- 1. Zum Begriff des Gesetzes (Tora, Pentateuch)
- 2. Zum Begriff des Messias
- 3. Zum Begriff Israels
- 3.1. Das Israel Gottes der messianischen Ära
- 3.2. Beta-Versionen des Neuen Testamentes
- 3.3. Das Schibboleth des Neokatholizismus
- 3.4. Bestbezeugtes Dogma: Mission der Juden
- 3.5. "Catholic Church is ... post-Messianic Judaism" (Shoeman)
- 3.6. Kontinuität zwischen Israel und der Kirche
- 3.7. Statistische Mehrheit der Juden ist christlich
- 3.8. Judenchristen Architekten der neuzeitlichen Weltkirche
- 3.9. Gesellschaft Jesu: Judenchristliche Urkirche 2.0
- 3.10. Genforschung zum Thema
- 4. Basis der Leitkultur der Gegenwart
- 5. Innerer Antagonismus der Leitkultur
- 5.1. Fallstudie: Antike Christenverfolgung
- 5.2. Fallstudie: Moderne Christenverfolgung
- 5.3. Diskussion von Shahak: Jewish History, Jewish Religion
- 5.4. Neokonservativismus: Nichtchristliche westliche Leitkultur
- 5.5. Notre charge Apostolique: Rückbau der Zivilisation
- 5.6. Diskussion von Atzmon: The Wandering Who?
- 6. Kognitive Dissonanz
- 7. Religionsphilosophische Analyse der Tora (Pentateuch)
- 7.1. Aufbau der Tora
- 7.2. Entstehung der Tora
- 7.3. Weltanschauung der Tora
- 7.4. Theologie der Tora
- 7.5. Schriftkultur der Tora
- 7.6. Kosmologie der Tora
- 7.7. Vorgeschichte in der Tora
- 7.8. Frühgeschichte in der Tora
- 7.9. Spätbronze-Eisenzeit I in der Tora: Exodus & Landnahme
- 7.10. Die Tora in Monarchie — Untergang — Wiederaufbau
Zum Begriff des Gesetzes (Tora, Pentateuch)
Abraham
Die Tora oder das Gesetz des Moses ist das Fundament des prophetischen Theismus. Es umfasst die fünf Bücher Genesis — Exodus — Levitikus — Numeri — Deuteronomium. Dazu in Folge mehr.
Hier zunächst nur der Hinweis, dass das zentrale Ereignis der Tora, um welches sich alle anderen Themen gruppieren, die Befreiung des von Abraham abstammenden Volkes Israel ist — aus Gewalt und Unterdrückung durch die erste Großmacht der Geschichte neben den vorderasiatischen Imperien, das Ägypten der Pharaonen. Nun ist die größte und globale Religion der Erde das Christentum. Dieses definiert sich als das aus dem Geist und Samen Abrahams stammende authentische "Israel Gottes" (Neues Testament, Galaterbrief 6, 16). Daher betrifft dieses Schlüsselereignis — wie die Tora überhaupt — die gesamte Weltbevölkerung. Es wird jedes Jahr in der Osternachtliturgie des Israel Gottes alias der katholischen Weltkirche des Ostens und Westens von Milliarden Menschen erinnert und vergegenwärtigt.
Abraham war Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. Bürger der sumerischen Zivilisation, des Motors der urbanen Revolution und damit der ersten städtischen Hochkultur der Geschichte auf der Basis der Erfindung von Schrift, Mathematik und Architektur. Abrahams Vaterstadt war Ur, nach aktuellen Hochrechnungen damals die größte Stadt der Welt mit 65.000 Einwohnern und Hauptstadt des Neusumerischen Reichs. Von Ur stammt u.a. auch der älteste bekannte Gesetzeskodex der Geschichte: Ur-Nammu aus der Epoche Abrahams, 400 Jahre vor dem bekannten Kodex Hammurabi. Abraham tritt in Erscheinung als Fortsetzer bzw. Wiederbegründer und inspirierter Sprecher (Prophet) des Monotheismus in einer ansonsten polytheistischen Umwelt. Nach der Tradition war eine erste Phase von Abrahams Denk- und Lebensweg der religiösen Reform seiner Mitbürger zum Monotheismus gewidmet, welche zu heftigen Auseinandersetzungen und Gegnerschaft führten. Die Überlieferung seiner späteren Berufung zum spirituellen Vater aller an einen Gott und Schöpfer Glaubenden (Theisten) nimmt einen großen Teil des Buches Genesis ein. [Bild oben: Marmorskulptur einer Frau aus Uruk / Sumer, ca. 3000 v. Chr.]
Moses
Die genannte Befreiung der Nachkommen Abrahams aus dem pharaonischen Imperium verwirklicht sich durch den weiteren theistischen Propheten (Sprecher) Moses als Beweis der "Herrschaft des einen Gottes. Juden glauben und bezeugen: Gott ist einzig und unteilbar. Er ist der Schöpfer der Welt, unsichtbar, transzendent und immanent. Gott schuf die Welt und erhält sie. Gott ist die Quelle der Ethik, Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit und erwartet, dass alle Menschen Gerechtigkeit und Wohltätigkeit untereinander üben" (Union progressiver Juden, 1. Grundsatz). Nach den kanonischen Schriften des christlichen Israel [siehe Menu Neues Testament] wird dieser Glaube und diese Ethik seit der Zeitenwende nur und genau von Juden dem Geiste nach (= Christen, vgl. Römerbrief 2) authentisch bezeugt und gelebt, weil "Gott nur in dem bleibt und nur der in Gott bleibt, der bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist" (1 Johannes 4,15; siehe in Folge).
Gottesbund und Gottesvolk
Ein unmittelbar folgendes Ereignis hängt damit zusammen, der Bundesschluss am Sinai: "Alle Juden sind miteinander durch den am Sinai eingegangenen Bund (berit) mit dem Ewigen verbunden. Gott ging mit unseren Vorfahren eine besondere Beziehung ein. Das jüdische Volk nahm mit der Tora am Sinai eine besondere Verpflichtung für alle Zeiten an: Zeugen des Ewigen, als Priestervolk ein Vorbild und nur so 'Licht der Völker' zu sein." (Union progressiver Juden, 2. Grundsatz) Nach der Überzeugung des christlichen Israel sind Träger dieses Bundes seit der Zeitenwende wiederum nur und genau Juden dem Geiste nach (= Christen, vgl. 1 Petrus 2), während jene Juden dem Fleische nach, "welche nicht glaubten, herausgebrochen wurden" (Römerbrief 11,20; siehe in Folge) und sich der Sphäre der dunklen Macht anschlossen (Johannesevangelium 7—11: Große Messianische Offenbarung).
Leitmotiv der Gerichts- und Endzeitrede Jesu in den Evangelien (Matthäus 24 und Parallelen) ist die Gleichung Nichtchristliches Jerusalem = Neues Babylon. Babylon gilt seit der Frühgeschichte als Inbegriff und Motor widergöttlicher, amoralischer Zivilisation: "Here … is the all-important change of roles. Jerusalem has become Babylon; Jesus and His disciples have become Jerusalem". So der führende Experte zum Thema N. T. Wright (St. Andrews): Jesus and the Victory of God. Christian Origins and the Question of God, Minneapolis 1997, 359. In der Apokalypse impliziert der Hinweis in den Versen "2, 9 und 3, 9 bezüglich derer ..., die 'behaupten Juden zu sein, es aber nicht sind' [...], daß die Christen die wahren Juden sind, die Vollendung der zwölf Stämme (7, 4—8; 21, 12), und daß, falls die Juden wirklich die Synagoge Jahwes (wie sie behaupten) und nicht 'die Synagoge Satans' wären, sie nicht 'mein geliebtes Volk' verleumden würden." So der Vordenker der angelsächsischen Exegese des 20. Jh. John A. T. Robinson: Wann entstand das Neue Testament?, Paderborn / Wuppertal 1986, 239.
Die Reden, Gesetze und Taten des Propheten Moses werden in den Büchern Exodus — Levitikus — Numeri — Deuteronomium sowohl geschichtlich wie theologisch und ethisch entfaltet, während das erste Buch Genesis den kosmologischen und religionsgeschichtlichen Hintergrund behandelt. Zentrum und Höhepunkt der Religion des prophetischen Theismus ist dementsprechend der Festritus, der diese zentralen Ereignisse zum Gegenstand hat: Paschah oder Ostern.
Soviel zur ersten Orientierung über das Selbstverständnis des prophetischen Theismus, ohne an dieser Stelle Fragen nach der Geschichtlichkeit und philosophischen und ethischen Wertung der zugrundeliegenden Überlieferung nahe zu treten. Die Erörterung dieser Fragen erfolgt zweckmäßigerweise in den entsprechenden Untermenus.
Zum Begriff des Messias
In diesem Zusammenhang hat im prophetischen Theismus der Begriff des Messias (hebr.: Moschiach, griech: Christos) resp. der messianischen Ära ausschlaggebende Bedeutung. Der Begriff des Messias bedeutet Prophet von definitiver religiöser Autorität und Verwirklicher des Reiches Gottes: "Moschiach ist das hebräische Wort für Messias [...] Einer der jüdischen Glaubenssätze ... besag[t], dass eines Tages ein ... ein direkter Abkömmling König Davids [als Messias] erscheint [...] Alle Völker der Erde werden den Moschiach als Weltführer anerkennen und seine Herrschaft akzeptieren. Kriege und Hungersnöte hören auf und stattdessen herrschen Frieden und Wohlstand in der Welt. Alle Menschen werden den einen Gott anbeten, spiritueller und moralischer leben [...] Das Kommen des Moschiach vervollständigt den Sinn der Schöpfung, d.h. dass die Menschen dem Ewigen eine Wohnstätte in unserer Welt schaffen und die Spiritualität der physischen Welt offenbaren werden." (Chabad.org: Schlüsselfragen des Judentums). [Abb. oben: Tel Dan-Stele (850 v. Chr. / Fund 1993/94) eines syrischen Herrschers mit der ältesten archäologischen Dokumentation König Davids (1008—964 v. Chr.) und des von ihm begründeten Herrscherhauses]
Das Verständnis und die Identität des Messias ist insbesondere für Unterschied und Gegnerschaft des christlichen Israel (Globale alias Katholische Kirche) und des nichtchristlichen Israel (talmudisches Judentum) verantwortlich. Das christliche [= wörtlich: messianische] Israel anerkennt Jesus von Nazareth als Messias: "Israeliten, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst — ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt [...] Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht" (Simon Bar Jona [Petrus] in Apostelgeschichte 2, 22—24). Gegenstand der Schriften des christlichen Israel (Neues Testament, v.a. Evangelien und Apostelbriefe) ist die geschichtliche und theologische Legitimierung dieses Anspruches.
Das nichtchristliche Israel lehnt diesen Messiasanspruch ab und die maßgeblichen Schriften des nichtchristlichen Israel (Talmud) behandeln den Gegenstand im gegensätzlichen Sinn. Wie die führenden Experten zum Thema Peter Schäfer (Princeton) und Israel Yuval (Hebräische Universität Jerusalem) unlängst gezeigt haben, formuliert "der Talmud, das Gründungsdokument des rabbinischen Judentums in der Spätantike" ein "Gegen-Evangelium zum Neuen Testament [...] daß er [= Jesus Nazarenus] den Tod verdiente, weil er ein Gotteslästerer war, daß er auf ewig in der Hölle sitzen wird, und daß jene, die seinem Beispiel bis in die Gegenwart folgen, nicht, wie er versprochen hat, das ewige Leben erwerben, sondern sein furchtbares Schicksal teilen werden." (Schäfer: Jesus im Talmud, Tübingen 2007, 1, 260 [engl.: Jesus in the Talmud, Princeton 2007] Dies ist Thema der weiteren Abschnitte dieses Untermenus.
Zum Begriff Israels
Das Israel Gottes der messianischen Ära
Wir haben oben die Unterscheidung christliches und nichtchristliches Israel eingeführt. Sie ist bereits für eine deskriptive und natürlich erst recht normative Religionsphilosophie des prophetischen Theismus zentral. Dies insofern, als das Selbstverständnis des Christentums nach Ausweis seiner Gründer, Schriften und Riten das des authentischen Israel, des "Israel Gottes" (Galater 6, 16) ist. Es hat nicht nur theologisch wie soziologisch einen genuin israelitischen Hintergrund, sondern versteht sich auch in genauer Fortsetzung des Sinaibundes als "auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein [= Gottes] besonderes Eigentum wurde." (1 Petrus 2, 9; Exodus 19, 5—6) So der erste Sprecher und Führer des Christentums, Simon Bar Jona (Petrus Apostolus). Modern gesprochen, vertritt er wie Paulus Apostolus (siehe in Folge) die sog. Substitutionstheorie: Es gibt seit der Zeitenwende für Juden und Nichtjuden nur den einen legitimen, von Jeremia und Ezechiel angesagten Neuen Bund, der den mosaischen Bund erfüllt und ablöst. Nur das christliche Israel, also die Globale oder Katholische Kirche ist das authentische Israel.
