühgeschichte alleine die Griechen ernsthafte Beachtung verdienen ... ist meine erste Reaktion starke Verwunderung. In meiner Sicht ist das genaue Gegenteil der Fall, vorausgesetzt wir halten uns nicht an nichtige Vorurteile, sondern versuchen den wahren Sachverhalt aus den Fakten selbst herauszuziehen. Denn in der griechischen Welt wird man alles als modern erfahren, und nicht weiter als sozusagen von gestern oder vorgestern datierend: Ich beziehe mich dabei auf die Gründung ihrer Städte, die Erfindung der Wissenschaften, und die Erstellung eines Gesetzeskorpus; aber die allerjüngste, oder mindestens fast neueste ihrer Errungenschaften ist methodische Geschichtsschreibung. Andererseits und im Gegenteil wird von ihnen selbst zugegeben, dass die Ägypter, die Chaldäer und die Phönizier ... eine sehr alte und fortlaufende Aufzeichnung der Vergangenheit besitzen."

Bei Flavius Josephus (Contra Apionem 1, 8) finden wir auch diese Selbsteinschätzung der eigenen Schriftkultur: „Die Tatsache, dass es bei uns nicht jedem gestattet ist, Geschichte zu schreiben, hat zur natürlichen, ja zur notwendigen Folge, dass unsere Schriften keine Abweichungen aufweisen und ...] die Annalen aller Zeiten enthalten und ein gerechtes Vertrauen genießen [...] Dieser Tatbestand beweist, mit welchem Respekt wir an unsere eigenen Bücher herangehen. Nach Ablauf so vieler Jahrhunderte hat es niemand gewagt, ihnen etwas hinzuzufügen oder an ihnen etwas zu än dern. Jedem Juden ist es von Geburt an eine Selbstverständlichkeit, zu denken, dass diese Bücher den Willen Gottes enthalten, sie zu achten und notfalls freudig für sie zu sterben".

Diese Einschätzung Josephus' ist nicht aus der Luft gegriffen. Eduard Meyer (1855—1930), deutscher Althistoriker, Ägyptologe und Altorientalist, gilt bis heute als Autor eines der bedeutendsten Werke der Altertumswissenschaft. Darin sagt er:

„Völlig selbstständig geschaffen ist eine wahre historische Literatur im Bereiche des vorderasiatisch-europäischen Kulturkreises G12 Eduard Meyer Lovis Corinthnur bei den Israeliten und Griechen. Bei den Israeliten, die auch darin eine Sonderstellung unter allen Kulturvölkern des Orients einnehmen, ist sie in erstaunlich früher Zeit entstanden und setzt mit hochbedeutsamen Schöpfungen ein [...] Bei den Griechen ist sie erst in einem viel späteren Stadium entstanden." (Meyer, Eduard: Geschichte des Altertums I.1, 4. Aufl. 1921, 227) [Bild links: Eduard Meyer, Gemälde von Lovis Corinth]

Im selben Sinn der erstrangige protestantische Einleitungswissenschaftler W. H. Schmidt: Einführung in das Alte Testament, Berlin / New York 5. Aufl. 1995, 76, welcher die sog. jahwistische Quelle der Tora [= erste 5 Bücher der Bibel] um 950 v. C. z. Zt. Salomos ansetzt: „Die jahwistische Darstellung ist ... das älteste bekannte Geschichtswerk von so erheblichem verschiedene Epochen begreifenden Zusammenhang [...] Der Jahwist ist der ,erste, der den Gedanken einer einheitlichen Weltgeschichte erfaßt hat' (J. Hempel)". Dasselbe von Seiten der Römischen Bibelwissenschaft: „Sein Werk jedenfalls ist, ob man es literarisch, historiographisch oder theologisch betrachtet, die bedeutendste Leistung der altorientalischen ... Geschichtsschreibung [...] Die in der israelitischen Geschichtsschreibung so stark ausgeprägte Tendenz zur Welt- und Menschheitsgeschichte" stützt sich auf eine ebenso "erstaunlich hoch entwickelte literarische Technik schon der frühesten uns erschließbaren literarischen Werke der Israeliten" (H. Cancik in: Haag, H. (Hrsg.): Bibellexikon, Stichwort: Geschichtsschreibung, Zürich / Einsiedeln / Köln, 1982) Der Jahwist wird nicht zuletzt v.a. mit den Erzählungen und Berichten in Genesis in Verbindung gebracht.

Zur Geschichtsschreibung der späteren Ära der geeinten Monarchie stehen Robert, A. / Feuillet, A. (Hrsg.): Einleitung in die heilige Schrift. Bd. I: Allgemeine Einleitungsfragen und Altes Testament, Wien / Freiburg / Basel 1963, 128, für eine häufig anzutreffende analoge Einschätzung: „In den Annalen der davidischen Dynastie [stößt] man auf eine Historiographie, für die man weder in Ägypten noch in Assyrien etwas Gleichwertiges zu finden vermöchte.“ Dabei ist zu beachten, dass es Propheten sind, welche entweder selbst die maßgeblichen Schriftsteller sind oder doch den Antrieb und den Sinn solchen Tuns motivieren. Für die Schriftpropheten Hosea, Amos, Jesaja, Jeremia etc. ist dies evident. Aber es gilt auch für die sog. Vorderen oder Früheren Propheten und deren Beschäftigung mit Geschichtsschreibung und -deutung: Samuel (1 Samuel 10, 25, 1 Chronik 29, 29) für Saul und David, und Nathan (2 Chronik 9, 29) für David; und Schemaja und Iddo (2 Chronik 12, 15; 13, 22) für Rehoboam und Abijah: „There is no warrant to dismiss these notices“ (Kitchen a.a.O. 2006, 375). Noch einmal Robert/Feuillet (1963, 128): „Der biblische Prophetismus [hat sich], selbst vom rein literarischen Standpunkt aus, auf einer ganz anderen Linie und viel reicher entwickelt“ als parallele prophetische Texte aus den Nachbarkulturen: "Es ist den israelitischen Historikern gelungen, durch eine hoch entwickelte Verweis- und Anspielungstechnik schon rein umfangmäßig größere Handlungsfolgen zusammenzufassen, als es z.B. den Hethitern je möglich gewesen ist. Allein in Israel kam es zur Darstellung von handlungsübergreifenden Prozessen. Derartige Prozeßdarstellungen mit umfassenden Themen wie «Entwicklung des Verhältnisses von Gott und Mensch» (Gn), «Entstehung des Volkes Israel» (Ex), «Landnahme» (Jos), Generalisierungen wie im Prolog des Richterbuches (Ri 2, 11.23), wo in einer erstaunlichen Abstraktion ein Einblick in die historische Gesetzmäßigkeit der Richterzeit gegeben wird, gibt es im Alten Orien sonst kaum" ((H. Cancik in: Haag, H. (Hrsg.): Bibellexikon, Stichwort: Geschichtsschreibung, Zürich / Einsiedeln / Köln, 1982).

Präzise mündliche Überlieferung umfangreicher Textkorpora

Über Schriftzeugnisse hinaus existiert auch eine präzise mündliche Überlieferung über Jahrhunderte bis Jahrtausende, welche sich auf umfangreiche geschichtliche und genealogische Textkorpora bezieht. In dem als repräsentative Darstellung der Theologie der Tradition anzusprechenden Werk von Schuster, I. / Holzammer, J. B.: Handbuch zur Biblischen Geschichte, Bd. I, Freiburg 81925, 72, findet sich eine korrekte erste Orientierung hierzu:

„Die religiöse Überlieferung im Orient [zeichnet sich] von jeher ... durch eine eigentümliche Zähigkeit und Treue aus [...] Die Hymnen der Rigveda der Inder mit etwa 153.800 Worten sind nach Max Müller vielleicht ein Jahrtausend lediglich durch das Gedächtnis fortgepflanzt und erhalten worden. Ähnliches nimmt man von den Homerischen Heldengedichten an. Auch die sehr reiche altnordische Literatur hat mehr als ein halbes Jahrtausend nur in der mündlichen Überlieferung gelebt, bis sie im 13. Jahrhundert nach und nach aufgezeichnet wurde. Bei den sog. primitiven Naturvölkern stößt die Forschung ... auf Spuren alter (urzeitlicher) Überlieferungen, die durch viele Jahrhunderte hindurch unverfälscht fortgepflanzt wurden und reinere Ideen von Gott enthalten, als die spätere Mythologie ahnen läßt“. 

In der jüngeren Darstellung von Robert, A. / Feuillet, A. (Hrsg.) [Einleitung in die heilige Schrift. Bd. I: Allgemeine Einleitungsfragen und Altes Testament, Wien / Freiburg / Basel 1963, 130]: „Tatsächlich weiß man, daß in vielen alten Kulturen die Epen und religiösen Texte (Hymnen und Rituale) lange Zeit hindurch mündlich weitergegeben worden sind. Das klassische Beispiel hierfür bilden die indischen Vedas, deren älteste Stücke in das ausgehende 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zuückgehen mögen, während ihre schriftliche Niederlegung erst im 11. Jh. n. Chr. und auch da nur zum Teile erfolgt ist.“

Bekannt sind auch die über 900 Jahre und länger mündlich überlieferten Genealogien, Hochseefahrten, Landnahmen und Eroberungskriege der Austronesier wie der neuseeländischen Maori und sonstiger Polynesier. 

Wir haben also das Faktum sehr zuverlässiger Überlieferungswege über lange Jahrhunderte. Der Liverpooler Ägyptologe und Archäologe Kenneth Kitchen ist für das pharaonische Ägypten der Perioden von 1180—650 v.C. die weltweit unbestrittene Nr. 1. Er ist darüber hinaus ein international führender Experte zur Archäologie und Geschichte Palästinas und des Nahen Ostens in der Bronzezeit (3000—1200 v.C.) und Eisenzeit I—III (1200—450 v. C.). Der Brennpunkt von Kitchens fast singulärer Kompetenz liegt mithin auf den geographischen Räumen und geschichtlichen Epochen, welche Gegenstand der Bücher der Torah, Propheten und Schriften der hebräischen Bibel (Tanakh, Altes Testament [AT]) sind. Kitchen (a.a.O. 2006, 368) bringt zu unserem Thema folgende konkreten Beispiele aus dem Umfeld der Tora: Der mesopotamische Hammurabi von Babylon und Shamsi-Adad I. von Assyrien hatten einen gemeinsamen Vorfahren (Namhu / Nuabu), der 16 namentlich bekannte Generationen vor Hammurabi und 14 namentlich bekannte Generationen vor Shamsi-Adad I. lebte. Dazu kommen noch 10/11 weitere namentlich bekannte Generationen vor Namhu / Nuabu, also insgesamt 25/26 Generationen, welche einen Zeitraum von 550—600 Jahren abdecken. Das ist deutlich mehr als etwa die 430 Jahre zwischen den Patriarchen der frühgeschichtlichen Bronzezeit (Abraham, Isaak, Jakob) und den israelitischen Leitgestalten der geschichtlichen Eisenzeit (Moses, Josue). Im syrischen Ugarit zählte die offizielle Königsliste 30 bis 40 namentlich bekannte Könige von 1800 v. C. bis 1200 v. C. (600 Jahre) plus 200 Jahre weiterer Vorfahren, so dass insgesamt die Überlieferung 800 Jahre zurückreichte.