Vielen zeitgeistigen Theologen liegt dagegen kaum etwas mehr am Herzen als die These vom legitimen Weiterbestehen des mosaischen Bundes und damit von mosaischer und christlicher Religion als zwei gleichberechtigten Heilswegen (Dual-covenant-theology). Meistens wird dabei den Vertretern der mosaischen Religion (mit der Rede von den älteren Brüdern) sogar vorrangige Autorität eingeräumt, der man sich auch ausdrücklich oder faktisch unterstellt. Sichtbar wird dies daran, dass christliche Theologen die eigene Religionsgemeinschaft ohne Scheu kritisieren und ihrer eigenen Tradition gegenüber einen herablassendem resp. süffisantem Ton anschlagen — aber sich nicht den leisesten Anflug eines solchen Verhaltens jüdischen Repräsentanten oder der rabbinischen Tradition gegenüber erlauben.
Beta-Versionen des Neuen Testamentes
Nach genuin christlichem Verständnis sind dagegen (i) nur und genau die Patriarchen, Propheten und Gerechten des Alten Bundes die zudem (ii) lediglich historisch älteren, aber spirituell weit übertroffenen Brüder der Gottgesalbten (= Christen) des Gottesreiches des Neuen Bundes. Keinesfalls kann man so die Christus und seine Kirche ablehnenden und bekämpfenden Hebräer nach der Zeitenwende ansprechen. Dies umso weniger als das nachchristliche talmudische Judentum — was vor Kurzem Bendikt XVI ansprach, s.u. — auch die prophetischen Schriften des Alten Testamentes selbst relativiert oder ihnen direkt ablehnend gegenüber steht. Dies deswegen, weil die harte Kritik der Propheten an der versagenden Praxis der mosaischen Religion und die prophetische Vision eines Neuen Bundes praktisch Beta-Versionen des finalen Programms des Neuen Testamentes sind.
Dazu kommt eine analog motivierte 'politisch korrekte' Revision der Texte des Alten Testamentes: Der Direktor der Pariser Talmud-Akademie und designierte Großrabbiner von Frankreich Paul David Drach (1791—1868) ist bis heute wohl der kompetenteste gleichzeitige Experte zur jüdischen wie christlichen Bibelauslegung. Er verließ nach eigener Aussage "die Synagoge, um in die heilige und wirkliche Religion Israels einzutreten, die nur die katholische, apostolische und römische Religion sein kann" auch aufgrund "intensiver textkritischer und philologischer Forschungen zu den hebräischen, griechischen [Septuaginta], syrischen, lateinischen etc Textversionen der heiligen Schriften, da sie mich zur Überzeugung kommen ließen, dass das nachchristliche Judentum öfters den authentischen hebräischen Text verändert hat, um christliche Assoziationen auszuschalten" (Lettre d'un rabbin converti aux Israélites, ses frères, sur les motifs de sa conversion, Paris 1825, 1, 37—44).
Dass das nachchristliche Judentum eine vom Alten Testament abweichende Neudefinition erfahren hat, war ein theologisches Hauptthema seit der ersten Hälfte des 13. Jh. Damals wies der Spanier Nicholas Donin seine jüdischen Glaubensgenossen darauf hin, dass der Talmud als das maßgebliche Gründungsdokument des nach- und antichristlichen Israel im Widerspruch zur Tora des Moses stehe und namentlich in ethischer Hinsicht eine häretische Abweichung vom biblischen Mosaismus darstelle. Donin erregte emotionalen Aufruhr, wurde aus der Synagoge ausgestoßen, konvertierte zum christlichen Israel und wurde Theologe und Presbyter. Als er 1236 den Römischen Oberhirten Gregor IX. auf seine Beobachtungen hinwies, führte dies zu einer Hinterfragung des Talmud, den man bisher als genuine Auslegung der Tora angesehen hatte, und zu einer systematischen Neuevaluation der talmudischen Tradition durch zwei erstrangige judenchristliche Experten. Wir behandeln das Thema im E-Portal zum Neuen Testament weiter unter dem Titel: Nachchristliches talmudisches Judentum = Urprotestantismus.
Das Schibboleth des Neokatholizismus
Angesichts der Substitutionstheorie "verfallen" zeitgeisthörige Theologen dennoch regelmäßig "in Raserei" wie die "450 Propheten des Baal" auf dem Berg Karmel bei Elijas Worten: "Wie lange noch schwankt ihr nach zwei Seiten?" (1 Könige 18), womit sie freilich an der Sachlage so wenig ändern wie ihre Vorläufer des 9. Jh. v. C. In distinguierterer aber nichtsdestoweniger genauso viszeraler Form wird der Tabuisierung der Substitutionstheorie bis in die hierarchische Spitze der Römischen Kirche Ausdruck verliehen. Deren Ablehnung ist inzwischen das Grunddogma und Erkennungszeichen oder biblisch: Schibboleth des revolutionären Neokatholizismus seit dem Pontifikat Johannes XXIII (1958—1963).
Ein unmissverständlicher Beleg hierfür ist die Wiederzulassung der gesamten Römischen Liturgie der Tradition durch Benedikt XVI im Jahre 2007 — mit einer einzigen Ausnahme: Die während Jahrtausenden in allen Kulturen und auf allen Kontinenten am Karfreitag gesprochene große Fürbitte für die Mission und Erleuchtung der Juden blieb verboten und muss durch eine unverbindliche Formel ersetzt werden.
Die Rede vom Grunddogma ist hier natürlich wertneutral gemeint. Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass dieses neue Grunddogma diametral gegen das — abgesehen von der Existenz Gottes und der Idendität des Messias — bestbezeugte Dogma des Neuen Testamentes (aber auch des Alten Testamentes) steht. Es handelt sich also bei der Ablehnung der Mission der Juden um die neben der Gottesleugnung und der Ablehnung des Messias am häufigsten und deutlichsten verurteilte Häresie.
Die Bedeutung dieses wirklichen Grunddogmas des Neokatholizismus (aber auch des gesamten liberalen mainstream-Protestantismus) zeigt ferner eine aktuelle Debatte um den 2013 zurückgetretenen Bischof von Rom Benedikt XVI. Er publizierte 2018 einen Aufsatz mit dem Titel: 'Gnade und Berufung ohne Reue'. In: Communio 47 (2018), 387—406. Er drückte dort die Auffassung aus, dass die auch von ihm geteilte Ablehnung der Substitutionstheorie in der zeitgenössischen Theologie dennoch zu hemdsärmelig, unkritisch und undifferenziert erfolge. Selbst diese vorsichtige Mahnung erzeugte in der sogenannten nachkonziliaren Theologie und natürlich im säkularen mainstream solchen moralischen Aufruhr und Entrüstungsrituale, dass Benedikt XVI umgehend ein neuerliches öffentliches Glaubensbekenntnis zu dem neokatholischen Grunddogma ablegte. Und zwar in Form einer Richtigstellung mit dem Titel 'Nicht Mission, sondern Dialog'. In: Herder Korrespondenz 77 (2018), 13—14. Die Kernaussage ist: "Eine Mission der Juden ist nicht vorgesehen und nicht nötig."
Bestbezeugtes Dogma: Mission der Juden
Nun gibt es aber in der alt- und neutestamentlichen Bibel (abgesehen von der Existenz Gottes und der Person des Messias) keine Glaubenswahrheit und moralische Forderung, die öfter und nachdrücklicher von Gott geoffenbart wäre, als die Mission und Bekehrung der Juden zu dem neuen und definitiven messianischen Gottesbund: Das ist die grundlegende Ansage der Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Maleachi (Malachias). Das ist das zentrale Thema aller vier Evangelien, der Apostelgeschichte sowie des Römerbriefes und des Hebräerbriefes. Es gibt außer der Existenz Gottes kein Dogma und keine Norm der messianischen Ära des Christentums, die besser und unzweideutiger begründet sind. Was wiederum genauso unzweideutig zur Folge hat, dass die Bestreitung dieses zentralen Dogmas eine Häresie ist, egal wer sie äußert: "The problem with dual-covenant theology is that it completely contradicts the writings of the New Testament and the teachings of the church. Quite obviously, the New Testament claims that Jesus of Nazareth is the Messiah of Israel that God promised to the Jewish people through Moses and the prophets." (Ariel ben Ami: What is Dual-Covenat Theology? (www.hebrewcatholic net)
Benedikt XVI. Rechtfertigung für diese Irrlehre ist: "Eine Mission der Juden war einfach deshalb nicht vorgesehen und nicht nötig, weil sie allein unter allen Völkern den 'unbekannten Gott' kannten." (ebd.) Nun, das ist wiederum ein weiterer an hunderten Stellen der Propheten und Evangelien von Gott und seinem Messias verurteilter Irrtum. Primärer Inhalt des Wirkens Jesu Christi — in der Perspektive des christlichen Israel der Messias, Gottessohn und Herr — war die Mission der Juden. Genau diese Mission war vorgesehen in der Heilsökonomie Gottes, und zwar vorrangig. Der Grund ist nicht zuletzt, sondern zentral die Vermittlung und Erneuerung der Erkenntnis Gottes und des wahren Gottesbegriffes.
Denn bereits im Alten Testament ist das Leitmotiv der großen Schriftpropheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel die Gleichung Jerusalem = Sodom. Das will heißen, dass die große Mehrheit der Juden von Gott apostasiert war und ihn nicht kannte und anerkannte. Hauptthema des Propheten Ezechiel ist die Verwandlung Israels und Jerusalems in die große Hure, die in chronischem spirituellem Ehebruch gegenüber ihrem Eheherren JHWH lebt (Ezechiel 16).
Dass diese Entfremdung von Gott auch in späteren Jahrhunderten eine Konstante blieb, zeigt Flavius Josepus, der wichtigste Historiker des Judentums der Zeitenwende und Oberbefehlshaber Galiläas im Jüdischen Krieg 66—70 n. C. Bekannt ist diese Stelle seiner Geschichte des Jüdischen Krieges: "Wenn die Römer gezögert hätten, über dieses Geschlecht von Frevlern zu kommen, so hätte ein Erdbeben sie verschlungen, oder der sodomitische Feuer- und Schwefelregen hätte sie getroffen; denn dieses Geschlecht war gottloser als alle, die etwas dergleichen litten." (Buch 5, 13,6)
Im Neuen Testament bestreitet der Messias und Sohn Gottes an vielen Stellen den Satz Benedikt XVI. Vgl. die lapidare Feststellung in Johannes 7, 28: "Ihr [= jüdische Führer und Rabbiner] kennt ihn [= Gott] nicht." Und ebd. 8, 19: "Ihr [= jüdisches Establishment] kennt weder mich noch meinen Vater {= Gott]." Ferner ebd. 8, 42: "Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid." Und 8, 47: "Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben; denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen.".Außerdem ebd. 8, 54—55: "Ihr habt ihn nicht erkannt, von dem ihr sagt: Er ist unser Gott." Last but not least 1 Johannes 2, 23: "Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater."
"Catholic Church is ... post-Messianic Judaism" (Shoeman)
Die zeitlich und sachlich erste Mission des Christentums transportiert dieselbe Botschaft und zwar bereits geographisch. Diese prototypische Mission erfolgt in Jerusalem am Pfingstfest und richtet sich an die jüdische Bevölkerung der Stadt, von welcher Tausende Christen werden wollen und fragen: "Was sollen wir tun?" Die Antwort seitens des Hauptes und Sprechers der Apostel und späteren ersten Bischofs von Rom lautet: (Apostelgeschichte 2, 38): "Kehrt um und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung eurer Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen." Hier noch die Stellungnahme eines Betroffenen:
"The greatest misconception that Catholics [resp. Christians of all denominations] hold about Jews is the terrible, pernicious one that somehow Jews don’t need Jesus [...] It is tragic that, in the interest of 'dialogue' and a false ecumenism, this view is ... voiced [...] No one can know as well as a Jew who has entered the Church how deeply Jews need Jesus and the sacraments to satisfy the archetypical 'Jewish' thirst for God. The only way to understand the relationship between the two covenants is to see that Judaism is nothing other than pre-Messianic Catholicism, and that the Catholic Church is nothing other than post-Messianic Judaism. They are one and the same religion, separated only by the change in the nature of the relationship between God and Man that came about as a result of the central event in the history of the world, the incarnation of God as Man [...] Avoiding sharing the Gospel with Jews is one of the greatest possible disservices to Jesus [...] as well as one of the greatest possible acts of 'anti-Semitism' to the Jew, depriving him of his 'own' God, of the blessings and promises which were made first to the Jews and only after were bestowed on the rest of humanity." So der rabbinisch gebildete Dozent der Harvard Business School Roy H. Shoeman (Interview: Judaism fulfilled. In: IgnatiusInsight.com, 12.07.2004), der zur Römisch-katholischen Kirche konvertierte und viele Glaubensgenossen von der Logik dieses Schrittes überzeugt. Er hat darüber ein internationales Erfolgsbuch geschrieben: Salvation is from the Jews [dt.: Das Heil kommt von den Juden. Gottes Plan für sein Volk, Augsburg 2007]. Shoeman hängen noch manche Eierschalen aus seiner Sozialisation an, aber den Hauptpunkt bringt er völlig korrekt nach Hause..