Weitere Beispiele aus dem pharonischen Ägypten: Ukh-hotep, Gouverneur der 14. oberägyptischen Provinz hinterließ in seiner Grabkapelle eine Liste von 59 Vorfahren und Vorgängern im Amt einschließlich der Namen ihrer Frauen und zwar in der korrekten chronologischen Ordnung. Die Liste deckt den Zeitraum von 2600+ bis 1900 v. C. ab = 700 Jahre. Die Berliner Genealogie eines Priesters in Memphis geht G15 PapyrusWestcar photomerge-AltesMuseum-Berlinvon 2000+ bis zum 8. Jh. v. C., also mindestens 1300 Jahre, und ein Tempelschreiber Mose konnte seine Abstammung in einem Rechtsverfahren 300 Jahre zurück dokumentieren (1250 v. C. bis 1550 v. C.) — und es handelt sich in diesen Fällen um private Familientraditionen! Der Papyrus Westcar von 1600 v. C. [Photo links: Ägyptisches Museum Berlin] enthält Erzählungen und eine Königsliste der Pyramidenzeit (3./4. Dynastie), welche 1000 Jahre zurücklag. Die Biographie von Sinuhe entstand in ihrer literarischen Fassung 1920 v. C. und wurde tradiert und gelesen bis 1100 v. C., also 800 Jahre lang (vgl. Kitchen 2006, 369):

„So at all periods, and often for lengths of time far outstripping the … periods … through which the ‘editions’ of the patriarchal narratives passed, Egypt can show a variety of examples in various forms, of transmission of knowledge of historical characters and considerable genealogical data, and that with accuracy.” (Kitchen 2006, 370)

Ein weiteres Beispiel: Die Hethiterkönige bewahrten ebenfalls 600 Jahre lang den annalistischen Bericht der von ihm selbst geschilderten Taten ihres dynastischen Gründers Anittas im 19. Jh. v. C. Sie übernahmen dazu im 14./13. Jh. aus Mesopotamien die literarischen Traditionen zu Sargon von Akkad aus dem 24. Jh., also 1000 Jahre zurückliegend (Kitchen 2006, 370).

Die von der Tora nahegelegte Verschriftung der frühgeschichtlichen Patriarchentraditionen in der Zeit und im Umfeld des Moses und Josue konnte dabei nicht in mesopotamischer / syrischer Keilschrift erfolgen, welche in Südkanaan und Ägypten in der zweiten Hälfte des 2. Jt. v. C. nicht mehr üblich war, sondern entweder in ägyptischer Hieroglyphen- oder hieratischer Schrift, welche auch von Semiten in Ägypten nachweislich benutzt wurde. Oder in der kurz vorher erfundenen westsemitischen Alphabetschrift, „a vehicle designed by and for Semitic speakers (and writers) [...] Older examples occur in homely, informal contexts, showing that it could be, and was, readily utilized by anyone who cared to do so, and not only by government elites.” (Kitchen 2006, 371) Für die letztere Alternative spricht die sich bei Jesaja (19, 18) findende und durch die Linguistik bestätigte Information, dass Hebräisch die Sprache Kanaans ist (vgl. Robert, A. / Feuillet, A. (Hrsg.) a.a.O. Wien / Freiburg / Basel 1963, 128).

Nahöstlicher Ursprung der Schrift und Schriftkultur

Es ist allgemein bekannt, dass der Ursprung der Schrift und Schriftkultur im Nahen Osten des 3. Jt. v. C. liegt, näherhin in der Keilschrift der Sumerer, Akkader und Babylonier Mesopotamiens und in der Hieroglyphenschrift des pharaonischen Ägypten:

„Die Schrift taucht im Nahen Orient mit einem gewaltigen Vorsprung vor den übrigen Brennpunkten der Kultur auf. Während die chinesische Schrift erst seit dem Ende des zweiten Jahrtausends belegbar erscheint, wenn auch ihre Entstehung sicher in ältere Zeit zurückreicht, besitzen Ägypten und Sumer schon um 3000 v. Chr. eine ausgebildete Schrift, und das minoische Kreta mindestens gegen Ende des dritten Jahrtausends“ (Robert A. / Feuillet, A.: Einleitung in die Heilige Schrift I, Wien / Freiburg / Basel 1963, 73—74)

Für die Region Kanaan resp. Palästina resp. Israel bedeutet dies zunächst eine Abhängigkeit der Schriftkultur von diesen Kulturzentren, zunächst von Mesopotamien, später von Ägypten: „Während der ganzen ersten Hälfte des 2. Jahrtausends stand Kanaan noch unter dem kulturellen Einfluß Mesopotamiens. Man schrieb seine Briefe und kopierte selbst bedeutende epische Teile (so das Gilgamesch-Epos) in Keilschrift. Erst von 1580 an festigte sich das politische Übergewicht Ägyptens bis weit ins Hinterland hinein; sein kultureller Einfluß [inkl. der Hieroglyphenschrift] wuchs in diesem Raum rasch an und blieb selbst nach seinem politischen Zusammenbruch im 12. Jh. weiterbestehen.“ (Robert/Feuillet a.a.O. 1963, 125)

In Mesopotamien (Sumer, Akkad, Babylon) finden sich im einzelnen folgende literarischen Gattungen: Wirtschaftsdokumente (Listen, Etiketten, Empfangsbescheinigungen) — Rechtsdokumente (Verträge, Gerichtsprotokolle, Gesetzessammlungen) — Briefe (privat und diplomatische, administrative aus Staatskanzleien) — Astronomische und mathematische TexteMedikamenten- und ZaubersammlungenRitualien für die Priester und Magier — Hymnen und KlageliederEpische MythenInschriften über FeldzügeAnnalen und ChronikenWeisheitsliteratur (vgl. Robert/Feuillet a.a.O. 1963, 125—126).

Literarische Gattungen in Ägypten sind: TotenliteraturTheologische Texte (Hymnen, Ritualien, Mythen, Magie) — WeisheitstexteAnnalenBiographienLiebesliteraturSatiren Astronomische und mathematische TexteMedikamenten- und Zaubersammlungen.

Ähnlich wie bei diesen beiden Kulturen ist die Situation hinsichtlich der in Gebrauch befindlichen literarischen Gattungen in Syrien, Phönizien und Palästina.

Alphabetschrift als Bildungs- und Wissensinstrument

Der Ursprung der modernen rationellen Alphabetschrift als globales Bildungs- und Wissensinstrument liegt in Kanaan resp. Israel / Phönizien. Auch hierzu bieten Robert/Feuillet a.a.O. 1963, 73—74, vgl. 337, eine kompetente Orientierung:

„Die[se] ältesten Schriften [scl. Keilschrift und Hieroglyphenschrift] ... sind ... umständlich und schwer zu handhaben. Sie umfassen zahlreiche ... Wortzeichen, die ... später zu Silbenzeichen geworden sind und im allgemeinen verschiedene Bedeutungen annehmen konnten; aus diesem Grunde blieben sie auch einer Kaste von Berufsschreibern vorbehalten. Der entscheidende Fortschritt kam von den Westsemiten, die, im Schnittpunkt dieser drei großen Kulturen sitzend, um die Mitte des zweiten Jahrtausends das Alphabet erfunden haben. Die ersten Spuren ... sind ... von Arbeitern semitischer Zunge ... in den ägyptischen Bergwerken auf der Sinaihalbinsel [...] zwischen 1850 und 1500 [...] Es steht so gut wie fest, daß man an der phönizischen Küste vom 15. Jh. an ein vom vorerwähnten abgeleitetes Alphabet verwendete, von dem sämtliche westliche und Hindu-Schriften abstammen; die griechische Schrift scheint sich um das 9. Jh. von ihr losgelöst zu haben. Von den 30 konsonantischen Zeichen, die es ermöglichen, alle Laute festzulegen, in die man die Silben zerlegen konnte, behielt das phönizische System schließlich 22 bei, das in Südkanaan bereits im 11. Jh. verbreitet war (Pfeile von El-Hadr in der Nähe von Bethlehem).“

Für die Schriftkultur Israels im allgemeinen bedeutet dies: „Das von den Israeliten eroberte Südkannaan kannte die Schrift schon seit langer Zeit, und man kann annehmen, daß sich die Geschichte dort in einem Klima geschriebener Kultur entfaltet hat [...] Zudem ‚unterscheidet sich eine in der mündlichen Überlieferung vollkommen sterotyp gewordene Erzählung in bezug auf die Form in keiner Weise von einem geschriebenen Dokument‘ [J. Lindblom]“ (Robert/Feuillet a.a.O. 1963, 131) Für die Texte der Tora, namentlich Genesis und Exodus, aber auch Josue und Richter und Samuel heißt dies:

„Da die Semiten um die Mitte des zweiten Jahrtausends ein Alphabet erfunden haben, das auf der Sinaihalbinsel (protosinaitische Inschriften), in Südkanaan (Raum von Kakisch), in der Nähe des Toten Meeres (beschriebene Pfeilspitzen aus der Umgebung von Bethlehem) und bis nach Galiläa (Krug von Hasor) in Gebrauch gewesen ist, können einige dieser Erzählungen schon in sehr früher Zeit schriftlich niedergelegt und schon sehr bald zusammengefaßt worden sein: so die Überlieferungen der Madianiter und Keniter ... und [...] jene ... Berichte ... die sich auf Seth beziehen“ (Robert//Feuillet a.a.O. 1963, 337).

Prinzipielle Alphabetisierung aller sozialen Schichten

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich die prinzipielle Alphabetisierung aller sozialen Schichten seit der Mitte des 2. Jahrtausends durch die moderne kanaanitisch-israelitische Alphabetschrift. Wir haben oben bereits gesehen, dass für die westsemitische Alphabetschrift gilt, dass sie (i) „a vehicle designed by and for Semitic speakers (and writers)“ ist und (ii) „older examples occur in homely, informal contexts, showing that it could be, and was, readily utilized by anyone who cared to do so, and not only by government elites” (Kitchen 2006, 371). Die alphabetische Schrift und kananäische Sprache finden sich seit dem 14./13. Jh. v. C. in Inschriften auf Töpferware und auf Tonscherben im Palästina des 13. und 12. Jh. v. C.:

“They represent the use of the simple linear alphabet by people who were not necessarily scribal specialists at all. An alphabet of between twenty-two and twenty-eight letters was no great burden for someone to learn, in vivid contrast to the complex scripts and vast series of different signs that comprised them, in Egyptian and cuneiform. Hence from the fourteenth/thirteenth century onward, the alphabet could be freely used for any kind of communication. The contemporary north Semitic texts found at Ugarit in north Phoenicia illustrate this to perfection. These too were written in an alphabet — but in simplified cuneiform characters, so that clay tablets could be used for writing the documents. And these include religious texts (rituals, god lists, myths), literary texts …, administrative lists, and a copy of a treaty […]

In Canaan to the south, most records were evidently written on papyrus — and this has all perished. We know that the kings of Byblos used papyrus ... circa 1080 ... — but … no merest scrap survives […] In Egypt ... 99 percent of all papyri written from circa 3000 down tot the … Greco-Roman times have perished completely […] Thus we should consider a Moses or a Joshua writing on papyrus, skins, or even waxed tablets in alphabetic late Canaanite [= the dominant local tongue]. During the two centuries that followed, circa 1200–1000, standard Hebrew evolved out of this form of Canaanite […]

Copies of older works such as Deuteronomy or Joshua would be recopied, modernizing outdated grammatical forms and spellings, a process universal in the ancient Near East during the period from 2500 to Greco-Roman times […] Literary recopying was an art practiced throughout the ancient Near East for three thousand years […] Egyptian, Mesopotamian (Sumerian and Accadian), Hittite, Ugaritic, and other texts exemplify all this.” (Kitchen 2006, 305—306)

V. P. Long, D. W. Baker, and G. J. Wenham (eds.): Windows into Old Testament History: Evidence, Argument, and the Crisis of “Biblical Israel” , Grand Rapids / Cambridge 2002), 82—102, bringen weiteres Belegmaterial zur “Literacy in Iron Age Israel”, also für Lesen und Schreiben in Alphabetschrift in unterschiedlichen Gegenden und sozialen Schichten, in Dorfkulturen ebenso wie in städtischen Zentren. Der Beitrag von Richard S. Hess: Writing about Writing: Abecedaries and Evidence for Literacy in Ancient Israel. In: Vetus Testamentum 56 (2006) 342—346, dokumentiert an einem weiteren kürzlichen Fund aus dem 10. Jh. v. C. in Tel Zayit die fortgeschrittene Schriftkultur der Zeit der Monarchie ab 1000 v. C.