Kontinuität zwischen Israel und der Kirche
Diese Sachlage noch einmal in den Worten der derzeitigen Standardeinführung zum Neuen Testament: "Ein zentrales Thema [der ...] Ekklesiologie [Kirchenlehre] [der Evangelien und der Apostelgeschichte ist] die Kontinuität zwischen Israel und der Kirche [...] Während der ungläubige Teil Israels Jesus ablehnt, werden die Heiden in das Heil aufgenommen (Apg 10 f) und so zu einem Teil des wahren Israel [...] Indem Jerusalem das Zeugnis der Zwölf [Apostel], der [judenchristlichen] Urgemeinde und des Paulus ablehnt, wird es vom Ort des Heils zu einem Ort des Unheils. [Der Verfasser der Apostelgeschichte] Lukas macht aber deutlich, dass Gott die Kirche als das wahre Israel nicht an Jerusalem gebunden hat. Er erschloss sich durch die Heidenmission selbst einen neuen Lebensraum, als dessen Repräsentant die Welthauptstadt Rom zu gelten hat [...] Angesichts des endgültigen Bruches mit Israel legitimiert Paulus die Kirche aus Heiden- und Judenchristen [...]: als tora- und tempeltreuer Jude [...] der Israels ureigenste Hoffnungen verkündigt.“ (Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, 6. Auflage Göttingen 2007, 296, 318)
Der zuletzt erwähnte, der pharisäischen Tradition entstammende Rabbiner Saulus von Tarsus (Paulus Apostolus) ist der maßgebliche Theologe des Christentums. Ursprünglich Leitfigur und Motor des Kampfes des nichtchristlichen gegen das christliche Israel ist seine spätere Überzeugung diese: "Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist [...] , sondern [...] im Herzen durch den Geist [...] Nicht alle, die aus Israel stammen, sind Israel; auch sind nicht alle, weil sie Nachkommen Abrahams sind, deshalb schon seine Kinder [...] Jesaja [10, 22f] ruft über Israel aus: Wenn auch die Israeliten so zahlreich wären, wie der Sand am Meer, - nur der Rest wird gerettet werden [...] Das bedeutet: Was Israel erstrebt, hat nicht das ganze Volk, sondern nur der erwählte Rest erlangt; die übrigen wurden verstockt [...] bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben, dann wird ganz Israel gerettet werden" (Römerbrief 2, 28f; 9, 6f, 27; 11, 7, 25f). [Bild oben: Paulus, Katakomben v. St. Thekla, Rom 380 n.C.]
Es wurde gesagt: Zentraler Ritus und Höhepunkt der Religion des prophetischen Theismus ist Paschah (Ostern). Der klassische Osternachtritus des christlichen Paschah ist daher zuerst geeignet, das Gesagte an der religiösen Praxis zu veranschaulichen. In der angesehensten, von Simon Bar Jona und Saulus von Tarsus begründeten Römischen Kirche, lauten die hier einschlägigen Texte: "Dies ist die Nacht, in welcher du einst unsere Väter, die Söhne Israels, aus Ägypten geführt und sie trockenen Fußes das Rote Meer durchschreiten ließest" (Hymnus Exultet). Die Oration nach der Toralesung des Auszuges aus Ägypten [Exodus 14) sagt: "Gott, dessen frühere Wundertaten wir auch in unseren Zeiten aufleuchten sehen [...] gewähre, dass die gesamte Welt zu Söhnen Abrahams werde und die Würde von Israeliten erhalte". Und die Oration nach der Toralesung zur Abschiedsrede des Moses mit dessen Niederschrift der Tora [Deuteronomium 31): "Gott, du wolltest durch deinen heiligen Knecht Moses ... dein Volk so unterrichten, dass jene Wiederholung der Tora auch unsere Richtschnur werde". Genauso der abschließende Hymnus: "Der Gott Israels [...] hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen [...] Er hat das Erbarmen mit den Vätern an uns vollendet und an seinen heiligen Bund gedacht, an den Eid, den er unserm Vater Abraham geschworen" (Benedictus, V. 1, 3, 5—6). Eine ausführliche aktuelle Darstellung zu dieser Kontinuität im Ganzen wie im Einzelnen ist L. Feingold: The Mystery of Israel and the Church, 3 vol., St. Louis 2008—2010.
Statistische Mehrheit der Juden ist christlich
Die Identifizierung der Begriffe authentischer Christ und wahrer Israelit ist dabei im Falle von Judenchristen analytisch und apriori. Judenchristen legen die Fundamente und stellen die Hierarchie der Ur- und Frühkirche, missionieren die Alte Welt und sind im spätantiken Palästina und überhaupt in den ersten Generationen des Christentums auch statistisch die Regel. Um Christi Geburt lebten fünf bis sechs Mio. Juden im Römischen Reich, wozu noch eine aus dem Heidentum stammende Anhängerschaft kam, die sich aus Proselyten und ‚Gottesfürchtigen‘ zusammensetzt (Apostelgeschichte 13, 43.50; 17, 4.17; vgl. Römerbrief 2, 19f). Aktuelle Schätzungen gehen dahin, dass zur Zeitenwende an 10—20 % der städtischen Bevölkerung des Römischen Imperiums den Monotheismus und die Ethik der alttestamentlichen Offenbarung teilten. Bis zum 8. Jh. hatten sich diese vielen Millionen Juden bis auf wenige Tausende alle dem christlichen Israel alias der Katholischen Kirche des Ostens und des Westens eingefügt.
Judenchristen Architekten der neuzeitlichen Weltkirche
Nach der fundamentalen Infragestellung und weiträumigen Zerstörung der Kirche der Tradition durch Reformation und Protestantismus sind Judenchristen neuerdings Architekten der v.a. von Spanien ausgehenden Gegenreformation und der neuzeitlichen römisch-katholischen Kirche: "Die schöpferische Geisteskraft der bekehrten spanischen Juden war angesichts der Reformation das prägende Modell für den Katholizismus und für dessen Widerstandskraft und Rückeroberungswillen" So der französische Historiker und Spanienexperte J. Dumont (L'Eglise au risque de l' histoire, Paris 1984, 357, vgl. 343—413; Übersetzung PN). Die Judenchristen, 10—20 % der Bevölkerung, dominieren so sehr den von Spanien inspirierten Katholizismus der Renaissance und des Barock, dass "man in dieser Epoche außerhalb Spaniens ohne Ende skandalisiert ist über die jüdische Allgegenwart in den spanischen Führungsschichten" (Dumont a.a.O. 356). Der Römische Generalinquisitor Guevara schreibt 1600, dass Spanier und spanische Kleriker europaweit als Juden wahrgenommen werden: "A Rome, comme en France, en Allemagne et dans le reste de l'Italie, on traite couramment les Espagnols de Juifs [...] Il faut dire que le clergé espagnol qui résidait à Rome fut longtemps, dans sa presque totalité, d'origine juive" (publ. Dumont 357). Auch der führende hugenottische Schriftsteller Languet schreibt 1581 (Apologie du prince d'Orange) über die erste globale Weltmacht Spanien und deren politisch-militärische wie kulturelle Hegemonie: "Die ganze Welt glaubt, dass die Mehrheit der Spanier ..., v.a. die adlige Führungsschicht, arabischer und jüdischer Herkunft sind" (Dumont 357).
Die Ordensstifter und Neubegründer des monastischen Lebens in der westlichen Welt, Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila sind Judenchristen; ebenso zahlreiche Bischöfe, Theologen und Reformer wie der Begründer des Menschen- und Völkerrechts F. de Vitoria, der führende Orientalist und Bibelwissenschaftler der Epoche, Arias Montano und die spirituelle und intellektuelle Leitfigur Johannes von Avila (Bild links, 1500—1569). Jahrzehntelanges Drängen jüdischer Konvertiten wie Alonso de Espina oder der in Parlament, Finanzwirtschaft und Bildungswesen tonangebenden judenchristlichen Milliardärsfamilie de la Caballeria führt zur Gründung des spanischen Verfassungsschutzes alias Inquisition, mit deren Organisation der jüdische Generalinquisitor Kardinal Tomás de Torquemada und der jüdische Staatssekretär Pérez de Almazán betraut werden. Die Minister und Staatssekretäre der Regierung bzw. der Kabinette von Ferdinand und Isabella, die die Inquisition einführten, waren mit großer Mehrheit ethnische Juden: "Es ist eine Tatsache, dass die hauptsächlichen ... judenkritischen Vorkämpfer [der Inquisition] selbst Ex-Juden waren" (H. Kamen: Histoire de l'inquisition espagnole, Paris 1966, 44 [2. Aufl. The Spanish Inquisition: A Historical Revision, Yale 1998]).
Am Rande: Henry Kamen und die anderen z.Zt. führenden Experten Jean-Pierre Dedieu und Agostino Borromeo überzeugten mich im persönlichen Gespräch anlässlich einer Fachtagung der Universität Madrid 1991 in El Escorial von einem völligen Paradigmenwechsel in der jüngsten Forschung, wonach jetzt feststehe, dass die Inquisition (i) in Spanien jede Form von Hexenwahn und -verfolgung unterband, (ii) konfessionelle Bürgerkriege wie in Frankreich, England und Deutschland (Dreißigjähriger Krieg) mit Millionen Opfern verhinderte, und (iii) Modell und Keimzelle moderner Rechtsprechung war: "The Spanish Inquisition was widely hailed as the best run, most humane court in Europe" (Thomas F. Madden, Director of Saint Louis University's Center for Medieval and Renaissance Studies: The Truth about the Spanish Inquisition.)
Judenchristen stellen die Mehrzahl der Berater und Kabinettsmitglieder des ebenfalls jüdischstämmigen spanischen Königs Ferdinand des Katholischen und seiner Nachfolger und sind Vizekönige von Sizilien, Mexiko und Peru. Sie bleiben auch im 17. Jh. das "Mark ... der spanischen Zivilisation" (Dumont 356), und mittelbar auch der katholischen Zivilisation des Heiligen Römischen Reiches und Deutschlands — durch die Personalunion (1519—1556) und dynastische Verbindung beider Reiche im Habsburgischen Kaiserhaus.
Gesellschaft Jesu: Judenchristliche Urkirche 2.0
Der Jesuitenorden als Träger der Gegenreformation und geistiger Führer des modernen Katholizismus sowie Taktgeber der Weltmission in Indien, China, Japan und Amerika, war ein Magnet für Judenchristen wie Diego Lainez (1512—1565), Jesuitengeneral und Cheftheologe des Trienter Konzils, und Francisco Suarez (1548—1617), der einflussreichste Metaphysiker, Rechtswissenschaftler und Theologe der Neuzeit. Seine intellektuelle Potenz zeugt eine neue Epoche und seine Exzellenz und Autorität formen konfessionsübergreifend ihre Geschlechter. Man kann sogar cum grano salis die Meinung vertreten, dass die Gesellschaft Jesu nach Herkunft und Charakter ein bzw. der judenchristliche Orden ist. Ausdrücklich gilt dies für die erste Phase von der Gründung 1540 bis 1593/1608. Vgl. Robert Aleksander Maryks: The Jesuit Order as a Synagogue of Jews: Jesuits of Jewish Ancestry and the Purity of Blood Laws in the Early Society of Jesus, Leiden 2010. Maryks dokumentiert, dass fünf der sieben Gründungsmitglieder einschließlich des Ordensstifters Ignatius von Loyolas und seines ersten Nachfolgers Lainez Judenchristen (conversos) waren. Judenchristen hatten im 16. Jh. praktisch alle administrativen und akademischen Schlüsselpositionen des Ordens inne. Einschlussweise gilt dies auch später, als ab 1608 Judenchristen die Aufnahme verwehrt wurde. Denn die Konstitutionen des Ordens, sein spirituelles Programm (Ignatianische Exerzitien) seine Studienordnung, sein globales strategisches Handeln prägen auch Mitgliedern aus anderen Ethnien dieses spezifische Profil auf. Dies gilt besonders für die Jahrhunderte bis zur Aufhebung 1773. Nach der Wiederbegründung 1814 spiegelt auch er die überall beobachtbare Abnahme und Verflüchtigung schöpferischer Kraft, sowie Selbstbewusstsein und Glanz — nach dem Traditionsbruch um 1800.
Ein Schwerpunkt des Apostolates Ignatius von Loyolas war die sehr erfolgreiche Konversion der Juden Roms und Italiens. In Rom lebten sie während des Katechumenates zusammen mit Ignatius im Mutterhaus der Jesuiten; Ignatius selbst führte sie in den Glauben ein und sorgte für ihre materielle Sicherung und soziale Integration. In Albano überzeugte Ignatius die gesamte jüdische Gemeinde der Stadt, dass die Kirche Gottes nach Vernunft, Schrift und Tradition das wahre Israel ist. Aber sehr nüchtern anerkannte er auch andererseits die Notwendigkeit des sozialen Schutzes und die Forderungen der nationalen Sicherheit der christlichen Nationen der messianischen Zivilisation — gegen den Zersetzungswillen und das Dominanzstreben des talmudischen Judentums. Er unterstützte energisch die diesbezüglichen Maßnahmen der Römischen Bischöfe in der Linie der Tradition.