Protohistorischer Charakter von Genesis 1–11

Inhalte und Belege der Vorgeschichte

Genesis 1—11 bietet die Vorgeschichte in der Tora, mit den bekannten Schöpfungs-, Sündenfall-, Sintflut-, Turmbau- und Sprachenverwirrungserzählungen. Es gibt solche Überlieferungen nun aber nicht nur im Nahen Osten, sondern auch bei anderen Völkern auf allen Kontinenten einschließlich des Fernen Ostens, Afrikas und des indianischen Amerika:

„Noah und die Sintflut haben in unzähligen Überlieferungen ihr Gegenstück in der Wasserflut, die eine ‚Menschheit‘ (‚Gesellschaft‘) vernichtete bis auf einen einzigen Menschen, den mythischen Ahnen einer neuen Menschheit. Die ‚Wasser des Todes‘ sind ein Leitmotiv der altorientalischen, asiatischen und ozeanischen Mythologie.“ (Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957 [32007], 79)

Das folgende Fazit des Orientalisten und Theologen Roger Liebi kann nicht anders denn als korrekt bewertet werden:

Weltweite Parallelen [mit Genesis] können ... zur Schöpfungsgeschichte (Gen 1—2), zum Paradies mit dem Baum des Lebens, zum Sündenfallereignis mitsamt dem Eintritt des Todes (Gen 3) und zu Kains Brudermord in der zweiten Generation aufgezeigt werden. Beachtlich ist nun noch Folgendes: Alle in Gen 1,1 bis 11,8 berichteten Ereignisse haben sich vor der Ausbreitung der Urmenschheit ereignet. Es wäre daher plausibel, falls die biblische Urgeschichte historisch zuverlässig ist, dass man zu ihr Parallelen in allen möglichen Kulturkreisen fände. Genau dies ist wirklich der Fall! Zu biblischen Ereignissen, die nach der Trennung der Urgesellschaft in Babel stattgefunden haben, finden sich keine weltweit in allen Kontinenten verbreitete parallele Traditionen [...] Es sollte ... bedacht werden, dass die überwältigende Mehrheit an Fluterzählungen nicht von Missionaren, sondern von säkularen Anthropologen, die gewöhnlich kein Interesse an einer Bestätigung der Genesis hatten, gesammelt worden sind.“ (Liebi, R.: Herkunft und Entwicklung der Sprachen, Holzgerlingen 32007, 139—140)

Das folgende Zitat von Schuster / Holzammer macht deutlich, dass die Tradition des vorchristlichen wie christlichen Israel dies genau so gesehen hat:

„Das Zeugnis des gesamten Altertums besagt übereinstimmend: alle religiöse Wahrheit und Weisheit stammt vom Himmel, und das Kennzeichen ihres Ursprungs ist die Altertümlichkeit ihrer Überlieferung. Das ist die Überzeugung der Griechen und Römer so gut wie der Ägypter und Babylonier [...] Wir haben es in der biblischen Urgeschichte ... mit der Auswahl und Fassung der Urüberlieferung [zu tun], die in der Verheißungslinie der Menschheit bis auf Abraham erhalten, von da durch die Stammväter fortgepflanzt, in den prophetischen und priesterlichen Schulen gepflegt und von einem (oder mehreren) inspirierten Verfasser aufgezeichnet worden ist. Diese religiösen Ideen und Tatsachen bilden anerkanntermaßen den Kern der mythischen und sagenhaften Überlieferungen aller Völker, sowohl der alten Kulturvölker als der sog. primitiven (oder Natur-)Völker [...] Eine solche Übereinstimmung läßt sich ... nur aus der Tatsache erklären, daß diese Ideen Erbgut der Menschheit aus der Urzeit sind. Die Ähnlichkeiten und Verwandtschaften wie die Verschiedenheiten, die sich über weite geographisch, sprachlich, kulturhistorisch auseinanderliegende Völkerkreise erstrecken, gründen nicht in psychologischen Momenten oder im Zufall. Die einzig vernünftige Erklärung liegt in der Annahme einer ursprünglich gemeinsamen Überlieferung, die sich nach der Trennung der Völker in verschiedener Weise ausgestaltet hat.“ (Schuster, I. / Holzammer, J. B.: Handbuch zur Biblischen Geschichte, Bd. I, Freiburg 81925, 71—73)

Zur Hermeneutik und Geographie Edens

Das eigene Selbstverständnis dieser Tradition hinsichtlich des Wertes der genannten protohistorischen Nachrichten ist unzweideutig: Zum einen beansprucht die Tora deren Geschichtlichkeit; zum anderen beansprucht sie nicht zu Unrecht, eine besonders authentische Fassung derselben zu bieten, z.B. zum Schöpfungsbericht und zur Sintflut. Bei Kenneth Kitchen, einem der wie erwähnt gegenwärtig besten Kenner der Vor- und Frühgeschichte des Alten Orient und seiner Literatur, findet sich dazu der Hinweis, dass die babylonische Schöpfungserzählung Enuma Elisch und Genesis 1—2 in keiner unmittelbaren Beziehung oder Verwandtschaft stehen. Dass also Genesis 1—2 eine selbstständige, unabhängige Tradition bietet: „Most Assyriologists have long since rejected the idea of any direct link between Gen. 1—11 and Enuma Elish” (On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 424—425). Vgl. aber schon das Urteil Hermann Gunckels, des Begründers der sog. formgeschichtlichen Schule, zur Schöpfungsgeschichte:

„Die Verschiedenheit der babylonischen Schöpfungsgeschichte und der von Gn 1 ist sehr groß. Siekönnte kaum größer gedacht werden. Dort ist alles wild und grotesk, himmelstürmende barbarische Poesie; hier die feierliche, erhabene Ruhe einer weitläufigen und manchmal etwas nüchternen Prosa. Dort die Götter im Laufe der Dinge entstanden; hier Gott von Anfang an Derselbe. Dort der Gott, der in heißem Kampfe das Ungeheuer erschlägt und aus dessen Leibe die Welt bildet; hier der Gott, der spricht und es geschieht. Die Poesie des Mythus ist zwar bis auf geringe Reste verschwunden. Wir bedauern es nicht. Denn dafür ist er erfüllt mit den Gedanken einer höheren Religion.“ (Gunckel, H.: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Göttingen 1895, 118; vgl. ders.: Genesis, Göttingen 91999 [1901])

Entgegen dem ersten Eindruck nahezu unüberwindlicher Interpretationshürden macht Kitchen ferner das Argument stark, dass eine präzise geographische Lokalisierung beabsichtigt sei (welche bei entsprechendem Kenntnisstand auch heute präzise identifiziert werden könne), wenn Genesis 2, 8—15 davon spricht, dass „Eden im Osten“ mit dem „Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ am Zusammenfluss von vier Flüssen lag:

„Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. Der eine heißt Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es auch Bdelliumharz und Karneolsteine. Der zweite Strom heißt Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. Der dritte Strom heißt Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat.“

Wichtig sei zunächst die Unterscheidung von Greater Eden, aus dem ein Fluss in den Garden in Eden in der Region des heutigen Südirak/Kuwait am Nordende des Persischen Golfs strömt, der sich aus vier Zuflüssen zusammensetzt: Pischon aus Havilah in Nordarabien [in der globalen Feuchtigkeitsphase 7500 bis 3500/2000 v. C. war Nordarabien Grasland und von einem Fluss durchzogen, der bei Kuwait in den Unterlauf von Euphrat und Tigris und dann in den Persischen Golf mündete: der Pischon]; Gihon aus dem Kusch der Kassiten im Westiran [wohl zu unterscheiden vom Kusch Nordostafrikas], Tigris und Euphrat aus Armenien / Anatolien (a.a.O. 2006, 428—429).

Zur Hermeneutik und Chronologie der Sintfluttradition

Ähnlich Kitchens Urteil zu den Sintfluttraditionen:

„Genesis thus offers a more concise, simpler account, and not an elaboration of a Mesopotamian composition. As to definition, myth or ‚protohistory‘, it should be noted that the Sumerians and Babylonians had no doubts on that score. They included it squarely in the middle of their earliest historical tradition, with kings before it and kings after it, the flood acting as a dividing point in that tradition, from long before 1900. Floods were per se commonplace in the ‘Land of the Two Rivers’, so why this fuss about a flood? Presumably because, in folk memory, there had been a particularly massive one, far more fatal than most, and the memory stuck ever after, until finally it entered the written tradition.” (Kitchen, K.: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 425—426)

Zum Vergleich: Die sumerischen und akkadischen Königslisten zählen von Hammurabi von Babylon (1750 v. C.) bis Sargon von Akkad (2300 v. C.) 71 Könige und von Sargon bis zur Flut 84 Könige, also bis zur Flut insgesamt 155 Könige resp. Regierungszeiten und dann noch einmal acht weitere Könige bis zum Beginn der Königsherrschaft (vgl. Kitchen a.a.O. 2006, 439).

Zur Hermeneutik vorgeschichtlicher Ethnographie

Dasselbe Bild zeigt die Überlieferung zur Sprachenverwirrung, Genesis 11, 1—8: “The topic of the division of languages is itself very old. It early found expression in a passage in the epic Sumerian story of Enmerkar, king of Sumerian Uruk, and the distant lord of Aratta (in Iran), in an nineteenth/eighteenth century composition relating to a king of circa 2600.” (Kitchen: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 426)

Ebenfalls bei Kenneth Kitchen findet sich der Hinweis auf die besonders archaische Struktur von Genesis 1—11 insgesamt, welche vor 1600 v. C. zu datieren ist und somit die älteste Schicht der hebräischen Tradition darstellt (On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 426—427). Dies sei auch daraus ersichtlich, dass spätere Völker, welche nach 1600 v. C. die Bühne der Geschichte betreten, wie Ammon, Moab oder Schutu, Edom oder Kuschu, Midian, nicht in der vorgeschichtlichen Völkertafel von Genesis 10 vertreten sind, obwohl sie später herausragende Rollen in der Geschichte des Nahen Ostens und Israels gespielt haben (a.a.O. 2006, 438). Kitchen macht die aufschlussreiche Beobachtung, dass der zweite ausführliche hebräische Ursprungsbericht, die nachexilische Chronik, welche Kitchen auf ca. 430 v. C. ansetzt, keine entsprechende eigene Fassung der Schöpfung, des Falls und der Flut bietet, sondern nur eine summarische Zusammenfassung von Genesis 1—11 in 28 Versen (a.a.O. 2006, 427). Im Fazit:

“Gen 1—11 is a very characteristic literary composition, on the schema ‘creation … time span … crisis (flood) … time span … (modern times).’ Gen. 1—11 shares this particular schema with a small group of related compositions in early Mesopotamia (whence the Hebrew patriarchs came), all of which were of a type in vogue in the early second millennium B.C., and (in creative terms) seemingly only then. Later generations might recopy such works (even to Berossus’ time [scl. im Hellenismus]), but nobody composed them afresh anymore after about 1500 […] The approach they adopted was common to their neighbours, using the same basic tools and concepts of that time: the succession of human generations, and how to span them. Mesopotamia chose to expand ‘heroically’ the too-few reigns available. The Hebrew genealogies became telescoped through time, keeping a representative number, with possible man / clan figures spread along the now invisible intervals of the longer lines […] The flood was part of protohistory; so was the location of the Garden Eden, with its long lost (and long remembered) river Pishon [.. . ] The Table of Nations with early roots had its first form in the early second millennium, its full form in the late second, and was finally updated in the early first […] From creation to ancestry of their first fully historic forebears, Gen. 1–11 was in functional terms a set of early ‘world prehistories’ (when there was no modern archaeology or natural science methods), serving early Israel in that capacity.” (Kitchen a.a.O. 2006, 447)

3000 Jahre alte Bandaufnahmen

Zur vorliterarischen und schriftlichen Überlieferung vor- und frühgeschichtlicher Genealogien und Ereignisse über Jahrhunderte bis Jahrtausende kann es nützlich und orientierend sein, die obigen Anmerkungen hierzu noch einmal zu erinnern und zu ergänzen. Wir haben schon die Angabe des Altmeisters der religionswissenschaftlichen Forschung speziell Indiens, Max Müller (1823—1900, Foto rechts), zitiert: „Die Hymnen der Rigveda der Inder mit etwa 153.800 Worten sind ... vielleicht ein Jahrtausend lediglich durch das Gedächtnis fortgepflanzt und erhalten worden.“ (zitiert nach Schuster, I. / Holzammer, J. B.: Handbuch zur Biblischen Geschichte, Bd. Max Muller jung gemeinfreiI, Freiburg 81925, 72) Die Herausgeber der aktuellen und wohl gründlichsten deutschsprachigen Ausgabe der Texte des Rigveda [Michael E. J. Witzel / Toshifumi Goto (Hrsg.): Rig-Veda. Das heilige Wissen. Erster und zweiter   Liederkreis. Die grundlegenden Texte des Vedismus, der ältesten uns überlieferten Religion Indiens – in neuer Übersetzung und mit ausführlichem Kommentar, Frankfurt a. M. 2007, 475] halten obige Angaben für noch untertrieben und betonen, dass diese umfangreichen Textkorpora nicht nur (i) mündlich, ohne Schriftkenntnisse verfasst wurden, sondern auch (ii) über mindestens drei Jahrtausende innerhalb der Familien und im Lehrer-Schüler-Verhältnis absolut präzise überliefert wurden. Dahinter steht wie in der Prophetie des Nahen Ostens die Überzeugung, dass das exakte Dichter- resp. Prophetenwort maßgeblich ist und eine ihm innewohnende Kraft besitzt. Die Genauigkeit ist so groß, dass die genannten Autoren die Metapher einer Tonbandaufnahme von etwa 1000 v. Chr. verwenden. Es wäre irreführend, hier heutige Verhältnisse der Schriftlichkeit voraus zu setzen, welche nicht gültig sind

„für frühere Kulturstufen, auf denen das Buch noch keine Rolle spielte, vielmehr die Übermittlung und Bewahrung von Wissen und Erkenntnis durch mündliche Überlieferung geschehen und durch das Gedächtnis festgehalten werden mußte. Daß auf solcher Kulturstufe das Gedächtnis Dinge leistet, die bei uns nicht mehr möglich sind, war schon Julius Cäsar bekannt (vgl. Bell. Gall. VI, 14) und gilt nicht nur von Priesterkreisen, in denen so umfangreiche Texte wie das Awesta der Parsen und die Veden der Inder lange Jahrhunderte hindurch nur mündlich überliefert wurden, sondern insbesondere auch von dem nomadischen Kulturkreis, dessen ganzes geistiges Leben auf Überlieferung beruhte, die darum auch dort mit bewußter Sorgfalt gepflegt wurde. Das bestätigen zwei der besten Kenner arabischen Lebens, die beide jahrelang wie Araber unter Arabern gelebt haben: A. Musil erzählt von Alois Musil in arabischer Tracht gemeinfreiden Stämmen des Ostjordanlandes: ‚Vieles lernen die Kinder beim Lagerfeuer. Die Männer sitzen um das Feuer herum ... und alle hören mit größter Spannung zu, wie der eine oder andere die Traditionen des Stammes oder Geschlechtes vorbringt, die Genealogien aufzählt, die Heldentaten der Stammesgenossen preist.‘ R. T. E. Lawrence bestätigt diese Schilderung: ‚In der schwachbevölkerten Wüste kannte jeder den andern, und an Stelle von Büchern studierte man Familiengeschichte. In solchen Kenntnissen zu versagen, bedeutet, daß man entweder ungebildet war oder ein Fremder.‘ [...] Solche Erzählungen ... sind ... imstande, hervorstechende Ereignisse wie die Anfänge, die entscheidenden Höhe- und Wendepunkte der Stammesgeschichte festzuhalten. Nun ist die israelitische Patriarchengeschichte aber gerade Überlieferung eines Halbnomadenstammes über seinen Ursprung [...] Solche Überlieferungen besaßen also schon durch diesen Inhalt ein starkes geschichtliches Beharrungsvermögen. Dazu kommt noch die besondere religiöse Bedeutung dieser Überlieferung.“ (Junker, H.: Das Buch Genesis. In: Nötscher, F.: Die Heilige Schrift in deutscher Übersetzung. Altes Testament I, Würzburg 31955, 55–56) [Foto links: Alois Musil, 1868—1944, österreichischer Orientalist und Theologe, Pionier der nahöstlichen Geographie, im 1. Weltkrieg erfolgreicher Gegenspieler von Lawrence von Arabien]

Prophetie: Wörtliche, unantastbare schriftliche Fixierung

Zur Exaktheit der Aufzeichnung und Überlieferung von Prophetie vgl. diese Zusammenfassung: „The phenomenon of prophecy is common to the Old Testament and the surrounding Near East. At all periods … prophets … above all … acted as spokespeople (men and women alike) from deity to Kings, Leaders, and communities, often with the future in view for good or ill. Their words were reported accurately and in writing, promptly, to the relevant folk, as the ancient Near Eastern data make very clear; there is no scope for tendentious oral ‘transmission’ by imaginary schools of ‘disciples’, long after the messages had lost their first impact. Prophecies could be reported or archived, grouped in letters or collections.” (Kitchen, K.: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 420)

Literarische Techniken der vorgeschichtlichen Chronologie

Auch literarisch weist Genesis 5 [Patriarchen bzw. Generationen vor der Flut] wie Genesis 1—11 überhaupt — wie oben gezeigt — eine archaische Struktur auf, welche vor 1600 v. C. datiert wird und die älteste Schicht der hebräischen Tradition darstellt (Kitchen a.a.O. 2006, 426—427). Die Zeitmessung erfolgt dabei durch Generationen von Familienoberhäuptern (Genesis) oder Regierungszeiten von Königen wie in Ägypten, Babylonien, Sumer, Akkad, bei den Hethitern und in Ugarit (Kitchen a.a.O. 2006, 439). Die sumerischen und akkadischen Königslisten zählen von Hammurapi von Babylon (1750 v. C.) bis Sargon von Akkad 71 Könige und von Sargon bis zur Flut 84 Könige, also bis zur Flut insgesamt 155 Könige resp. Regierungszeiten und dann noch einmal acht weitere Könige bis zum Beginn der Königsherrschaft (vgl. Kitchen a.a.O. 2006, 439). In beiden Fällen werden — je weiter in der Vergangenheit desto stärker — nicht alle Generationen, sondern, so Kitchen, nur noch besonders herausragende oder repräsentative Persönlichkeiten weiter überliefert, deren Lebenszeiten dann aber gestreckt werden, um die nicht im geschichtlichen Gedächtnis verbliebenen und somit fehlenden Zwischenglieder und Zeiträume zu überspannen:

“The approach they [= die hebräischen Vorväter wie die späteren Quellenschriften der Tora] adopted was common to their neighbours, using the same basic tools and concepts of that time: the succession of human generations, and how to span them. Mesopotamia chose to expand ‘heroically’ the too-few reigns available. The Hebrew genealogies became telescoped through time, keeping a representative number, with possible man / clan figures spread along the now invisible intervals of the longer lines […] From creation to ancestry of their first fully historic forebears, Gen. 1—11 was in functional terms a set of early ‘world prehistories’ (when there was no modern archaeology or natural science methods), serving early Israel in that capacity.” (Kitchen a.a.O. 2006, 447)

Dieses Vorgehen kann auch an vielen anderen Genealogien des Tanakh und der Messianischen Tora (Evangelien) positiv nachgewiesen werden:

„Within Hebrew and related tradition, such ‘official’ father-to son sequences can represent the actual facts of life, or they can be a condensation from an originally longer series of generations. Thus, inside the book of Genesis itself, we have a note of ‘the children born to Jacob by Zilpah’ (46:16–18) which actually includes not only sons (Gad, Asher) but grandsons (Ziphion, Haggi, Beriah, etc.) and great-grandsons (Heber, Malchiel). And likewise ‘the sons that Leah bore to Jacob’ (46:12, 25), with sons (e.g., Judah), grandsons (e.g., Perez), and great-grandsons (Hezron and Hamul). Thus, within Genesis ‘sons’ can include grandsons and great-grandsons, and is not always literal sons. In the early Roman period the Jewish-Greek Gospel of Matthew used both of the conventions observed so far: (i) a limited, representative number of generations (for him, 14 + 14 + 14), and (ii) telescoped sonship to cover son, grandson, great-grandson, and great-great-grandson (Matt. 1:1–17). His ‘Jehoram fatherd Uzziah’ (1:8) is shorthand for Jehoram fatherd (Ahaziah [2 Kings 8:25], who fathered Joash [11:2], who fathered Amaziah [14:1], who fathered [14:21]) Uzziah. Such an author would have known his Hebrew Bible perfectly well, as would his Jewish contemporaries; but this abregé suited his needs. And so, clearly in Gen 46.” (Kitchen a.a.O. 2006, 440)

Das Verfahren war im Alten Orient nahezu allgemein verbreitet. Auch die langen Lebenszeiten der Vorväter resp. Könige vor der Flut und — abnehmend — nach der Flut finden sich so in Sumer und in Ägypten. Die angegebenen langen Lebenszeiten nach der Zeugung beziehen sich entweder auf das betreffende Individuum, können aber auch das Weiterleben des Individuums in der Familie oder Sippe / Klan meinen. Bei den angegebenen langen Lebenszeiten bereits vor der Zeugung des repräsentativen Nachkommen (Erstgeborenen) ist in der Tora ein Multiplikator resp. Divisor 5 wahrscheinlich. Zum Vergleich: In Sumer war der Multiplikator 60 üblich für die teleskopische Streckung der Lebensalter in archaischer, heroischer Zeit (Kitchen a.a.O. 2006, 443).

Menschheit als Monophylum

Paläobiologie: Y-Adam und Mitochondrien-Eva

Nach diesen mehr allgemeinen Orientierungen zu Vorgeschichte und Erdgeschichte sollen nun die wichtigsten vorgeschichtlichen Traditionen im Einzelnen skizziert werden. Eine erste Tradition nach Genesis und zahllosen anderen volkskundlichen Überlieferungen ist, dass die Menschheit monophyletisch ist: Alle Menschen stammen von einem Ahnvater (Adam) und einer Urmutter (Eva) ab. Dies scheint auch fachübergreifend die Auffassung empirischer Wissenschaften zu sein. Zur Geschichte des homo sapiens gibt es bekanntlich das ältere polyzentrische Entstehungsmodell (Kandelabermodell): parallele und frühe Entwicklung der Population von homo sapiens aus homo erectus ab 800.000 Jahren. Dagegen steht das jüngere monozentrische Entstehungsmodell (Garten Eden Modell): einmalige und späte Entstehung ab 100.000 bis 10.000 Jahren v.u.Z. Der Entstehungsort ist nach rein genetischen Daten am ehesten Afrika, nach der gesamten paläoanthropologischen Faktenlage eher im Nahen Osten, wie in Genesis 3.