Die Geschichte des Jesuitenordens zeigt auch pradigmatisch die spezifischen Gefahren, die sich aus dem jüdischen Profil ergeben können. Deren Aufdeckung, Kritik und Bekämpfung ist im Neuen Testament ein regelmäßiges Thema der Briefe des Apostels Paulus. Im Alten Testament ist Moses im Buch Deuteronomium (Kap. 1 und 8—10) Kronzeuge der moralischen Defizite seines chronisch rebellischen, materialistischen Volkes, und Leitmotiv der großen Schriftpropheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel ist die Gleichung Jerusalem = Sodom. Nach dem Tod der ersten drei durch Weisheit und Heiligkeit charismatischen Generaloberen ist man in der Gesellschaft Jesu in wachsendem Umfang, und zwar überall und fortdauernd, alarmiert über folgende Defizite der jüdischen Neuchristen: Neigung zur ethnischen Netzwerk- und Monopolbildung, Nepotismus, Arroganz, aggressiver Ehrgeiz, moralische Unaufrichtigkeit, wirtschaftliche und politische Vorlieben. Benedetto Palmivoso, Sekretär der Generaloberen St. Franz von Borja und Everard Mercurian, schreibt "von der großen Menge und Frechheit der spanischen [jüdischen] Neophyten", sodass in Rom und Spanien fast nur noch judenchristliche Bewerber angenommen werden und alle Oberen diesen ethnischen Hintergrund haben und "ein Leben in Frieden unmöglich ist, wo sich solche aufhalten" (Maryks a.a.O. 2010, 133).
Claudio Aquaviva, eine der menschlich beeindruckendsten und erfolgreichsten Führungspersönlichkeiten des 16. Jh., seit 1581 der Nachfolger Mercurians als Ordensgneral, bekämpfte diese bedenklichen Entwicklungen. Er vermisste in gravierendem Umfang Umsicht und unparteiische Gründlichkeit in der Prüfung der Kandidaten aus dem Milieu der Conversos (Maryks 2010, 146—147). Dennoch kam der Orden nicht zur Ruhe. Lorenzo Maggio, Mitglied des Generalhauses der Jesuiten in Rom, schrieb 1586 (in der Übersetzung Maryks'): "Those from the circumcision subverted the entire house of the Society. As sons of this world who are shrewd in dealing with their own, and avid of new things, they easily excite disorders and destroy the unity of souls and their bond with the government.” Zwischen 1593 und 1608 entwickelte sich daher um diese Existenzfrage eine intensive interne Debatte. Sie mündete in die pragmatische Entscheidung, angesichts der schlechten Erfahrungen keine Kandidaten dieses ethnischen Hintergrundes mehr aufzunehmen.
Im 20. Jh. wiederholte sich bis zu einem gewissen Grad diese paradoxe und vielschichtige Erfahrung der Gesellschaft Jesu des 16. Jh., wofür ich unmittelbarer Zeitzeuge bin. Und zwar wiederum in einer neugegründeten Reformbewegung bzw. Orden (FSSPX). Die von Erzbischof Marcel Lefebvre 1970 gegründete FSSPX hatte besondere Anziehungskraft auf nähere und entferntere judenchristliche Bewerber, die mehrheitlich eine überdurchschnittliche Dynamik einbrachten. Aber gleichzeitig hatte ich mich allein 1983—1991 während meiner Führungspositionen in der FSSPX mit drei oppositionellen oder wenn man so will, revolutionären Zellen zu befassen seitens Kollegen und Studenten dieses ethnischen Hintergrundes. Ferner mit der Gründung eines sich als Elitenetzwerk verstehenden Geheimbundes mit demselben Hintergrund (was mir erst später deutlich wurde). Und last but not least mit einer Parteibildung und Abspaltung von kirchenpolitischer Bedeutung. Mit Letzterer meine ich die Priesterbruderschaft St. Petrus (FSSP), für deren Identitätsbildung drei ausgesprochen konspirative Judenschristen von erheblicher Bedeutung waren. Zugegebenermaßen waren dies dramatische Jahre mit theologischen und kirchenpolitischen Herausforderungen, welche als existentielle Grenzerfahrungen erfahren wurden, und auch sonst und im Allgemeinen Diskussionen, Oppositionen und Kämpfe zeitigten. Dennoch gilt nach meiner Erfahrung, dass Juden Schwächen der Autoritäten anmaßend und ohne große Hemmungen und Rücksichten auf das grundständige Gemeinwohl angreifen, dass sie trotz vorhandener Führungsqualitäten tendenziell ein Defizit an ganzheitlicher Weisheit und Verantwortung aufweisen, und dass dieses Defizit nur durch Läuterung im Leiden und/oder eine Ein- und Unterordnung fordernde, straffe und überzeugende Autorität ausgeglichen wird.
Genforschung zum Thema
Auch im 19./20. Jh. haben sich Millionen Juden und ihre Nachfahren erfolgreich durch Taufe / Konversion und / oder Mischehe assimiliert. Hochgerechnet auf die gesamte Geschichte der letzten zwei Jahrtausende seit der Zeitenwende zählt also die weit überwältigende Mehrheit der Juden in Europa, Nahem Osten, Amerika und Australien zur Christenheit oder zum "Israel Gottes" (Galater 6, 16). Belegt wird dies nicht zuletzt durch die genetische Herkunft und Verwandtschaft von Europäern, Vorderasiaten und Juden: seit einem Jahrzehnt ein explodierendes Forschungsgebiet, v.a. seitens jüdischer Einrichtungen. Die bereits vorliegenden Ergebnisse bestätigen, dass ein beträchtlicher Prozentsatz der spanischen und ebenso sehr italienischen Nation ganz oder teilweise jüdischer Herkunft ist, aber auch der deutschen (10 %) und Schweizer (17 %) Bevölkerung. In absoluten Zahlen bedeutet das, dass alleine in Deutschland ca. 8 Millionen Christen jüdischer Herkunft sind und in Spanien ca. 4 Millionen Christen. Dasselbe gilt für den Balkan, Griechenland, Kleinasien und Syrien: „Schließlich waren zehn Prozent der Bevölkerung des byzantinischen Reiches Juden, ungefähr sechs Millionen, viele von ihnen Konvertiten“ (Genforscher Gil Atzmon auf Welt online, 31.08.10). Hochgerechnet auf die gesamte Geschichte der letzten zwei Jahrtausende seit der Zeitenwende ist mithin nur eine kleine Minderheit der Juden nicht christlich.
Die in Rede stehende Identifizierung der Begriffe authentischer Christ und wahrer Israelit gilt, so Paulus Apostolus, im Falle von Christen aus anderen Völkern ebenfalls, nur gewissermaßen — kantisch gesprochen — synthetisch und a posteriori. Im Bild: Diese werden "als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft" und erhalten "Anteil an der Kraft seiner Wurzel" (Römerbrief 11, 17). Dann aber gibt es keine Differenz mehr zwischen Gottessöhnen = Christen = Israeliten aus heidnischer Abstammung und Gottessöhnen = Christen = Israeliten aus hebräischer Abstammung: Beide sind Glieder gleicher Würde, Einsicht und Kraft in einem und demselben spirituellen Organismus, was Thema des Epheserbriefes im Neuen Testament ist. Diese Differenz bzw. dieser Gegensatz wird nach zwei Richtungen gegenstandslos. Einmal im Blick auf die Zukunft, wo die Propheten, v.a. Jeremias und Ezechiel, den alten mosaischen partikulären Gottesbund als gebrochen, gescheitert und beendet erklären und seine Ersetzung durch einen neuen messianischen universellen Gottesbund erklären, was Thema der Evangelien des Neuen Testamentes ist. Zum anderen im Blick auf den ursprünglichen archetypischen Gottesbund mit Abraham im Zeichen des vormosaischen Priestertums des frühgeschichtlichen Priesterkönigs Melchisedech. Dieser Bund ist fundamentaler als der spätere mosaische Bund und der neue messianische Bund knüpft ausdrücklich an diesen fundamentalen Bund an — mit einem neuen Priestertum nach der vormosaischen, universal menschheitlichen Ordnung des Melchisedech, was im Alten Testament Thema der Psalmen (v.a. Ps 104) und im Neuen Testament des Hebräerbriefes ist.
Soweit es sich daher um die Wurzeln des prophetischen Theismus handelt, also um Tora, Propheten und philosophische Schriften, hat zwar auch das christliche Israel die Anweisung (Matthäus 19, 17): "Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote [der Tora]!" Und Römerbrief 7, 12: "Das Gesetz [= die Tora] ist heilig ... gerecht und gut." Die sich hier ergebenden hermeneutischen Probleme betreffen insbesondere den Status der sogenannten Zeremonial- und Judizialgesetze der Tora, denen im Christentum (übrigens auch im Reformjudentum) eine universelle und überzeitliche Geltung abgesprochen wird. Aber noch fundamentaler ist die Anweisung der Propheten und Apostel an das nichtchristliche Israel, dieselben Wurzeln konsequent bis zur normativen Gründerfigur Abraham anzuerkennen inkl. des definitiven messianischen Priestertums nach der Ordnung des Melchisedech. Für die nähere geschichtliche und philosophische Analyse siehe dieses und die folgenden Untermenus: 'Tora' — 'Propheten' — 'Schriften'.
Basis der Leitkultur der Gegenwart
Nichtreligiöse Menschen könnten hier den Eindruck gewinnen, dass diese theologischen Themen für das reale Leben und die menschliche Gesellschaft keine Bedeutung besitzen und dazu Spitzfindigkeiten sind. Dem ist nicht so. Wieso? – Wir haben informell eingeführt, dass Abraham als spiritueller Vater des prophetischen Theismus gilt. Dessen kanonische Gründerschrift wiederum ist die Tora des Moses. Das erste Buch der Tora spricht nun Abrahams Person und Weg eine einzigartige und globale Wirkungsgeschichte zu: "Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen" (Genesis 12, 3). Oder: "Ich will dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand. Deine Nachkommen sollen das Tor ihrer Feinde einnehmen." (Genesis 22, 17; vgl. Genesis 13, 16, 15, 5)
Es ist unbestreitbar, dass diese Vorhersage Wirklichkeit geworden ist: Die Tora ist in der einen oder anderen Form Basis der globalen Leitkultur(en) der Gegenwart (s.u.). Gegenstand der Kontroverse ist nur die Frage nach der Ursache. Die spirituelle oder theologische Erklärung ist, dass die Erfüllung sich tatsächlich göttlicher Führung und Segensverheißung verdankt und so deren transzendenten Ursprung bestätigt. Die psychologische und soziobiologische Erklärung ist, dass der prophetische Theismus Abrahams überdurchschnittlich leistungsfähige Überlebensstrategien und überlegene kulturelle Gene (Meme) verkörpert, die in der kulturellen Evolution die anderen Mitbewerber deklassierten und deklassieren. Selbstverständlich kann auch die spirituelle Erklärung so verstanden werden, dass der Segenszuspruch die ultimative, letztendliche Ursache ist, welche jedoch die soziobiologischen Faktoren nicht ausschließt, sondern als nächste oder Mittelursachen einschließt. Letztere Deutung ist jene des prophetischen Theismus selbst, wie wir etwa am 5. Buch der Tora (Deuteronomium) sehen werden.
Doch zurück zu den Fakten: 75 % der aktuellen Weltbevölkerung von 6, 7 Mrd. Menschen (2008) anerkennen die Tora in religiöser oder säkularisierter Form als Grundlage ihres Denkens und Lebens. In unmittelbarer, religiöser Form gilt dies für 2, 2 Mrd. Gläubige des christlichen Israel sowie 1, 3 Mrd. Muslime, welche Abraham und die Tora ebenfalls als entfernte Glaubensgrundlage betrachten, und natürlich für 14 Mio Anhänger des nichtchristlichen Israel. Auch die beiden bisher nicht mit dem prophetischen Theismus in Verbindung stehenden Weltreligionen Hinduismus (850 Mio Anhänger) und Buddhismus (375 Mio Anhänger) unterliegen gegenwärtig dessen Gravitation. Der Dalai Lama, das Oberhaupt des tibetischen Vajrayana-Buddhismus und moralischer Sprecher des Buddhismus überhaupt, hatte 2004 den Vorsitz der Vereinten Religionen übernommen, also einer UNO der Religionen, welche der seinerzeitige israelitische Chefrabbiner Yona Metzger in Jerusalem plante. Last but not least soll die schon länger bestehende strategische Allianz zwischen Israel und Indien seit dem Jewish-Hindu Interfaith Summit (Februar 2007) um eine religiöse Allianz erweitert werden, für welche sich ebenfalls Metzger bis 2013 einsetzte, als er wegen Bestechlichkeit, Betrug und Geldwäsche beispiellosen Umfangs in Haft genommen wurde. Dass diese jüngsten Entwicklungen ansonsten mit Initiativen des nichtchristlichen Israel zusammenhängen, ist kein Zufall und spiegelt eine globale Tendenz, die in Folge zur Sprache kommt.
In mittelbarer, säkularisierter Form sind Konzepte und Inhalte des prophetischen Theismus schließlich auch richtungweisend für die marxistische Weltanschauung, die eine atheistische "Erlösungslehre" (Bochenski: Marxismus-Leninismus, München, 4. Aufl. 1975, 22), eine "Ideologie in Aktion [ist] ... in der Absicht, diese Ideologie samt ihren Konsequenzen der ganzen Menschheit aufzuzwingen" (ebd. 113—114). Moses Heß und Ernst Bloch evaluieren diese Erlösungslehre als „Sieg der jüdischen Mission“ (Das Prinzip Hoffnung II, Frankfurt 1959, 702), das Christliche Israel alias die Katholische Weltkirche hingegen als antichristliche Gegenkirche, insofern "der Kommunismus .... (nach seinem eigenen Geständnis) mit allen Mitteln bemüht ist, die christliche Religion und Kultur radikal zu zerstören und jede Erinnerung daran ... auszulöschen" (Pius XI: Rundschreiben Divini Redemptoris, 19.03.1937).