Die Paläobiologie ist heute mehrheitlich der Auffassung, dass alle heutigen Menschen nicht nur aus einer sehr kleinen Ursprungspopulation stammen, sondern sogar von einer einzigen Stammmutter. Dies wegen der geringen genetischen Vielfalt von homo sapiens, festgestellt am Genom der nur von der Mutter vererbten Mitochondrien-DNA: Theorie der mitochondrialen Mutter Eva oder Mitochondrien-Eva vor geschätzten 140.000 Jahren (vgl. Kutschera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 32008, 184, und Junker, R. / Scherer, S.: Evolution. Ein kritisches Lehrbuch, Gießen 62006 2006, 284—285). Entsprechende Untersuchungen des Y-Chromosoms, das nur vom Vater vererbt wird, bestätigen diesen Befund und führen zu einem Y-Adam vor ca. 60.000 Jahren, von dem nach einer verbreiteten Forschungshypothese alle heutigen Menschen abstammen (vgl. Kutschera a.a.O. 2008, 184—185). Dazu kommt, dass nach einer Genstudie der UC San Diego die Menschheit einmal fast ausgestorben ist (Science April 1999/ BdW 28.04.1999 (Zillmer 2008, 151)), was die bei fast allen Völkern verwurzelte Geschichte weniger Menschen spiegelt, die eine Sintflut überleben. Dies wird in Folge noch einmal eigens aufgegriffen. Man spricht deswegen auch von der „Menschheit als Monophylum“ (Kutschera a.a.O. 2008, 185). Abgesehen von den Datierungen des paläobiologischen Stammvaters bzw. der paläobiologischen Stammmutter haben wir also dieselbe Ausgangslage wie in Genesis. Nach den in den vorigen Abschnitten vorgestellten Diskussionen der Differenzen in der Datierung lässt sich aber wissenschaftstheoretisch korrekt die Hypothese vertreten, dass die vorliegenden empirischen Daten eine Reduktion der geologischen Zeiträume nicht nur nicht a priori verbieten, sondern z.T. sogar nahelegen.

Ethnologie: Plausibilität eines Ursprungszentrums

Genesis 3 berichtet von einer ursprünglich leidlosen Lebensform und paradiesischen Umwelt (Eden) des Stammvaters und der Stammmutter, in Gleichklang und vertrautem Umgang mit dem personalen göttlichen Absoluten. Ferner berichtet Genesis von einer ursprünglichen ethischen Entscheidungssituation in Form der Enthaltung von den Früchten des sogenannten Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Beeinflusst von einer bösen, gegen das Göttliche gerichteten und in Form einer Schlange erscheinenden geistigen Macht, versagten die ersten Ahnen in dieser Situation – mit dem Resultat des Wechsels von der paradiesischen Lebensform und Umwelt zu konstantem Leidensdruck in Ignoranz und Arroganz, aber mit der Zusage der ethischen und physischen Erlösung in der Zukunft (Messiasidee).

Diese Erzählung ist zum einen für das Verständnis der Kosmologie der Tora unabdingbar, was auf der Hand liegt. Andererseits betreten wir mit Genesis 3 ein neues Terrain, das sich bis Genesis 11 erstreckt und den Bericht der Tora über die Vorgeschichte enthält. Religionsphilosophisch ist dabei zuerst der schon angesprochene Sachverhalt Ernst zu nehmen, dass die Inhalte von Genesis 3 bis 11 kein Sondergut der Tora sind, sondern Gemeingut praktisch aller Ethnien und ihrer vorgeschichtlichen Überlieferungen. Das ist einfach eine ethnologische Tatsache, die man religionsphilosophisch nicht ignorieren kann, auch und gerade wenn sie nur schwer mit unseren derzeitigen kosmologischen Theorien vermittelbar erscheint.

Vielleicht ist hier ein Wort Wilhelm Wundts (1832—1920, Foto links), an der Universität Leipzig Begründer der Psychologie als moderner experimenteller Wissenschaft, in methodologischer Hinsicht hilfreich. Denn ein bahnbrechender Forschungsschwerpunkt Wundts war insbesondere auch das, was er ‚Völkerpsychologie’ nannte und was heute unter W. Wundt gemeinfreiSoziologie und Ethnologie firmiert (vgl. Schneider, Ch.: Wilhelm Wundt – Völkerpsychologie. Ein Reader, Göttingen 2008). Hier Wundts Dictum: „Die Wissenschaft kann die Hypothese, alle Mythen und Religionen seien dereinst in vorhistorischer Zeit von einem einzigen Ursprungszentrum ausgegangen, durchaus nicht für unmöglich erklären.“ (Wundt, W.: Völkerpsychologie Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Zweiter Band: Mythus und Religion, Leipzig 1905, 571)

Was insbesondere den Inhalt von Genesis 3 angeht, so dürften „als gemeinsame Überlieferung aller Völker ... folgende Momente gelten: a) Die Ahnen der Menschheit standen im Anfang zur Gottheit in einem vertrauten Verhältnis und führten in Gemeinschaft mit ihr ein glückliches,von Beschwerden und Leiden freies Dasein. b) Dieser Zustand fand ein Ende durch einen Frevel gegen die Gottheit seitens der Menschen oder ihres Repräsentanten [...] c) An diesem Frevel ... ist meistens eine böse, Gott und den Menschen feindliche Macht beteiligt, die bekämpft und überwunden, aber nicht vernichtet wird. d) Gott zieht sich ... von der Menschheit zurück“ (Schuster, I. / Holzammer, J. B.: Handbuch zur Biblischen Geschichte, Bd. I, Freiburg 81925, 127) Wichtige Übersichtsarbeiten zu den Themen von Genesis 1 bis 3 (und weiter bis 11) in der Ethnologie und Vorgeschichte sind Lüken, H.: Die Traditionen des Menschengeschlechts, Münster 21869, Andree, R: Die Flutsagen ethnographisch betrachtet, o.O. 1891; Lang, A.: The Making of Religion, London 1898 [repr.: Cornell University Library 2009]; Radin, P.: Monotheism among Primitive Peoples, London 1954, und ders.: Primitive Man as Philosopher, New York 22002; Schmidt, W.: Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie, 12 Bde., Münster 1912—1955; Riem, J.: Die Sintflut in Sage und Wissenschaft, Hamburg 1925; R. Pettazoni: Der allwissende Gott, Frankfurt 1960; Eliade, M.: Geschichte der religiösen Ideen, 4 Bde., Freiburg / Basel / Wien 2002, und ders.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 32007 [11957]; Sproul, B. C.: Schöpfungsmythen der östlichen Welt, München 1993, und ders.: Schöpfungsmythen der westlichen Welt, München 1994.

Vorgeschichtliche Universalien

Zu diesen vorgeschichtlichen Traditionen um Kosmogonie und Schöpfung in Religionsgeschichte und Ethnologie hier einige Beispiele zunächst zur Situation in Naturvölkern. Die vielleicht kompakteste Einführung für die Traditionen von Naturvölkern auf den Kulturstufen der Jäger und Sammler, HirtennomadenSchebesta Paul Malaya 1905 gemeinfrei und Ackerbauern bietet der Ethnologe, Religionswissenschaftler und Linguist Wilhelm Schmidt: Handbuch der vergleichenden Religionsgeschichte. Ursprung und Werden der Religion, Münster 1930 [engl.: The Origin and Growth of Religion, London 1931]. Sie ist eine Zusammenfassung des 12-bändigen Quellenwerkes Schmidts Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie, Münster 1912—1955, und fußt auf ausgedehnten Feldforschungen seiner Mitarbeiter W. Koppers, M. Gusinde und P. Schebesta [Foto links, 1905 bei Negritos Malaysias], „exzellente Feldforscher, deren empirische Arbeitsweise“ höchsten „Malinowskischen Standards entsprach“ (Rössler: Die deutschsprachige Ethnologie bis ca. 1960: Ein historischer Abriss, Köln 2007, 13—14).

Schöpfungskonzept: Jäger und Sammler

"Am stärksten verbreitet ist der Schöpfername bei den Höchsten Wesen der nordamerikanischen Urvölker in den Formen ‚Macher‘, ‚Schöpfer‘, ‚Erdschöpfer‘, ‚Weltschöpfer‘; bei den Samojeden ist einer seiner Namen ‚Schöpfer des Lebens‘." (Schmidt: Handbuch der Religionsgeschichte, Münster 1930, 260):

„1. Den höchsten Grad seiner Macht zeigt das Höchste Wesen in seiner Schöpferkraft. Sie wird keinem der Höchsten Wesen der Urzeit positiv abgesprochen; aber es sind einige, denen sie auch nicht positiv beigelegt wird, oder wo darüber Unklarheit und Ungewißheit herrscht. Indes sind das verhältnismäßig wenige Fälle. Dazu gehören eine Anzahl Buschmannstämme, unter den arktischen Urvölkern die Korjaken, und auch bei den Samojeden tritt die Schöpfungsidee nicht stark und klar hervor. In gleicher Lage befinden sich unter den Feuerländern die Yamana [...]

Dagegen wird das Höchste Wesen als Schöpfer anerkannt mehr oder minder deutlich bei sämtlichen Pygmäenstämmen, von denen wir etwas ausführlichere Nachrichten haben, bei den Ainu, bei sämtlichen südostaustralischen Stämmen, unter den Feuerländern bei den Halakwulup, und ganz besonders in Nordamerika bei den Nordwest-Urvölkern, bei den Nordzentralkaliforniern und bei den Ost- und West-Algonkin und den algonkinisierten Winnebago. Bei dieser letzten Gruppe finden wir die höchste Steigerung der Schöpfungsidee, die creatio ex nihilo, in aller Klarheit und mit vollem Bewusstsein ausgesprochen, und ihre Mythen sind vor allem Schöpfungsmythen, und ihre feierlichen nationalen Zeremonien sind Darstellungen oder Wiederholungen des Schöpfungsvorganges.

2. Ausdrücklich wird das Höchste Wesen als Schöpfer der Erde und der Welt erkannt bei den asiatischen Pygmäen: Andamanesen, Semang, Negritos, bei den Buschmännern, den Ainu, den Samojeden, bei den gesamten nordamerikanischen Urvölkern, bei den Halakwulup, bei den südostaustralischen Urvölkern [...]

3. Fast die gleichen Stämme bekennen das Höchste Wesen auch als Schöpfer des Menschen oder des ersten Stammeselternpaares, was die älteste Form der Mensch- schaffung ist; hier kommen noch hinzu die Batwa-Negrillen von Urundi und die Gabun-Pygmäen. Die Art und Weise, wie der oder die ersten Menschen geschaffen wurden, ist längst nicht immer angegeben.“ (ebd. 1930, 264)

Schöpfungskonzept: Bauern- und Hochkulturen

Was spätere Bauern- und Hochkulturen angeht, so ist das Schöpfungskonzept geradezu die Achse ihrer Weltanschauung. Das bedeutet auch und besonders: Alle menschliche Zivilisation ist Wiederholung der Schöpfung. So z.B. beim vedischen Landnahmeritual der Indoarier: Die Landnahme wird erst rechtskräftig durch die Errichtung eines Feueraltars, der Agni geweiht ist, und der die Verbindung mit der Welt des Göttlichen sichert. Dies vollzieht sich als Vergegenwärtigung der Kosmogonie (Weltschöpfung):

„Die Errichtung eines Agni-Altars ist nichts anderes als eine Wiederholung der Schöpfung in mikrokosmischem Maßstab. Das Wasser, mit dem man die Tonerde anrührt, wird dem Urwasser gleichgesetzt; der Ton, der dem Altar als Unterlage dient, stellt die Erde dar ...“ (Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957 [32007], 19).