Wenn Erich Fromm sagt: „In der Sozialismusvorstellung von Marx kehren alle Elemente der messianischen Zeit wieder“ (Humanismus als reale Utopie, Weinheim 1992, 162), dann sind formale Parallelen zur Tora dabei diese: lineares Geschichtsdenken; Existenz eines auserwählten Volkes resp. Klasse; Vernichtung des repressiven Systems und Auszug (Exodus) in das verheißene Land der klassenlosen Gesellschaft; endzeitliche messianische Ära mit Schaffung des Paradieses der Werktätigen. Dies allerdings dergestalt, dass "gut und moralisch ... ist, was der Taktik der [Kommunistischen] Partei nützlich ist; böse und unmoralisch ... alles, was sie behindert" (Bochenski 1975, 26—27), wobei das "Recht als eine Waffe aufgefasst und ohne Rücksicht auf irgendeine Norm zur Vernichtung der Gegner der Partei gebraucht" wird und so "die Gestalt des Terrors" in historisch parallellosen Dimensionen annimmt (ebd. 125). Nach Steven Pinker fielen diesem Terror im sowjetischen Ostblock im Minimum 25 Millionen Menschen zum Opfer und im maoistischen China 65 Millionen Menschen (Pinker: The Blank Slate, New York 2002, 156). Diese Weltanschauung ist nach wie vor die offizielle für die 1, 3 Mrd. Bewohner der Volksrepublik China und Vietnams, auch wenn inzwischen das Christentum nirgends so dynamisch wächst wie in China mit geschätzten über 100 Millionen Bekennern.
In anderer Form gilt dies auch für die in westlichen Führungsschichten verbreitete freimaurerische Weltanschauung, welche — nach den sog. Anderson-Konstitutionen — ihre Mitglieder verpflichtet, die noachitischen Gebote (= in rabbinischer Sicht die Religion der nichtjüdischen Menschheit) zu beobachten, und welche die rituelle und ethische Sozialisation ihrer Anhänger bekanntlich als 'Tempelarbeit' bezeichnet, d.h. als sinnbildlichen Wiederaufbau des Tempel Salomos in der Nachfolge des alttestamentlichen Architekten Hiram. Auch hier liegt also ein Aufgreifen von Gestalten und Konzepten der Tora in säkularisierter, vom nichtchristlichen Israel inspirierter Form vor, deren "letztes Ziel" nach dem Urteil der Römischen Kirche des christlichen Israel ist, "die gesamte religiöse und sittliche Ordnung, die das Christentum eingeführt hat, von Grund aus zu zerstören und eine neue zu schaffen nach ihrem eigenen Plan" (Leo XIII: Rundschreiben Humanum genus, 20.04.1884).
Innerer Antagonismus der Leitkultur
Die prophetische Religion der Tora umfasst somit heute unmittelbar oder mittelbar die gesamte Weltbevölkerung, definiert — sei es in prochristlicher, sei es in antichristlicher Form — die globale Leitkultur und wirkt auf Innen- und Außenpolitik der meisten Staaten. Letzteres macht ein Blick auf die medial beherrschenden Themen des sog. Krieges gegen den Terror und des Nahostkonfliktes deutlich. Was aber noch stärker ins Auge springt, ist die Differenz und Konkurrenz zwischen christlichem und nichtchristlichem Israel innerhalb dieses religiösen Paradigmas.
Fallstudie: Antike Christenverfolgung
Der in Rede stehende Antagonismus innerhalb unserer Leitkultur ist dieser: (A) Anhänger des nichtchristlichen talmudischen Israel bestreiten per definitionem den messianischen Anspruch Jesu, weshalb sie in der Perspektive des christlichen Israel "von der Erwählung her gesehen von Gott geliebt", aber "vom Evangelium her Feinde Gottes sind", so Saulus von Tarsus (Römerbrief 11, 28). Derselbe judenchristliche "Lehrer der Völker" präziser: Sie haben "Jesus, den Herrn und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen [...] Dadurch machen sie unablässig das Maß ihrer Sünden voll." (1 Thessalonicher 2, 15—16) Vor seiner epochalen Bekehrung hatte Paulus selbst mit Autorisierung des jüdischen Hohen Rates ab 32 n. C. die systematische Christenvernichtung in Judäa, Syrien und dem Nahen Osten überhaupt organisiert (Ächtung — Inhaftierung/Folter — Hinrichtung), beginnend mit der illegalen Tötung des Diakons Stephanus (Apostelgeschichte 7; 22, 4): „Saulus versuchte die Kirche zu vernichten“ (ebd. 8, 3) und zwar durch „Terror und Mord“ (ebd. 9, 1). (B) Von der anderen Seite gilt diese theologische Infragestellung, Kritik und Abwehr der Position des nichtchristlichen Israel, insbesondere durch die Römische Kirche, dem nichtchristlichen Israel als Verkörperung und Ursache des Antisemitismus: "The Catholic Church ... harbored anti-Semitism at its core, as an integral part of its doctrine, its theology and its liturgy" (Goldhagen: A Moral Reckoning, NY 2003, 37). Allerdings liegt vorab auf der Hand, dass dies sachlicher Unsinn ist, insofern hier eine kleine, die Ideologie der Pharisäer fortsetzende Partei 90 % der Juden und ihrer Nachfahren moralisch beleidigt, welche katholische oder orthodoxe oder auch evangelische Christen wurden und sind.
Denn es wurde gezeigt: Hochgerechnet auf die gesamte Geschichte der letzten zwei Jahrtausende zählt die weit überwältigende Mehrheit der Juden in Europa, Nahem Osten, Amerika und Australien zum christlichen Israel, d.h. in letzter Instanz zur Katholischen Weltkirche. Diese judenchristliche Mehrheit hat das christliche Israel, also die Weltkirche des Neuen Bundes, begründet und stabilisiert — unter ständiger Lebensgefahr und mit zahllosen Martyrern. Dabei war nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte wie der erstrangigen — selbst später meist ermordeten — Kirchenväter Polykarp, Justinus, Origenes, Tertullian, Irenäus von Lyon und Cyprian von Karthago die nichtchristliche jüdische Partei gewöhnlich durch Verleumdungen und Hassreden Verursacher der weiträumigen und langanhaltenden Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte (vgl. R. Wilde: The Treatment of the Jews in the Greek Christian Writers of the First Three Centuries, Washington, DC, 1949). [Foto oben: Priester der syrisch-orthodoxen Kirche, deren Gottesdienst seit 2000 Jahren in der aramäischen Sprache der Jerusalemer Urkirche erfolgt: "Schon immer war sie eine Kirche, die unter Massakern und Verfolgungen gelebt hat ... und bis heute ... die meisten Martyrer in der Geschichte des Christentums hervorgebracht hat [...] Im Jahre 1915 erlitten die Syrer das schwerste Massaker in der Türkei, durch das ca. 75 % ihrer Gläubigen auf Grund ihres christlichen Glaubens umgebracht wurden." (Selbstdarstellung www.syrorthodoxchurch.com). Seit 2011/14 ist sie wiederum Feind Nr. 1 des IS im irakischen und syrischen Bürgerkrieg mit zahlreichen Martyrern, hunderten zerstörten Kirchen sowie hunderttausenden Vertriebenen, was Patriarch Ignatius Aphrem II am 12.06.2016 zu einem Appell an die Weltöffentlichkeit wegen "ethno-religiösen Völkermordes" veranlasste]
Fallstudie: Moderne Christenverfolgung
Das führende israelische Nachrichtenportal Ynetnews hat 2006 daran erinnert, dass dieselben Verhältnisse für die größten Christenverfolgungen der Moderne und der Geschichte überhaupt gelten – in und nach der Oktoberrevolution: "1917 ... Lenin signed a decree calling for the establishment of the [...] Cheka. Cheka became the largest und cruelest state security organization. Its organizational structure was changed every few years, as were its names: From Cheka to GPU, later to NKVD, and later to KGB. Cheka was responsible for [...] at least 20 million [deaths], including victims of the forced collectivization, the hunger, large purges, expulsions, banishments, executions, and mass death at Gulags [...] The greatest Jewish murderer of the 20th Century, the GPU's deputy commander and the founder and commander of the NKVD, [Genrikh] Yagoda [...] is responsible for the deaths of at least 10 million people. His Jewish deputies established and managed the Gulag system [...] In 1934, according to published statistics, 38.5 percent of those holding the most senior posts in the Soviet security apparatuses were of Jewish origin [...] In a fascinating lecture at a Tel Aviv University convention this week, Dr. Halfin described the waves of soviet terror as a 'carnival of mass murder,' [...] and 'essianism of evil' [... made by] Jews ... captivated by messianic ideology". (Sever Plocker: We mustn't forget, that some of greatest murderers of modern times were Jewish. In: Ynetnews, 21.12.2006) Nach einer 2003 veröffentlichten Statistik wurden alleine 96.000 Bischöfe, Priester und Mönche unter historisch beispiellosen Foltern ermordet und 44.413 Kirchen zerstört.
Eine monumentale monographische Aufbereitung hat das Thema jetzt erfahren bei Yuri Slezkine: The Jewish Century, 6. Aufl. Princeton University Press 2006. Slezkine ist Professor für Geschichte und Direktor des Institute of Slavic, East European, and Eurasian Studies an the University of California in Berkeley und das Buch erhielt den 2004 Award for Best Professional/Scholarly Book in Religion sowie den 2005 National Jewish Book Award. Slezkines Quintessenz erhellt aus dem Eingangssatz des Buches: "The modern age is the Jewish age, and the 20th century, in particular, is the Jewish century." Kapitel 3 veranschaulicht diese These am Sowjetkommunismus: Die Mehrheit der "leading communists who took control of Russia in 1917—1920 were Jews". Nichtchristliche Juden waren "the true believers" des Kommunismus (2006, 232) und "'saved the revolution'" (Lenins Wort, 27). Sie wurden "the backbone of the new Soviet burocracy" (224) und "Stalin's willing executioners" (103).
Diskussion von Shahak: Jewish History, Jewish Religion
international bekannteste jüdische Bürgerrechtler und Religionswissenschaftler und von 1970—1990 Vorsitzender der 'Israelischen Liga für Menschen- und Bürgerrechte' war der Jerusalemer Professor Israel Shahak. Sein bekanntestes Werk Jüdische Geschichte, Jüdische Religion, Neu Isenburg 2009 [engl.: Jewish History, Jewish Religion. The Weight of Three Thousand Years, London 1997] könnte man ebenfalls A Moral Reckoning nennen. Er hält die Einsicht für zentral, dass seitens des nichtchristlichen Israel sich ein besonders tiefer Hass gegen Christen richtet und zwar ununterbrochen seit den nicht zuletzt von jüdischer Seite herbeigeführten Christenverfolgungen der ersten drei Jahrhunderte (2009, 170). Dieser Hass ist verbunden mit großer Unwissenheit hinsichtlich des Gegenstandes des Hasses. So dürfen die Evangelien in den israelischen Schulen nicht zitiert oder studiert werden (2009, 171) und es ist talmudische Vorschrift und Vorgabe der political correctness, das Christentum der katholischen wie orthodoxen Tradition in Konversation, Medien und politischen Aktivitäten stets herunter zu setzen, zu schmähen, in offener wie sublimer Form lächerlich zu machen und zu bekämpfen (ebd. 171). Der Talmud enthält äußerste Blasphemien gegen Jesus und das Neue Testament (64) und in der jüdischen Mystik sind Nichtjuden Körperteile Satans (58). Dies gilt auch für die heute größte und einflussreichste Richtung des orthodoxen Judentums, Chabad (des sog. Lubbawitscher Rebbe), wie auch für den Chassidismus: Nichtjuden sind satanische Kreaturen (73). Es ist bekannt, dass die von Shahak als blasphemisch und antihuman qualifizierten Einstellungen seitens Jesus von Nazareths dieselbe Qualifikation und dieselbe sehr harte Kritik wie seitens Shahaks erfahren haben, insofern deren Vertreter "schließlich nicht als Kinder Abrahams (vgl. Joh. 8, 41—43. 45—47) oder Gottes (vgl. Joh 8, 41—43, 45—47), sondern als Söhne des Teufels bezeichnet werden (Joh 8, 44)." (U. Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, a.a.O. 2007, 512—513)
In politischer Perspektive ist Shahaks Anliegen zu zeigen: Der klassische Judaismus war stets in die priviligierten Klassen eingebettet bei völliger Ablehnung der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft (2009, 113). Die politische, religiöse und ökonomische Elite der christlichen und islamischen Nationen war immer auf Seiten der Juden in allen Verfolgungen, die stets Aufstände der Unterpriviligierten, Bauern und Proletarier waren. Es handelte sich um „Revolten der Unterdrückten und Unglücklichen der Erde“ nicht um willkürlichen irrationalen Antisemitismus (125).
Für Shahak ist die Quelle der Hassreden die Halacha, das Rechtssystem des Talmud, das vom 9. bis zum 18. Jh. für alle Juden absolut verbindlich war und heute für die stetig einflussreicheren orthodoxen Juden verbindlich ist. Normative Bearbeitungen der Halacha sind die Mischna Tora des Maimonides im 12. Jh.; der Schulchan Aruch des Josef Karo im 16. Jh.; die Mischna Berura im 20. Jh. und die Talmudische Enzyklopädie im 20. Jh. (139). Diese normativen Standardwerke enthalten u.a. folgende Bestimmungen (Quellenangaben a.a.O. bei Shahak), die Shahak den Schluss ziehen lassen, dass Befreiung und Erlösung für Juden „unerbittliche Kritik an der jüdischen Religion“ zur Voraussetzung haben (138): Es sollen nie positive Maßnahmen zur Rettung des Lebens eines Nichtjuden ergriffen werden (146) außer es würde dadurch Feindseligkeit gegen Juden entstehen. Es dürfen keine Geschenke an Nichtjuden gemacht werden (157—158), sondern es besteht die Verpflichtung zu Verachtung und Hass und Schmähung von Nichtjuden (162) bei gleichzeitiger Antisemitismus-Schmähung von diese Praxis kritisierenden Nichtjuden. So wurde in dem grundlegenden 18-Gebet in den 1960er Jahren die ausdrückliche Verfluchung der Christen wieder eingeführt, während gleichzeitig jüdische Interessengruppen erfolgreich die Revision der Karfreitagsfürbitte für die Bekehrung der Juden von der Römischen Kirche forderte (163).
Im einzelnen besteht die Verpflichtung zur Verfluchung jeder nichtjüdischen Menschenansammlung beim Vorübergehen (164) und der Fluch über Kirchen und Gotteshäuser und Wohnhäuser der Anhänger anderer Religionen beim Vorübergehen (164). Außerdem das Verbot jeden Lobes für Nichtjuden und deren Taten (164), das Gebot, sich von Nichtjuden fern zu halten und stets schlecht von ihrem Verhalten zu reden (168) und das Verbot, diese Diskrimierungen von Nichtjuden in Hörweite von Nichtjuden anzusprechen oder öffentlich zu erörtern. Bei vorkommenden Indiskretionen werde eine Politik der Verleugnung und Täuschung praktiziert, z.B. durch den Hinweis auf den hohen Stellenwert der Barmherzigkeit im jüdischen Glauben, ohne zu erwähnen, dass dies nur für Juden Geltung hat (168, vgl. William Popper: The Censorship of Hebrew Books, New York 1899). In Israel sind, so Shahak, dieser Hass und Grausamkeit Realität: In vielen Intensitätsgraden ist die Überzeugung verbreitet, dass Juden Nichtjuden unterdrücken müssen und die Sklaverei das natürliche Los der Nichtjuden ist (169). Talmudische Gesetzesfragen finden in den Medien und der Öffentlichkeit größeres Interesse als die Politik (175—176).
Dass dieser totalitäre Fundamentalismus im 21. Jh. wieder zur jüdischen Mehrheitsposition würde, hat Shahak besonders beschäftigt. Dies ist auch das Thema des vieldiskutierten Erfolgsbuches des Publizisten Sefi Rachlevsky mit dem Titel Der Esel des Messias (Hamoro shel ha-Massia’h, Tel Aviv 1998). In diesem Werk argumentiert er für die These, dass die kabbalistische Theologie von Rabbi Kook [Ideengeber des religiösen Zionismus, erster Großrabbiner Palästinas 1904—1935 und geistiger Vater der radikalen Siedlerbewegung Gusch Emunim] mit ihrer Mischung aus Messianismus, Hass auf die Nichtjuden (Goy) und Bereitschaft zum Terror zur vorherrschenden Ideologie der orthodoxen Juden wurde. Der bekannteste israelische Friedensaktivist und Parlamentsabgeordnete Uri Avnery nannte es „das wichtigste Buch“ der letzten Jahre und eine „Pflichtlektüre“. Rachlevsky exemplifizierte am 03.09.2014 in der größten israelischen Tageszeitung Ha‘aretz sein Anliegen in einem Artikel mit der Überschrift ‚Israel‘s educational neglect creates a racist ghetto‘. Darin sagt er:„Am 1. September ... begannen israelische Kinder ihr Schuljahr [...] Etwa die Hälfte der jüdischen Schulanfänger wurden in religiöse und ultraorthodoxe Schulen geschickt. In den meisten von ihnen drillen die Lehrer sie in solchen Talmudlehren wie: ‚Ihr heißt Menschen, aber die Völker der Welt werden nicht Menschen genannt‘.“
Die folgende Verknüpfung stellt die Fakten und Argumente Shahaks in Thesenform vor und fügt kurze Anmerkungen oder ausführlichere Diskussionen an. Mit der Materie vertraute Experten sehen unschwer, dass das Buch einerseits sehr konzentriert substantielle Information bietet, andererseits aber auch problematische bis direkt unhaltbare Anleihen bei einem säkularen resp. linksliberalen Zeitgeist macht. Viele weltanschauliche, kulturelle, rechtliche und politische Kritikpunkte Shahaks haben damit zu tun, dass das talmudische Judentum Einsichten und Normen, die im Kern und formal richtig sind, partikularistisch und totalitär verzerrt und überspitzt auf ein — nach humanistischen Kriterien wie auch im Licht der Bibel des Alten wie Neuen Testamentes — inhaltlich fehlgeleitetes Glaubenssystem anwendet. Unsere kritischen Anmerkungen haben zum Ziel, die nötigen Differenzierungen zu treffen und jeweils das eine vom anderen zu scheiden. Dies scheint uns umso wichtiger als das Werk Shahaks weltweit großes Echo gefunden hat.
Diskussion zu Shahak: Jüdische Geschichte, Jüdische Religion
Neokonservativismus: Nichtchristliche westliche Leitkultur
Die Epoche seit dem I. Weltkrieg und verstärkt seit dem II. Weltkrieg und der 68er Kulturrevolution ist nun speziell dadurch charakterisiert, dass die Tradition des nichtchristlichen Israel zur globalen Leitkultur wurde. Sein Glaube und seine Lebensform sowie seine theologischen, kulturellen und politischen Leitfiguren und Autoritätsträger erfahren seitdem in Religion, Bildung, Politik und öffentlicher Meinung der westlichen Welt jenen unbedingten Respekt und jene moralische Autorität und Immunität, welche bis zur Französischen Revolution bzw. abgeschwächt bis zum I. Weltkrieg dem Glauben und Ethos sowie den Repräsentanten und Symbolen des christlichen Israel entgegengebracht wurden.
Die Beobachtung gilt selbst für die nominell christlichen Kulturen Europas, Amerikas und Australiens. Der amerikanische Kongress erkannte offiziell die sog. noachitischen Gebote (= nach dem talmudischen Judentum die Religion der nichtjüdischen Menschheit unter rabbinischer Führung) in seiner Gesetzgebung an [Joint House Resolution 173, Presidential Proclamation 5956], die von beiden Häusern und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, George W. Bush, ratifiziert wurde: The "Congress recognizes ... these ethical values and principles ... known as the Seven Noahide Laws". Das Gesetz ergänzt den seit 1978/1991 von US-Kongress und Präsident eingeführten Tag der amerikanischen Bildung (Education Day USA), der jährlich am Geburtstag von Rabbi Menachem Mendel Schneerson (1902—1995) begangen wird, des Führers der größten jüdisch-orthodoxen Bewegung Chabad mit weltweit 3600 Niederlassungen [102nd Congress of the United States of America, March 5, 1991. Public Law 102-14]. Schneerson, den Chabad heute weithin als den Messias selbst verehrt (Chabad messianism), sah eine Lebensaufgabe darin, durch eine globale Noahide Campaign die nichtjüdische Menschheit auf das unmittelbar bevorstehende Kommen des jüdischen Messias vorzubereiten.
Parallel dazu wird die traditionelle christliche Mehrheitsreligion aus dem öffentlichen Raum verbannt einschließlich der Dechristianisierung oder Säkularisierung der dem christlichen Messias gewidmeten Feste Weihnachten (Fest der Liebe im Zeichen des Weihnachtsmanns), Ostern (Frühlingsfest) und Christi Himmelfahrt (Vatertag). Vgl. das liberaljüdische Netzportal Talk Reason zur Agenda orthodoxer Juden gegen Nichtjuden: Judaic sources on the attitude towards gentiles. Aber auch liberale Juden kommen vom säkularen Humanismus her zur selben Agenda: "It is natural, therefore for American Jews to be, not only accepting of secular-humanist doctrines, but enthousiastic exponents. That explains why American Jews are so vigilant about removing all the signs and symbols of traditional religions from 'the public square', so insistent that religion be mereley 'a private affair' so determined that separation of church and state be interpreted to mean the separation of all institutions from any signs of a connection with traditional religions". So der Begründer und 'godfather' des derzeit die Weltpolitik bestimmenden Neokonservativismus Irving Kristol (Neoconservativism: The Autobiography of an Idea, New York 1995, 449).
Den nicht- bzw. antichristlichen Neokonservativen I. Kristols wurde von dem praktizierenden Katholiken, aber politisch pragmatischen William F. Buckley jr. (1925—2008) seit den 1980er Jahren Anerkennung und Zusammenarbeit angeboten. Buckley war maßgeblicher Wortführer der traditionellen Konservativen der USA sowie Gründer und Chefredakteur des Leitmediums National Review. Die Neokonservativen übernahmen im amerikanischen Konservativismus in Folge die Meinungsführerschaft. Inzwischen haben die Konservativen der gesamten westlichen Welt — bis auf wenige paläokonservativ genannte Widerstandszentren — die neokonservative Ideologie der Neuen Weltordnung verinnerlicht und vertreten diese innen-, außen- und wirtschaftspolitisch, obwohl sie letztlich unbestreitbar gegen das authentische Christentum und den klassischen Konservativismus gerichtet ist. Sie wurden und werden mit einigen aus dem Zusammenhang gerissenen und in den Dienst des Zeitgeistes gestellten, mehr Gefühl und Phantasie als Vernunft und Wille ansprechenden christlichen Schlagworten manipuliert. Chestertons Orthodoxy (Mineola, New York 2004 [orig. London 1909]) bietet dazu eine klassische Analyse in Kapitel III, betitelt 'Der Selbstmord des Denkens / The Suicide Of Thought': "Charakteristisch für die Moderne", sagt er dort, "sind wildlaufende und vergeudete Tugenden. Wenn eine religiöse Architektur zerschmettert wird (wie die Christenheit der Tradition in der Reformation), werden nicht nur die Laster los- oder freigelassen, sondern auch die Tugenden. Und die Tugenden irren noch wirrer umher und richten noch größeren Schaden an": “The modern world is full of the old Christian virtues gone mad.” (2004, 22)
Notre charge Apostolique: Rückbau der Zivilisation
Dieser Selbstmord des Denkens ist auch Thema des Apostolischen Schreibens Notre charge apostolique Pius X. vom 25.08.1910 contra säkular-humanistische und pro christliche Gesellschafts- und Weltordnung [offizieller französischer Text AAS II [1910], 607—633. Dt. Übersetzung in A. Utz / B. v. Galen: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher (sozialer) Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Aachen 1976, 2402—2432]). Pius X. beschreibt die Lage seit der fortschreitenden Apostasie vom Christentum ab Mitte bis Ende des 18. Jh. als „Ab- und Rückbau der Zivilisation“, als „soziale und intellektuelle Anarchie“ in einem „inkonsistenten und impotenten Humanitarismus“ notorischer Versager und Tölpel: „Es gibt keine wahre Kultur ohne moralische Kultur und keine moralische Kultur ohne die wahre Religion; das ist eine bewiesene Wahrheit, ein historisches Faktum“. Es gehe nur darum, diese Einsicht und Erfahrung gegen die immer wiederkehrenden Angriffe „geisteskranker Träumer, Rebellen und Schurken“ energisch zu verteidigen. Dies besonders dann, "wenn Irrtum und das Böse in einer mitreißenden Sprache dargeboten werden, welche die Unklarheit der Ideen und die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke hinter emotionalem Aufruhr und wohlklingenden Worten verbirgt", die auch "Persönlichkeiten von hohem geistigem Rang [... und] idealistische junge Menschen bei fehlender Bildung und Selbsterkenntnis blendet":
„They dream of a Future City built on different principles, and they dare to proclaim these more fruitful and more beneficial than the principles upon which the present Christian City rests. No, Venerable Brethren[...] the City cannot be built otherwise than as God has built it [...] No, Venerable Brethren, there is no genuine fraternity outside Christian charity. Through the love of God and His Son Jesus Christ Our Saviour, Christian charity embraces all men, comforts all, and leads all to the same faith and same heavenly happiness.
By separating fraternity from Christian charity thus understood, Democracy, far from being a progress, would mean a disastrous step backwards for civilization. If, as We desire with all Our heart, the highest possible peak of well being for society and its members is to be attained through fraternity or, as it is also called, universal solidarity, all minds must be united in the knowledge of Truth, all wills united in morality, and all hearts in the love of God and His Son Jesus Christ. But this union is attainable only by Catholic charity, and that is why Catholic charity alone can lead the people in the march of progress towards the ideal civilization [...] True, Jesus has loved us with an immense, infinite love, and He came on earth to suffer and die so that, gathered around Him in justice and love, motivated by the same sentiments of mutual charity, all men might live in peace and happiness. But for the realization of this temporal and eternal happiness, He has laid down with supreme authority the condition that we must belong to His Flock, that we must accept His doctrine, that we must practice virtue [...]