Ein anderes Beispiel aus der indogermanischen Welt: „Als die skandinavischen Siedler von Island Besitz ergriffen (landnáma) und es urbar machten, [war ...] ihr Tun für sie nur die Wiederholung einer urzeitlichen Tat: der Umwandlung des Chaos in Kosmos durch den göttlichen Schöpfungsakt.“ (Eliade ebd., 19)

Eliade hält dafür, dass auch Mythen praktisch stets Abwandlungen des Themas ‚Schöpfung‘ sind: „Der Mythos [...] ist immer der Bericht von einer ‚Schöpfung‘ [...] Aus diesem Grund steht der Mythos in engem Zusammenhang mit der Ontologie; er spricht nur ... von dem, was sich real ereignet, sich voll manifestiert hat [...] Natürlich handelt es sich um heilige Realitäten, denn das Heilige ist das Reale par excellence. Was der Sphäre des Profanen angehört, hat am Sein nicht teil, weil das Profane durch keinen Mythos ontologisch gegründet wurde und kein exemplarisches Modell besitzt [...] Was die Menschen aus eigener Initiative, was sie ohne mythisches Modell tun [gehört] der Sphäre des Profanen an. Es ist deshalb ein eitles und illusorisches, ein letzten Endes irreales Tun.“ (Eliade ebd., 56—57)

Ethik – Kult – Initiation

Die Weltimmanenz und ethische Präsenz der Gottheit erhellt hier aus den häufigsten Namen des höchsten Wesens: Vater — Schöpfer — Der da oben, und die ihm fast allgemein zugesprochenen Eigenschaften: Allwissenheit — Gutheit — Schöpfermacht — z.T. sittlicher Gesetzgeber und Überwacher — Empfänger von Gebet und Erstlingsopfern (Belege z.B. bei Schmidt: Handbuch der Religionsgeschichte, Münster 1930, 254—273). Am ausgeprägtesten erscheinen diese Züge des höchsten Wesens bei afrikanischen und asiatischen Pygmäenstämmen, im sog. arktischen Urkulturkreis und bei den Algonkin und Nordzentralkaliforniern. Einzelbelege zum entsprechenden Glauben und zur vorgeschichtlichen Überlieferung dieser Kulturen z.B. bei Schmidt, W.: Handbuch der vergleichenden Religionsgeschichte. Ursprung und Werden der Religion, Münster 1930, 257—258).

Zur paradiesischen Lebensform und deren Beendigung in Religionsgeschichte und Ethnologie wiederum zunächst ein Résumé zu den Naturvölkern von dem vielleicht besten Kenner der Faktenlage: „Bei den meisten Völkern heißt es, daß es [= das Höchste Wesen] früher auf Erden mit den Menschen zusammengelebt, sie alles Gute gelehrt und ihnen ihre sozialen und sittlichen Gesetze gegeben habe; schon darin zeigt sich die nahe Menschenverbundenheit dieses Höchsten Wesens. Erschaffung Evas_Dom Orvieto_NicFer_CC_BY-SA_3.0Derartiges wissen wir von dem Höchsten Wesen Puluga der Südandamanesen, dem Kari der Semang, den Höchsten Wesen der Südostaustralier, der Nordzentralkalifornier und Nordwestindianer, sowie mancher Algonkinstämme. Allerdings wird auch bei den nordamerikanischen Urvölkern vielfach gelehrt, daß es auf diese Erde vom Himmel herniedergekommen ist. Und bei so ziemlich allen Völkern der Urkulturen wird die bedeutsame Lehre vorgebracht, daß das Höchste Wesen, nachdem es, zumeist durch eine Schuld der Menschen, diese Erde verließ, in den Himmel gegangen ist, der jetzt seine Wohnung ist. Bei den Westzentral-Algonkin, bei den Lenape, bei den Ainu, den Samojeden, wird geglaubt, daß es in einem höheren, dem vierten, siebten, achten, oder gar zwölften Himmel wohne.“ (Schmidt a.a.O. 1930, 256) [Bild oben, Dom Orvieto ca. 1320 n. C.: Gott bzw. das Höchste Wesen, im persönlichen Umgang mit Adam und Eva]

Dieser ethnologische Befund setzt sich auch in den Bauernkulturen und frühen Hoch- kulturen fort, so in der „Überlieferung aller Völker, die auch für die Reinigung neugeborener Kinder Sühnegebräuche kannten. In dem alten Rom z.B. wurden die Knaben am achten, die Mädchen am neunten Tage nach ihrer Geburt im sog. Weihe- oder Reinigungswasser abgewaschen und erhielten hierbei einen Namen. Bei den Azteken in Mexiko betete der Priester bei einer ähnlichen Reinigungsfeierlichkeit zur Gottheit, sie möge huldvoll die von den Kindern früher begangenen Sünden tilgen und denselben eine neue Geburt verleihen. Bei den Tibetanern in Asien zündete man zugleich Feuer an und ließ das neugeborene Kind scheinbar durch die Flamme gehen, um es durch Wasser und Feuer zugleich zu reinigen. Ferner brachten alle alten Völker ihren Gottheiten blutige Sühnopfer dar, um die Folgen einer angeborenen Schuld möglichst zu tilgen; und manche Völker, wie die Inder und Ägypter, lehrten ausdrücklich, daß das Leben auf Erden eine Straf- und Bußzeit sei.“ (Schuster, I. / Holzammer, J. B.: Handbuch zur Biblischen Geschichte, Bd. I, Freiburg 81925, 126—127)

Doch der stärkste Hinweis auf das Bewusstsein einer Differenz zwischen ethischem und spirituellem Istzustand und ethischem und spirituellem Sollzustand ist das allgemeine Phänomen der Initiation, also eines Ritus der geistigen Neugeburt und des Übergangs zu spiritueller und sittlicher Reife. In allen religiösen Zivilisationen sind die „Rituale ... des ‚Übergangs‘“ wichtig aufgrund folgender „Auffassung der menschlichen Existenz ...: mit seiner Geburt ist der Mensch noch nicht fertig; er muß ein zweites Mal, und zwar geistig geboren werden. Er wird erst ganz Mensch durch den Übergang von einem unvollkommenen, embryonalen in einen vollkommenen, erwachsenen Zustand [...] Zur Initiation gehört im allgemeinen eine dreifache Offenbarung: die Offenbarung des Heiligen, des Todes und der Sexualität [...] Die Initiation bedeutet ein geistiges Reifwerden [...] Der Initiierte ... ist der Wissende.“ (Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957 [32007], 106—107, 110—111)       

„Der Inititationstod wiederholt die exemplarische Rückkehr ins Chaos, um die Wiederholung der Kosmologie zu ermöglichen, die Neugeburt vorzubereiten. Manchmal kommt es zu einer nicht nur symbolischen, sondern tatsächlichen Rückkehr ins Chaos, wie z. B. bei den Initiationskrankheiten der künftigen Schamanen, die oft als richtige Geisteskrankheiten angesehen wurden. Es handelt sich dabei im eine totale Krise, die zuweilen bis zur Auflösung der Persönlichkeit führt [Vgl. Eliade: Le Chamanisme, Paris 1951, 36 ff]. Das ‚psychische Chaos‘ zeigt an, daß der profane Mensch im Begriff ist, sich ‚aufzulösen‘ und daß eine neue Person geboren werden soll.“ (Eliade ebd., 115—116)

Im Fazit: „Das uralte Thema der zweiten Geburt [hat ...] immer ein gemeinsames Element, eine unveränderliche Größe, die man auf folgende Art definieren kann: wer Zugang zum geistigen Leben erlangen will, muß der profanen Seinsweise absterben und neu geboren werden.“ (Eliade ebd., 118—119)

Dasselbe Bild findet sich auf anderen Kulturstufen und anderen kulturellen Räumen wie im Zoroastrismus (Mazdaismus / Parsismus), welcher ein Jahrtausend lang (500 vor bis 500 nach Christus) eine bzw. phasenweise sogar die beherrschende Religion Asiens und — via der Tochterreligionen Mithraismus und Manichäismus — Europas und Nordafrikas war. Dessen Kosmologie und Anthropologie speist sich aus der indoarischen Tradition der Erschaffung des Menschen: Der erste Mensch Yima ist der Sohn des Himmels und vereint die Züge Adams und Noesin der hebräischen Bibel. Er ist ursprünglich unsterblich und verliert diese Gabe durch das Fakt einer Ursünde mit Vertreibung aus dem Paradies mit Überlieferung an die Gewalt der Schlange und späterer Sintflut wegen allgemeiner Verderbtheit. Der sittliche Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit, eine Ethik der Reinheit und Heiligkeit, die Wahl zwischen Gut und Böse sowie Reue, Reinigungen, gute Werke und das kultische Sündenbekenntnis sind daher auch hier zentrale Themen. Dazu gehört ein hoher Stellenwert der über den Tod hinausreichenden eschatologischen) Folgen des guten / schlechten Handelns mit Opfern für die Verstorbenen am 3., 7., 30. und Jahrestag des Todes.

Flutberichte

Auch die Flutberichte in der Vor- und Frühgeschichte bzw. Ethnologie zeichnen sich durch ihre Universalität aus. In über 70 unterschiedlichen Kulturen (die über den ganzen Globus verteilt sind) wird von einer großen Flut berichtet, wobei die Rettung in 72 Berichten durch ein Schiff geschah. Vgl. die z.T. schon im Vorhergehenden genannten veröffentlichungen von Lüken, H.: Die Traditionen des Menschengeschlechts, Münster 21869, und Riem, J.: Die Sintflut in Sage und Wissenschaft, Hamburg 1925, der 268 Flutberichte, darunter 21 Regenbogensagen gesammelt hat. Eine Sammlung von 100 Sintflutberichten bietet Andree, R: Die Flutsagen ethnographisch betrachtet, o.O. 1891. Aktuelle Standardsammlungen sind sodann Sproul, B. C.: Schöpfungsmythen der östlichen Welt, München 1993, und ders.: Schöpfungsmythen der westlichen Welt, München 1994, sowie Caduff, G. A.: Antike Sintflutsagen, Göttingen 1997. Besonders eindrucksvolle Flutsagen finden sich offensichtlich bei so entlegenen und weit verteilten Stämmen und Kulturen wie den Tsimschian-Indianern British Columbias, den Azteken, Maja, und südamerikanischen Jurucares-Indianern in Boli- vien, ferner in Korea und – sehr bekannt – bei den Miao-Stämmen in Südwestchina, auf den Fidschiinseln, bei den Akwapim in Westafrika (Goldküste) u.a. (siehe auch in Folge). In der griechischen Philosophie und Naturgeschichte (Platons Dialoge Krition und Timaios) und in den Überlieferungen des pharaonischen Ägyptens ist die Sintfluttradition genauso präsent, in Verbindung mit einer dabei untergegangenen Hochkultur Atlantis auf einer Insel in der Größenordnung von 1000 km Durchmesser (Zillmer 2011, 189-197). Sintflutmythen thematisieren oft — aber nicht immer — typische Begleitumstände eines Impaktgeschehens: Beben, Winter (Frost/Nacht), Hitze, Flut (Zillmer 2011, 183). Erwähnenswert ist auch, dass das aus Genesis bekannte Vogelmotiv (Rabe Noes) in praktisch allen Sintflutberichten erscheint (Stephan 2010, 192). In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive machen Flutgeologen darauf aufmerksam, dass auch Charles Darwins Hauptwerk Die Entstehung der Arten (Stuttgart 1963 [1859], 677) eine weltweite Sintflut annimmt, die sämtliche Landlebewesen vernichtete. Im Vergleich zu anderen Berichten und besonders zu dem bekannten mesopotamischen Parallelbericht (Gilgamesch-Epos) über die vorgeschichtliche Große Flut gilt der Genesisbericht über die Flut nachweisbar als der qualitativ bessere und insbesondere von deutlichem historischem Charakter. Hier noch einmal Kitchens Fazit:

„Genesis thus offers a more concise, simpler account, and not an  elaboration of a Mesopotamian composition. As to definition, myth or ‚protohistory‘, it should be noted that the Sumerians and Babylonians had no doubts on that score. They included it squarely in the middle of their earliest historical tradition, with kings before it and kings after it, the flood     acting as a dividing point in that tradition, from long before 1900. Floods were per se common place in the ‘Land of the Two Rivers’, so why this fuss about a flood? Presumably because, in folk memory, there had been a particularly massive one, far more fatal than most, and the memory stuck ever after, until finally it entered the written tradition.” (Kitchen K.: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 2006, 425—426) 

Nach dem Buch Genesis der Bibel existiert die Erde seit 6000—7000 Jahren qua Erdkörper in der uns bekannten Form und stand am Anfang die Urflut oder das Chaos (Zillmer 2011, 165). Die Sintflut ist nach Genesis vor fünf Jahrtausenden anzusetzen. Eventuell ist nach Genesis der klimatische und meterologische Rahmen vor der Flut ein anderer gewesen. Die Urflut zieht sich sodann in die Brunnen der Tiefe, das Tiefen- oder Grundwasser zurück (vgl. Genesis 7, 11 und Stephan 2010, 193—194) wie auch in eine atmosphärische Wasserhülle der Erde oberhalb des Himmelsgewölbes, welche die Schleusen des Himmels festhalten (vgl. Genesis 1, 6-8), wie dies bei anderen Planeten (Venus in früherer Zeit und der Saturnmond Titan heute) der Fall ist. Diese atmosphärische Wasserhülle hätte dann als Schutzschirm gegen kosmische Strahlung gewirkt und einen höheren O2-Anteil der Luft bewirkt, wodurch ein besonderes Größenwachstum und eine hohe Lebenserwartung erwartet werden konnten. Es hätte in diesem Fall auch keinen Regen (vgl. Gen 2, 5), keine Jahreszeiten (vgl. Gen 8, 22), keinen Regenbogen (vgl. Gen 9, 13—15) gegeben, sondern ein tropisches Klima von Pol zu Pol (Zillmer 2011, 147—155).