Let them be convinced that the social question and social science did not arise only yesterday; that the Church and the State, at all times and in happy concert, have raised up fruitful organizations to this end; that the Church, which has never betrayed the happiness of the people by consenting to dubious alliances, does not have to free herself from the past; that all that is needed is to take up again, with the help of the true workers for a social restoration, the organisms which the Revolution shattered, and to adapt them, in the same Christian spirit that has inspired them, to the new environment arising from the material development of today’s society.“
Für eine ausführliche Diskussion dieser für die derzeitige westliche Mentalität sehr voraussetzungsreichen und herausfordernden theologischen Perspektive siehe das Menu Messianische Ära. Aber diese theologische Perspektive scheint auch allein eine Erklärung dafür zu haben, dass nicht nur die Konservativen, sondern, was viele vor den Kopf schlägt und fassungslos macht, auch die Linke und die Liberalen der westlichen Welt die neokonservative Ideologie bejahen und abweichende Stimmen zensurieren und ausschließen, obwohl sie praktisch alle ihre bisherigen Werte und Ziele demontiert. Dies scheint jene zu bestätigen, die die Linke nie anders denn als Frontorganisation, als Sturmgeschütz gegen das messianische Reich des Christentums gesehen haben, und zwar im Dienste eines alternativen antichristlichen messianischen Reiches. Mit der sukzessiven Machtergreifung des Letzteren seit 1968 wandelte sich die Linke sukzessive und völlig parallel zu einer staatstreuen und militarismus- und kapitalismusfrommen Bewegung, die kritische Stimmen des eigenen Lagers und basisdemokratische Initiativen mit geradezu faschistischen Methoden bekämpft. Es ist nachvollziehbar, wenn Kritiker in dieser Einheitsfront einen Staaten und Bevölkerungen einschüchternden, manipulierenden und zersetzenden Globalfaschismus sehen im Gleichschritt von Finanzoligarchie und Linksanarchie.
Diskussion von Atzmon: The Wandering Who?
Der globale Siegeszug dieses letztgenannten Neokonservativismus hat allerdings eine Debatte über die Qualität seines Weltbildes ausgelöst. Einer der bekanntesten Teilnehmer an dieser Debatte ist Gilad Atzmon [Foto links, Creative Commons 2.0), v.a. mit dem Buch: Der Wandernde — Wer? Eine Studie jüdischer Identitätspolitik, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2012 [engl.: The Wandering Who?, Winchester 2011]. Der 1963 in Tel Aviv geborene und heute in London lebende Autor ist einer der erfolgreichsten Jazzmusiker der Gegenwart (z.B. BBC Jazz Album of the Year in 2003). Der Musiker Atzmon ist aber auch ein ebenso bekannter Philosoph, Zeitanalytiker und Bürgerrechtler: Eine seiner Thesen wurde 2009 sogar zum Gesprächsthema zwischen dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem israelischen Präsidenten Shimon Peres. Das o.g. Buch wird von zahlreichen international führenden Völkerrechtlern, Historikern, Politikwissenschaftlern und Soziologen empfohlen, so von Prof. Richard Falk (Princeton) als ein würdiger „Gegenstand gründlichen Nachdenkens“ und von Prof. Francis A. Boyle (ehem. Vorstandsmitglied Amnesty International) als „exzellente Kritik ... aus humanistischer Perspektive“. Nach Atzmon ist heute eine verbreitete Resignation und Verzweiflung der jungen (und älteren) Israelis und damit Unerlöstheit zu beobachten (2012, 128—129). Es bestehe ein moralischer Bankrott, da narzisstische Angst ethisches Denken und Handeln verhindere (165). Die Dialektik von kritikloser Selbstliebe mit Überlegenheitsdünkel und Anderenhass treibe trotz historisch unerreichter Machtfülle in ausweglose Aporien (130), in unerlöste Lüge und Gewalt (166). Atzmon: „Ich bin der festen Überzeugung, dass Fragen und Probleme jüdischer Politik und jüdischer Identitätspolitik um des Weltfriedens willen frei und offen diskutiert werden müssen [...] Wir haben es hier mit einer sehr mächtigen politischen Ideologie zu tun, die ... globale Konflikte gigantischen Maßstabs befürwortet und entfacht“ (2012, 17—19).
Religionswissenschaftler und Theologen sehen sofort, dass das hier in Rede stehende Identitätsproblem ein theologisches Kernthema des prophetischen Theismus berührt, das auch uns in vorliegendem Abschnitt beschäftigt. Jenes nämlich, dass Juden über viele Jahrhunderte auf die metaphysische Bestimmung vorbereitet wurden, Priester, Könige, und intellektuelle Führer der Menschheit der messianischen Ära zu sein. Dieses Thema zieht sich als roter Faden durch den Pentateuch, die Psalmen, die alttestamentlichen Propheten und die neutestamentlichen Evangelien. Nun haben viele jüdische Theologen, Priester, Senatoren und Bürger vor 2000 Jahren Jesus Christus als Messias anerkannt und während der nächsten Jahrhunderte ist ihnen hierin die große Mehrheit der Juden gefolgt. Sie haben in der Antike die Alte Welt missioniert und die globale oder katholische Weltkirche aufgebaut. Sie haben in der frühen Neuzeit die Neue Welt missioniert und die Weltkirche reformiert (s.o.). Und in der Moderne des 19./20. Jh. war es wesentlich der von dem konvertierten elsässischen Rabbiner Franz-Maria Paul Libermann gegründete größte Missionsorden der Römischen Weltkirche (Spiritaner), der Schwarzafrika zu einem christlichen und katholischen Kontinent machte.
Diese metaphysische Bestimmung und Identität würde auch jeder orthodoxe Jude oder Rabbiner des nichtchristlichen Israel sofort unterschreiben — mit dem Unterschied, dass er Jesus Christus nicht als Messias anerkennt, sondern als Verführer bekämpft. Wenn Jesus Christus aber der Messias ist, dann verfehlt das nichtchristliche, talmudische Judentum natürlich fundamental seine Bestimmung und gerät in Widerspruch zu Gott, zu den Menschen und zur eigenen Identität, wie der gelernte Rabbiner, Organisator der Christenvernichtung und spätere Weltmissionar Paulus Apostolus im Römerbrief ausführt (s.o.). Die metaphysische Veranlagung und kulturelle Prägung zur weltanschaulichen und politischen Führung der Völker der Erde bleibt jedoch eine formale Konstante der jüdischen Identität, die immer wieder — natürlich primär gegen das Christentum gerichtete — revolutionäre Messianismen weltanschaulicher und politischer Couleur in Umlauf bringen kann. Dazu folgender Auszug aus der Programmschrift Integrales Judentum (Wien / Berlin / New York 1922) von Alfred Nossig (1864—1943), neben und gegen Herzl Vordenker und Organisator des Zionismus. Der Text ist formal und im Prinzipiellen völlig parallel zu der oben vorgestellten Programmschrift Pius X.: Notre charge Apostolique. Er zeigt daher einmal mehr den inneren Antagonismus der Leitkultur der Gegenwart zwischen dem christlichen Israel und dem gegenchristlichen Israel. Da für Nossig zweitrangig und unerheblich ist, ob Juden an Gott glauben oder nicht, zeigt er darüber hinaus, dass das tatsächliche Absolute für ihn der Genius seines von ihm rassisch definierten Volkes ist:
"Die jüdische Gemeinschaft ist ... die Trägerin einer welthistorischen, ja kosmischen Aufgabe [... die] sich stets und überall mit naturgesetzlichem Zwang ausleben muß." (Nossig: Integrales Judentum, a.a.O. 1922, 1) Diese Aufgabe ist verkörpert in der "Idee des Messianismus", die "höchste und kunstvollste aller politischen Konzeptionen" (ebd. 3). Ferner erschloss sich "Abraham und Moses ... eine Erkenntnis, auf der die modernste aller Wissenschaften, die Eugenetik fußt: daß man gewisse höhere Menschheitsziele nicht auf logischem, sondern auf biologischem Wege anstreben muß; daß man einen gewissen höheren Menschentypus nicht durch bloße Verbreitung von Ideen, nicht durch Überzeugung, sondern nur durch Zeugung schaffen kann. Aus seinem Geiste, aber auch aus seinen Lenden sollte der neue Träger des Bundes geboren werden. Ein Stamm, welcher nicht so sein sollte, wie die anderen Völker, welcher durch ein strenges Zuchtsystem, durch Wahrung der Blutreinheit, nicht nur zur Idee der Heiligung, sondern auch zu ihrer Verwirklichung emporgeführt werden sollte. Ein heiliges Volk und ein Reich von Priestern, der Stamm der Erlöser." (4) In einem Wort: "Vor uns dehnt sich eine gigantische Landschaft: es ist die aufgerollte Erdkugel. Das ist unser Weg." (26)
Der bekannteste revolutionäre Messianismus ist der Sozialismus / Kommunismus, nach Moses Heß und Ernst Bloch der „Sieg der jüdischen Mission“ (Das Prinzip Hoffnung II, Frankfurt 1959, 702). Auch für Nossig ist "das Heil der Judenheit ... das Programm des Weltsozialismus", dessen "gewaltigster Motor" es ist (a.a.O. 1922, 80, 77). Wir haben dies oben bereits angesprochen, ebenso wie Erich Fromms Diktum: „In der Sozialismusvorstellung von Marx kehren alle Elemente der messianischen Zeit wieder“ (Humanismus als reale Utopie, Weinheim 1992, 162). Für Franz Werfel sind Moses Heß, Karl Marx und Ferdinand Lasalle die „Kirchenväter des Sozialismus“ (Zwischen oben und unten, München 1975, 323—324).
Analoges gilt nach eigenen und jüdischen Selbstdarstellungen von der Freimaurerei. Der akademische, administrative und rituelle Organisator des US-amerikanischen Judentums, Rabbi Isaac Mayer Wise (1827–1900), "the most prominent Jew of his time in the United States" (Jewish Encyclopedia) und selbst Freimaurer, zum Thema: "Masonry is a Jewish institution, whose history, degrees, charges, passwords, and explanations are Jewish from the beginning to end, with exception of one by-degree and a few words in the obligation" (In: The Israelite, Vol II, 03.08.1855, 28). Wise's lapidare Definition ist: "Masonry was founded by Jews as a cosmopolitical institution" (ebd. 17.08.1855, 52).
Vom Standpunkt des christlichen messianischen Reiches sind dies problematische und widergöttliche Ersatzhandlungen: Der natürliche Ort von Juden ist nur und genau die hierarchische und theologische Führungsebene des christlichen Israel alias der globalen Katholischen Weltkirche und Zivilisation.
Der heute tonangebende Neokonservativismus ist nun ursprünglich eine von zahlreichen amerikanischen Denkfabriken vorgetragene politisch-wirtschaftliche Agenda jüdischer Ex-Sozialisten / Ex-Liberaler wie Irving Kristol, Donald und Robert Kagan, Paul Wolfowitz, Daniel Bell, nach dem Scheitern resp. der Abwicklung des sozialistischen Messianismus. Es geht wie bei der Weltrevolution der Kommunistischen Internationale um "eine neue Weltordnung ... die die Welt nach ihrem Bild formt" (Bill Kristol, Sprecher des Neokonservativismus), um "ein gigantisches historisches Experiment, das die Weltordnung diktieren wird" (Charles Krauthammer, Vordenker der US-Politik), wobei diese "neue Ordnung durch Krieg und Anwendung massiver Gewalt angestrebt und errichtet werden soll" (Thomas Friedman, Leitkolumnist NYT), so das einschlägige Sammelinterview von Ari Shavit: White Man's Burden. In Haaretz, 03.04.2003, Übersetzung PN. Atzmon sieht hier — unter vordergründig rechtem Vorzeichen — dieselbe Problematik am Werk wie in dem früheren Versuch unter offen linkem Vorzeichen. Das folgende Papier stellt Atzmons Studie vor. Da auch er wie Shahak problematische Anleihen bei einem säkularen resp. liberalen Zeitgeist macht, bringen wir die hier nötigen Differenzierungen an. Auf welcher eher humanistischen Ebene er sich der Religion nähert, zeigt sein Bekenntnis vom 15.02.2007: „I regard Jesus as a critical ethical awakening. For me Christ is [...] the birth of western universal humanism (as we know it).“
Diskussion zu Atzmon: Der wandernde - Wer?
Kognitive Dissonanz
Der Geist des Antichrists
Die geschilderten Entwicklungen haben in den nominell christlichen Kulturen Europas, Amerikas und Australiens zu einer Problematisierung und Revision der eigenen traditionellen Identität qua christliches Israel geführt. In letzter Instanz wird immer häufiger der messianische Unbedingtheitsanspruch Jesus Nazarenus' und der christlichen Gründungsschriften als problematisch eingestuft, weil er die theologische Position des nichtchristlichen Israel delegitimiert. Auf Seiten des christlichen Israel ist daher oft und seit längerem eine kohärente Identität nicht greifbar, welche mit dem zweifellos herausfordernden Axiom steht und fällt: "Jeder Geist, der Jesus nicht [als Messias] bekennt, ist nicht aus Gott", sondern der "Geist des Antichrists" (1 Johannes 4, 3).