Nach Genesis werden bei der Sintflut sowohl die Schleusen des Himmels geöffnet und damit die atmosphärische Wasserhülle der Erde freigegeben wie auch der in die Tiefenwasser gebundene Teil der Urflut freigesetzt wird. Dies bedeutet, dass nachdem das Chaos zum Kosmos, zur gestalteten Schöpfung geworden war, nunmehr der Kosmos wiederum zum Chaos der Urflut zurückkehrt, so dass eine Antischöpfung qua Umkehrung des 2. und 3. Schöpfungstages stattfindet. Wegen der nicht leicht mit allen Charakteristiken eines Impaktgeschehen in Übereinstimmung zu bringenden Merkmale dieses Berichtes in Genesis schließen manche Theologen – von ihren Voraussetzungen wissenschaftstheoretisch nicht anfechtbar – nicht aus, dass diese Sintflut der Genesis ev. auch durch nicht anhand der gewohnten Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erklärende, außerordentliche übernatürliche Phänomene bedingt gewesen sein könnte (Stephan 2010, 185—189), und zwar sowohl Wunder quoad modum (außerordentliches, statistisch praktisch unwahrscheinliches Zusammenwirken an sich natürlicher Umstände als auch solche quoad substantiam (grundsätzlich jenseits der Reichweite natürlicher Ursachen) (Stephan 2010, 220).

Eine bekannte erdgeschichtliche Erklärung im Rahmen des Impaktmodells bieten wie schon früher erwähnt A. Tollmann/E. Tollmann: Und die Sintflut gab es doch. Vom Mythos zur historischen Wahrheit, München 1993. Die Veröffentlichung stellt Hinweise auf ein Impaktereignis vor 9545 Jahren zusammen.

Das Kernindiz ist wie bei der bekannten Alvarez-Hypothese eines Asteroiden- oder Meteoriteneinschlages an der Kreide-Tertiär-Grenze (Saurieraussterben vor 65 Mio Jahren geologischer Zeitrechnung; Alvarez, W. & Asaro, F.: Die Kreide-Tertiär-Wende: ein Meteoriteneinschlag? In: Spektrum der Wissenschaft, 12/1990, 52—59) die erhöhte Konzentration des in Meteoriten stärker angereicherten Elementes Iridium in Grenzlagen entsprechender (hier: quartärer) geologischer Formationen: sog. Iridiumanomalie. Dazu Vorkommen von Quarzen mit Schocklamellen und Hochdruckmodifikationen u.a. Tollmann & Tollmann glauben, dass dieser vermutete Einschlag wie andere Impaktereignisse aus dem All eine Explosionsdruckwelle, gefolgt von einem Hitzeorkan mit Giftgaswolken, Glutregen und Weltenbrand auslöste, sowie im weiteren Verlauf ein sintflutartiges Szenario mit wochenlangen Regenfällen, kilometerhohen Tsunamis und eine durch dichte Staub- und Rußwolken verursachte Verfinsterung der Sonne mit ständig sinkenden Temperaturen, Sturzregen und Schneeflut etc. Durch entsprechende Modelle kann dieses identische Szenario größerer Meteoriten- bzw. Asteroideneinschläge heute als bestätigt gelten. Die Autoren argumentieren auch von der apriorischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit aus, insofern eine statistische Einschlagshäufigkeit von 10.000 Jahren für größere Kometen gegeben sei. In den weltweiten Flutüberlieferungen sei dieses einschneidendste Ereignis der Vorge- schichte überhaupt zu einem Kernbestandteil der ethnologischen Überlieferungen geworden. Darüber hinaus wollen die Autoren aus diesem Ereignis die Religion entstehen lassen und zwar als Furcht- und Beschwichtigungsreaktion gegenüber bedrohlichen und potenziell überwältigenden kosmischen Mächten.

Eine m.E. gute und ebenfalls fachübergreifende Evaluation findet sich bei Th. Fritzsche: Buchbesprechung zu A. Tollmann & E. Tollmann: Und die Sintflut gab es doch. Vom Mythos zur historischen Wahrheit, München, 1993. In: Wort und Wissen: Diskussionsbeitrag 3/94:

"Die Autoren liefern eine eindrucksvolle Schilderung der inzwischen durchgespielten Szenarien an der Wende Kreide/Tertiär; anschließend suchen sie in den Mythen der Völker nach Beschreibungen eben dieser Szenarien — und werden fündig. Ob persisch, indisch, asiatisch oder indianisch, die Menschen von den Fidschi-Inseln bis Feuerland scheinen eine Erinnerung an diese Vorgänge zu haben und viele, wie z.B. die Aborigenes in Australien, schildern überraschende Details. Was am deutlichsten hervortritt, sind die Parallelen in den Schriften aus aller Welt, die unbeeinflußt von den Schilderungen in der Bibel beispielsweise von einer Sintflut berichten [...] Im vorliegenden Werk werden die Sintflutberichte vieler Kulturen gewissermaßen rehabilitiert, es darf wieder global gedacht werden“.

Fritzsches Fazit ist dieses: „Die Aufarbeitung der Forschungsergebnisse zum Kreide/Tertiär-Impakt und weiterer geologischer Aspekte von einem qualifizierten Geologenehepaar sind ausgesprochen lesenswert. Die Zusammenstellung von Impaktmerkmalen aus verschiedenen Überlieferungen und der mögliche Bezug zu tiefgreifenden menschlichen Erfahrungen ist sicherlich berechtigt. Zweifelhaft ist die angewandte Methode: den Wahrheitsgehalt der Überlieferungen an heute erforschten oder vermuteten Impaktfolgen zu messen und die übrigen Passagen nur als schmückendes Beiwerk gelten zu lassen.“

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass andererseits auch in der Tradition des prophetischen Theismus die alternative Deutung vertreten wird, die Allgemeinheit der Flut nicht als eine absolute, sondern relative zu betrachten, so bei Schuster/Holzammer: „Die Frage nach der Ausdehnung der Sündflut [...] darf nicht lauten: War die Flut allgemein oder (geographisch oder anthropologisch) beschränkt? [...] Die Frage ist vielmehr: Welche Allgemeinheit hat der Bericht im Auge? welcher geographische und anthropologische orbis terrarum (Erdkreis) schwebte dem Berichterstatter vor?“ (Schuster, I. / Holzammer, J. B.: Handbuch zur Biblischen Geschichte, Bd. I, Freiburg 81925, 148) Das Handbuch plädiert sodann für eine geographisch nur regionale Ausdehnung der Flut. Eine Vollständigkeit anstrebende Dokumentation der weltweiten Flutberichte (mit detaillierten bibliographischen Belegen) und deren kreationismuskritische Diskussion hat Mark Isaak in einer Internet-Dokumentation von 2002 vorgelegt. Er ist Autor von The Counter-Creationism Handbook, Berkeley/Los Angeles 2007, das von Gegnern des scientific creationism als ein aktuelles Standardwerk anerkannt wird. Isaaks Darstellung trägt den Titel ‚Flood Stories from Around the World‘. Sie findet sich auf The Talk Origins Archive. Exploring the Creation / Evolution Controversy. Nach Abwägung der Argumente beider Seiten wird man wohl sagen müssen, dass für beide Sichtweisen — auf der empirisch-wissenschaftlichen Ebene — gute und gewichtige Argumente geltend gemacht werden. Vgl. auch Verf: Evolutionsbiologie, Norderstedt 2010, Kap. 12. 'Aktuelle Evolutionismus-Kreationismus-Debatte', insbesondere Abschnitt 12.2 'Zur Diskussion der Geowissenschaften im Scientific Creationism'.

Turmbau- und Sprachenverwirrungs-Überlieferungen

Verknüpft mit der Sintflutradition sind offensichtlich ebenfalls weltweit die Themen eines vorgeschichtlichen beispiellosen Stadt- oder Turmbaues und der Sprachverwirrung. In unserer Zivilisation kennen wir diese Überlieferungen aus dem Buch Genesis, das in Kapitel 11 von einer geplanten Megapolis Babel und einem geplanten Megaturm am Ursprung der Hochkultur in Mesopotamien berichtet. Dieser Plan wird nach dem Bericht von Genesis und zahlreichen anderen Parallelüberlieferungen als eine Verweigerung und Herausforderung des theistischen Gottesglaubens verstanden. Babel ist im geschichtlichen Gedächtnis von Tora und Tanakh auch sonst als Ursprung und harter Kern gegen den Theismus gerichteten Heidentums, und insbesondere auch als Ursprung und harter Kern von selbstherrlichem Wissensdünkel und Magie, Verführungskraft und Manipulation sowie gewalttätigem Hegemonialstreben konnotiert. Jesaja 47, 1, 5, 9—12, 15 etwa zeigt, wie stark seit der Entstehungszeit die erste und bedeutendste Megapolis der Geschichte mit Okkultismus, Magie, Gewalt, Hybris und Rebellion gegen das Göttliche in Verbindung gebracht wird.

Eine Feststellung in Genesis 11 ist, dass vor Babel die Menschen sich derselben Sprache bedienten und erst aufgrund dieses Ereignisses die linguistische Kompetenz durch transzendente Macht modifiziert wurde. Dies dergestalt, dass die menschliche Spezies zwar nach wie vor dieselbe kognitive Sprachkompetenz (linguistische Tiefenstruktur) besitzt, aber die Stämme und Völker diese in sehr verschiedene parallele und konkurrierende „Anwendersprachen“ (linguistische Oberflächenstrukturen) übersetzen. Auch diese Information findet sich weltweit in vorgeschichtlichen Überlieferungen, so in dem sumerischen Enmerkar-Epos (Endfassung ca. 2000 v. C.): “The topic of the division of languages is itself very old. It early found expression in a passage in the epic Sumerian story of Enmerkar, king of Sumerian Uruk, and the distant lord of Aratta (in Iran), in an nineteenth/eighteenth century composition relating to a king of circa 2600.” (K. Kitchen: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 2006, 426). Ausführlicher:

„Der Gedanke, dass die urzeitliche Menschheit nur eine Sprache hatte, findet sich auch in der sumerischen Literatur. Das Enmerkar-Epos berichtet von einem goldenen Zeitalter ohne Schlangen und Skorpione, ohne Furcht und Schrecken, wo der Mensch keine Feinde gehabt habe. Alle Menschen hätten den Gott Enlil ‚mit einer Sprache‘ gepriesen. Doch später sei mittels übernatürlicher Intervention, und zwar durch Enki, den Gott der Weisheit, die Ursprache der Menschen in eine Vielzahl von Sprachen geändert worden, sodass infolge dessen Streit entstanden sei.“ (Liebi, R.: Herkunft und Entwicklung der Sprachen, Holzgerlingen 32007, 135)

Denselben Sprachentstehungsmythos hat die babylonische Tradition, worüber der babylonische Marduk-Priester Berossus berichtet, dessen Darstellung von Eusebius von Cäsarea und anderen wiedergegeben wurde:

„Einige sagen, die ersten aus der Erde hervorgegangenen Menschen, trotzend auf ihre Größe und Stärke und die Götter verachtend und sich besser als jene dünkend, hätten es unternommen, einen hohen Turm zu bauen, da, wo jetzt Babylon ist. Schon wären sie dem Himmel nahe gewesen, da hätten die Winde, den Göttern zu Hilfe kommend, das Bauwerk umgestürzt. Die Trümmer desselben hätte man Babylon genannt. Da die Menschen bis dahin nur eine Sprache gehabt, so hätten sie nun durch den Willen der Götter verschiedene Sprachen bekommen, darauf sei zwischen Kronos und Titan der Krieg ausgebrochen.“ (Eusebius v. Cäsarea: Praeparatio evangelica 9, 14)

Es wurde gesagt: Turmbau- und Sprachenverwirrungserzählungen gibt es nicht nur im Nahen Osten, sondern auch bei anderen Völkern auf allen Kontinenten. Vgl. z. B. Hartmann, F.: Der Turmbau zu Babel, Mythos oder Wirklichkeit. Turmbausagen im Vergleich mit der Bibel, Neuhausen / Stuttgart 1999, der 60 Turmbau- und Urspracheerzählungen aus Vorderasien, Fernosten, Afrika und dem indianischen Amerika vorlegt. Deswegen betonen Sprachwissenschaftler, welche die Tora und damit Genesis als inspirierte und authentische Quellen akzeptieren:

„Die weltweiten Sintflut-, Turmbau- und Sprachenverwirrungserzählungen liefern uns heute von der kulturanthropologischen Seite her schwergewichtige Indizien für 1. eine weltweite Flutkatastrophe, 2. eine gemeinsame Herkunft der Völker in aller Welt, 3. die Entstehung neuer Sprachen nach einem Ursprache-Verwirrungsereignis.“ (Liebi, R.: Herkunft und Entwicklung der Sprachen, Holzgerlingen 32007, 138—139)

In Folge einige von Liebi angeführte Belege, ohne in eine nähere historische Wertung derselben einzutreten. Hier eine indianische Überlieferung aus dem Norden Amerikas:

„Die Tradition der Tsimschian-Indianer aus British Columbia (Kanada) verbindet, genau wie die Bibel, das Sintflutereignis mit der nachfolgenden Sprachverwirrung: ‚Zwanzig Tage war die Erde überflutet. Dann begann das Wasser zu sinken und verließ die Erde. Es fiel beständig und alle Arten Bäume waren durch den Strudel des Wassers ausgerissen worden. Und die Leiber der Menschen, Tiere, Vögel, Schlangen, alles war durch den Wirbel der See verschlungen worden. Einige Menschen kamen nicht um zu dieser Zeit, und sie wurden ringsum zerstreut. Damals wurden ihre Sprachen vermengt, denn vor der Flut hatten sie nur eine Sprache. Nach der Flut waren ihre Sprachen verschieden. Infolgedessen wissen die Menschen, dass sie verwandt sind, obwohl die Sprachen verschieden sind. Denn sie sind wirklich vor der Flut von einer Stadt hergekommen.‘“ (Riem, J.: Die Sintflut in Sage und Wissenschaft, Hamburg 1925, 90—91; Liebi a.a.O. 2007, 140—141)

Eine weitere indianische Überlieferung aus den präkolumbianischen Hochkulturen Mittelamerikas:

„Die Stufenpyramide von Cholula [Foto links, freigelegte Terrassen mit dem Vulkan Popocatepetl im Hintergrund] gilt mit ihrer Höhe von 60 m [tatsächlich 66+: Sie ist dem Volumen nach mit 4,45 Mio. Kubikmetern und einer Grundfläche von 450 x 450 m die größte CholulaPyramidPopocatepetl gemeinfreiPyramide der Welt] als das größte Bauwerk der neuen Welt. Die Indianer von Cholula sangen an ihren Festen beim Tanzen rund um den Turm herum das folgende Lied: ‚Nachdem die Wasser (der Sündfluth) abgelaufen waren, ging einer von den Riesen, genannt Xelhuaz der Baumeister, nach Cholollan [Cholula], wozu er zum Andenken an den Berg Tlalok, der ihm und seinen sechs Brüdern zum Zufluchtsort gedient hatte, einen künstlichen Hügel von pyramidischer Form aufführte. Die Ziegel dazu ließ er ... verfertigen [...] Die Götter sahen dies Gebäude, dessen Spitze die Wolken erreichen sollte, mit Unwillen und schleuderten, aufgebracht über Xelhuaz’s Kühnheit, Feuer auf die Pyramide. Viele Arbeiter kamen um, das Werk wurde nicht fortgesetzt, und man weihte es in der Folge dem Gotte der Luft Quetzalcoatl‘“ (Lüken, H.: Die Traditionen des Menschengeschlechts, Münster 21869, 319—320; Liebi a.a.O. 2007, 142—143).

Und noch eine vorgeschichtliche Sage aus demselben mittelamerikanischen Raum:

„Im südlichen Mexico, in Jucatan, [finden] wir die Sage von Botan, dem Wanderer und Stammvater der Chiapanesen. Botan soll danach beim Bau des großen Hauses gewesen sein, das auf Befehl seines Großvaters, der in der Arche gewesen, von der Erde bis zum Himmel hinauf habe reichen sollen. Er soll auch der erste Mensch gewesen sein, den Gott dahin sandte, die Länder der Indianer abzusondern und zu vertheilen. Ferner sei in jener Gegend, wo das große Haus erbaut, einem jeden Volke seine Sprache gegeben.“ (Lüken, H.: Die Traditionen des Menschengeschlechts, Münster 21869, 320; Liebi a.a.O. 2007, 143)

Aus dem Fernen Osten schließlich zwei exemplarische Berichte aus den angeführten Publikationen. Einmal dieser: „Van Gorcum, ein Holländer, der im 17. Jahrhundert während 12 Jahren in Korea gefangen gehalten worden war“ berichtet die Überlieferung in einer buddhistisch-schamanistischen Mönchssekte, „dass früher alle Menschen dieselbe Sprache gesprochen hätten, erst bei der Erbauung eines Thurmes, von wo sie in den Himmel steigen wollten, sei dieselbe in Verwirrung gerathen“ (Lüken, H.: Die Traditionen des Menschengeschlechts, Münster 21869, 316; Liebi a.a.O. 2007, 144). Und dann dieser Hinweis auf eine Überlieferung der Miao oder Miautso in China, welche früher große Teile Südchinas bevölkerten, später aber durch das chinesische Reich in die südwestlichen Gebirgsgegenden abgedrängt wurden:

„Die Miao-Stämme in den Bergen von Südwest-China besitzen eine Urgeschichte, die erstaunliche Parallelen mit Gen 1—11 aufweist. Diese Tradition wurde in poetischer Form durch Auswendiglernen von Generation zu Generation weitergegeben. Nachfolgend ... aus dem Abschnitt, der auf den Turmbau und die Sprachenverwirrung Bezug nimmt: ‚Lo-han zeugte Cusah und Mesay. Lo-shan zeugte Elan und Nga-shur. Ihre gezeugte Nachkommenschaft wurde zu Stämmen und Völkern. Ihre Nachkommen gründeten Niederlassungen und Städte [...] Ihr Sprechen vollzog sich mit denselben Wörtern und derselben Sprache. Da sagten sie: Lasst uns eine sehr große Stadt bauen. Lasst uns einen sehr hohen Turm bauen, bis zum Himmel. Dies war falsch, doch sie führten ihren Entscheid aus. Nicht recht war es, doch unbesonnen beharrten sie darauf. Da schlug sie Gott und änderte ihre Sprache und ihren Akzent. Herabgekommen im Zorn, verwirrte er Töne und Stimmen. Des Einen Sprechen hat keine Bedeutung für den andern, der ihn hört. Er spricht mit Worten, doch können sie ihn nicht verstehen. So wurde die Stadt, die sie bauten, nie vollendet. Der Turm, den sie machten, muss nun unvollendet dastehen. In Hoffnungslosigkeit trennen sie sich unter dem ganzen Himmel.“ (Liebi a.a.O. 145—146; Riem, J.: Die Sintflut in Sage und Wissenschaft, Hamburg 1925, 44—45; Truax, E. A.: Genesis according to the Miao People, Institute for Creation Research, Impact No 214 [Genesis According to the Miao People])

Ein ebenfalls in diese Richtung gehender Beleg aus Afrika ist

„die Tradition der Akwapim an der Golfküste ...: ‚Die Vorfahren der Akwapim wollten zu Gott Nyankupon hinauf und türmten dazu die Fufumörser aufeinander. Da einer fehlte, zogen sie den untersten hervor, – da fiel der ganze Turm zusammen. Nur durch die Flucht entkamen sie, und vor Schreck bildeten sie neue Sprachen; bis dahin hatte es nur eine gegeben.‘“ (Baumann, H.: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythos der afrikanischen Völker, Berlin 1936, 258; Liebi a.a.O. 2007, 147)

Ein weiteres Beispiel aus der indischen Kultur: Im Hinduismus Indiens sind die Sagen und Mythen der sog. Puranas (wörtlich: „[Erzählungen] aus alten Zeiten“) die maßgebliche Quelle zur Kosmologie und Vorgeschichte mit Genealogien von Königen und Vorvätern und einem Bericht über die Große Flut mit Archebau, Rettung eines Gerechten und seiner Angehörigen und Neubeginn der Menschheit. Belegte Anfänge der Puranas liegen ab 500 v. C. vor, die schriftliche Fassung erfolgte im 3.—5 Jh. n. C. mit Zusätzen bis in die frühe Neuzeit. Die älteste und bedeutendste Purana ist nun die Matsya Purana. Sie enthält — mythologisch — die Geschichte der ersten Inkarnation (Avatar) von Wischnu als Fisch (Matsya) und — historisch — den Bericht über eine weltweite Sintflut, den Bau einer Arche durch einen Gerechten Satyavrata [auch Satyavarman oder Manu = Entsprechung Noachs], und Rettung weniger Menschen als eines neuen Anfangs der Geschichte nach einer radikalen moralischen Verderbnis. Wischnu (Matsya) übergibt nach dieser Erzählung Satyavrata oder Manu die Veden nach der Flut als neue spirituelle und moralische Grundlage. Die Söhne Satyavratas heißen nun in dieser indischen Überlieferung Shem, Sham und Jyapeti. Zum Vergleich: In der Tora sind die Namen der Söhne Shem / Sem, Ham / Cham und Jafet / Japhet. Jyapeti besiedelte dieser indischen Quelle folgend nach der Flut die Gebiete nördlich des Himalaya, also in etwa die von Indoeuropäern ursprünglich besiedelte nördliche Hemisphäre. Eine Parallele hat diese Purana in dem monumentalen indischen Nationalepos Mahabharata, der indischen Ilias resp. dem indischen Nibelungenlied. Das Mahabharata ist 400 vor bis 400 nach Christus schriftlich aufgezeichnet worden. Die Rahmenhandlung beschreibt ein kriegerisches Drama, einen Bruderkrieg zweier verfeindeter Dynastien, möglicherweise aus der arischen Einwanderungszeit. In dieselbe sind geschichtstheologische und philosophische Meditationen eingebunden, so das bekannte Baghavadgita (Gesang Gottes), aber auch die Erzählung von Vaivasvata, wie die Entsprechung zu Noach hier lautet, und seiner Familie, welche von Wischnu beauftragt werden, ein Schiff zu bauen, da die Nachkommen von Adamis und Heva so verderbt seien, dass sie nicht mehr in Frieden nebeneinander leben könnten und deswegen in einer Flut umkommen würden, welche durch 40-tägige Regenfälle eingeleitet wurde. Vaivasvata sollte Vertreter aller Pflanzen- und Tierarten mit in das Schiff zu nehmen und so nach der Flut einen neuen Anfang ermöglichen.