Das Erscheinungsbild und Verhalten des Christentums, von der Basis bis zu den Führungsspitzen, legt täglich und überall nahe, dass man theoretisch und praktisch den Todfeinden Jesu Christi mehr glaubt und vertraut als dem Messias und der normativen Autorität des christlichen Glaubenssystems. Dass (i) die Tora des Neuen Bundes alias die Heiligen Evangelien, (ii) die Briefe des neutestamentlichen Theologen und Völkerapostels Paulus und der einhellige Konsens (iii) der Väter der Kirche als auch (iv) der Weisen und Gerechten zweier Jahrtausende vor denselben warnen als "Feinden Gottes" und "Feinden aller Menschen", wird aus dem Bewusstsein verdrängt. Die kognitive Dissonanz des eigenen Glaubenssystems zum Zeitgeist und den Forderungen politischer Korrektheit wird als unerträglich empfunden: "Kognitive Dissonanz entsteht immer dann, wenn mindestens zwei verschiedene kognitive Inhalte, die wir erleben (z. B. Gedanken, Überzeugungen, Einstellungen, Wahrnehmung eigener Verhaltensweisen) nicht oder nur schwer miteinander vereinbar sind. In anderen Worten: Dissonanz entsteht immer dann, wenn eine bestimmte Kognition das genaue Gegenteil einer anderen Kognition impliziert." (P. Fischer et al.: Sozialpsychologie für Bachelor, Berlin / Heidelberg 2013, 16)
Damit ist die umfangmäßig größte und wichtigste Weltreligion zwar fraglos das Christentum oder christliche Israel mit 2, 2 Mrd. Gläubigen. Insbesondere die Römische Kirche zählt alleine 1, 1 Mrd. Bekenner. Dieser beeindruckenden Quantität steht aber — qualitativ — eine relative Bedeutungslosigkeit nach außen gegenüber. Phänomenologisch erscheinen die entsprechenden Bekenntnisse v.a. im westlichen Kulturkreis oft als desorientierte und schwächliche Sozialsysteme.
"Unerbittlicher Krieg" (Gregor XVI) und Helotisierung
Wir hatten im Menu Atheismusdebatte bereits darauf hingewiesen, dass dies besonders klassisch im Falle der größten und angesehensten (Römischen) Kirche ins Relief tritt. Nach dem nicht unzutreffenden Urteil Gregor XVI. ist seit dem Rationalismus / Josephinismus der zweiten Hälfte des 18. Jh., seit der französischen Revolution 1789 resp. seit deutschen Säkularisation 1803/1806 ein „schrecklicher und unerbittlicher Krieg“ gegen das christliche Israel im Gange (Rundschreiben Mirari vos vom 15.08.1832. In: E. Marmy: Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg/Schweiz 1945, 16—17). Aus andernorts, im Menu 'Messianische Ära', zu erörternden Gründen reagierte man hierauf einerseits – psychologisch verständlich, aber suboptimal – seit dem 19. Jh. mit Autoritarismus (Klerikalismus) und Traditionalismus, was tendenziell zur Verzerrung der sittlichen Handlungsgemeinschaft und sittlichen Eigenverantwortung und zu einem autoritär überzogenen Gehorsamsbegriff führte. Mindestens ist das das Urteil weiser und gerechter Männer und Frauen, die sich zugleich durch eine integrale, selbstbewusste Glaubensüberzeugung auszeichen.
Dagegen entwickelte sich auf der anderen Seite seit dem Beginn des 19. Jh. und verstärkt seit 1850 der liberale Katholizismus und Modernismus, der in einem tendenziell unkritischen, gefühlsmäßig geprägten Fortschrittsglauben den Bannkreis der modernen liberalen Kultur suchte. Letztere Einstellung setzte sich trotz vehementer lehramtlicher Verurteilung durch und wurde seit dem II. Vatikanischen Konzil (1962—1965) vorherrschend. Sie führte zu einer tiefgreifenden, revolutionären Mutation der Römischen Kirche mit starker Abwehr und Kriminalisierung der traditionellen Identität zugunsten einer evolutionär-subjektivistischen und interreligiösen Weltanschauung. Vgl. das bekannte Wort des führenden französischen Konzilstheologen Yves Congar: "Die Kirche hat friedlich ihre Oktoberrevolution gemacht" (Congar: Le Concile au jour le jour. Deuxieme session, Paris 1964, 215). Oder ein anderes bekanntes Wort des französischen Hochgradfreimaurers Yves Marsaudon zum II. Vatikanischen Konzil: "Man kann jetzt und hier von einer Revolution ... sprechen, die ihren Ausgang von unseren freimaurerischen Logen nahm und sich in wunderbarer Weise über die Kuppel von St. Peter ausgebreitet hat" (L'Oecuménisme vu par un franc‑macon de tradition, Paris 1964, 121). Und ein drittes bekanntes Wort der in den letzten zwei Jahrzehnten als Präfekt der Glaubenskongregation und Papst wichtigsten Persönlichkeit der Römischen Kirche: „Das Zweite Vatikanische Konzil behandelt man ... als Ende der Tradition und so, als fange man ganz bei Null an [...] Was früher als das Heiligste galt — die überlieferte Form der Liturgie — scheint plötzlich als das Verbotenste und das Einzige, was man mit Sicherheit ablehnen muss […] Das führt bei vielen Menschen dazu, dass sie sich fragen, ob die Kirche von heute wirklich noch die gleiche ist wie gestern, oder ob man sie nicht ohne Warnung gegen eine andere ausgetauscht hat.“ (Joseph Kardinal Ratzinger, Rede vor den Bischöfen von Chile vom 13.07.1988. In: Der Fels 12/1988, 343)
Wir werden im Menu Theologie darauf zurückkommen, dass Marsaudons und Ratzingers Worte nicht nur bildlich zu nehmen sind, sondern dass den Feinden der Kirche mit der Papstwahl Johannes XXIII 1958 ein bis heute andauernder Enthauptungsschlag gegen die römisch-katholische Kirche gelungen ist. Das erklärt unter anderem den so radikalen und schnellen Umsturz. Das Ziel der ideologischen Infiltration und politischen Machtergreifung in der Römischen Kirche war seit den 1860er Jahren für jedermann ein offenes Geheimnis bzw. gar kein Geheimnis, da es von Freund und Feind in vielerlei Zusammenhängen immer wieder ganz offen, ja offiziell ausgesprochen wurde. Speziell die liberale und linke französische und italienische Politik, Kultur und Presse war von dieser Idee und Agenda völlig eingenommen. Ebenso unabsehbar ist im 19. Jh. die Flut jüdischer Zeitungsartikel, Zeitschriftenaufsätze, Bücher, Aktionsgruppen und Allianzen zugunsten der Abschaffung und Ersetzung der messianischen christlichen Zivilisation durch eine nicht- bzw. antichristliche Weltordnung und kosmopolitische Religion unter rabbinischer Führung.
Eine sehr umfassende Dokumentation hierzu ist Henri Delassus: La Conjuration antichrétienne. Le temple maçonnique voulant s‘éléver sur les ruines de l’Eglise catholique, Lille 1910 [repr. 2016, 2018 (2)]. Papst Pius X. benutzte die von ihm sehr geschätzte und empfohlene Studie des nordfranzösischen Theologen und Publizisten selbst als Referenzwerk. Es handelt sich bei dieser Agenda, wie Delassus an hunderten Belegen aus allen Gebieten zeigt, nicht allein um eine ideologische Infiltrierung und Machtübernahme, sondern auch um die diplomatische und politische Kontrolle der Besetzung des Apostolischen Stuhles in Rom durch Kandidaten im Dienst der nichtchristlichen, synkretistischen neuen Weltordnung. Dieser vorübergehende Enthauptungsschlag gegen die Hierarchie der Kirche war und ist im Übrigen — als eine in der Zukunft zu erwartende apokalytische Grenzerfahrung — Thema zahlreicher biblischer und prophetischer Texte vom 1. Jh. bis heute.
Die daraus resultierende modernistische oder progressistische Mutation halte ich für eine intellektuelle und moralische Fehlhaltung und Seifenblase. Bereits ab Mitte der 70er Jahre des 20. Jh. waren das Resultat erhebliche Symptome neurotischer Depression, also: Ich-Hemmung, Absinken der Selbstachtung und Hilflosigkeit, verbunden mit gesellschaftlicher Helotisierung. Ich glaube, dass das II. Vatikanische Konzil allenfalls unfreiwillig verdrängte Fragen und Mängel offenbart hat, ohne diese überzeugend beantwortet zu haben. Offizielle Stellungnahmen im eher traditionellen Sinn verstärken nur noch den Eindruck einer tiefgehenden Ambiguität und Desorientierung und zielen nicht auf eine hier eigentlich geforderte unabhängige Analyse und Evaluation der Ursachen in einem vom Zeitgeist unbeeindruckten akribischen historischen, psychologischen, ethischen und theologischen Forschungsprogramm. Siehe dazu ausführlicher das Menu 'Messianische Ära'.
Positionspapier 2005
Im Zusammenhang meines Engagements an der Universität Trier bat mich im Sommer 2005 Professor Peter Welsen, Geschäftsführender Leiter des Fachbereiches I – Philosophie, um meine derzeitige Einschätzung der Position der Fraternité Sacerdotale St. Pie X (FSSPX), in welcher ich leitende Funktionen innehatte. Dieses Papier ist geeignet, das im Vorhergehenden Gesagte an theologischen Debatten und bekannten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte zu veranschaulichen, und meinen persönlichen Standpunkt deutlich zu machen. Ich rücke es daher trotz des sehr kämpferischen und leidenschaftlichen Tons hier ein. Dieser verdankt sich damals frischen und existentiellen Fronten und Konflikten, die ansonsten auf diesem Netzportal in abgeklärterer Distanz zur Sprache kommen.
Auch hat das Papier inzwischen in vielem nur noch historischen Wert, da die Dinge sich auf allen Seiten weiter entwickelt haben. So wäre es heute schlicht falsch, die FSSPX mit einem atmosphärischen Fundamentalismus zu assoziieren. Zentral geworden ist seit langem im Gegenteil die Begründung und Bewahrung der Identität angesichts eines angestrebten rechtlichen, politischen und theologischen Modus vivendi in und mit dem iberalen Hauptstrom der Kirche.
Noch eine missverständliche Stelle sollte verdeutlicht werden. Sie spricht von der "Dissoziation von Vernunft und Glauben, Moral und Glauben, und überhaupt Lebenswelt und Glauben, die für das spätmittelalterliche und neuzeitliche Christentum einschließlich des vorkonziliaren Katholizismus charakteristisch sind." Quellenstudien zeigten erstens, dass das in Rede stehende Phänomen das spätmittelalterliche Christentum nicht betrifft (siehe das Menu 'Messianische Ära' im Abschnitt SRI: Der zivilisatorische Standard der Welt). Auch den vorkonziliaren Katholizismus betrifft es erst (i) seit der politischen Opferung seiner intellektuellen Elite in der 1773 erfolgten Aufhebung der Gesellschaft Jesu. Und (ii) seit der inneren Apostasie und äußeren Unterdrückung der christlichen Institutionen in Säkularisation und Europäischer Revolution 1789—1814. Vorher, bis ca. 1760, waren die christlichen Institutionen weltweit die theologisch-politische Avantgarde und wissenschaftlich-technische Leitkultur in Mathematik, Astronomie, Architektur und Kunst wie in Erkenntnistheorie, Ontologie, Staatstheorie und Völkerrecht. Außerdem (iii) blieb das Phänomen hier stets ein atmosphärisches, kein lehrmäßiges. Wohl aber betrifft die Dissoziation von Vernunft resp. Moral und Glauben die neuzeitlichen protestantischen Bekenntnisse, und zwar lebensweltlich wie offiziell als deren lehrmäßiger Kern.
Meine Auffassung ist, dass Glaube und Religion seit 200 Jahren zwischen Liberalismus, Subjektivismus, Agnostizismus einerseits und Autoritarismus, Traditionalismus, Fundamentalismus andererseits oszillieren. Näherhin und in der Römischen Kirche steht das Erstere tendenziell für die Geisteshaltung des II. Vatikanischen Konzils und der nachkonziliaren Ära. Letzteres ist tendenziell die Geisteshaltung des vorkonziliaren Konservativismus der letzten Jahrhunderte, dessen Mängel und implizit problematische Handlungsmaximen, nach vielen ernsthaften Beobachtern, die traditionsfeindliche Desorientierung der Römischen Theologie und Hierarchie seit dem II. Vatikanischen Konzil begünstigt und erzeugt haben.
In der Formulierung eines der bekanntesten Vordenker des traditionsorientierten Widerstandes gegen liturgische und sonstige Fehlentwicklungen seit dem II. Vatikanum, des Linguisten und Historikers Geoffrey Hull: The Banished Heart. Origins of Heteropraxis in the Catholic Church [T&T Clark Studies in Fundamental Liturgy], London 22010: „The present mainstream Catholic Church, with its modernistic and secular aura, grew directly from the official conservativism [...] of the pre-conciliar order, which, from the sixteenth century, placed the Roman Church in a position of implicit and frequently overt antagonism to the popular and cultural bases of Catholicism itself.“ (a.a.O. Einleitung) Das ist m.E. wie im Vorhergehenden ausgeführt, zu pauschal, spricht aber den auch uns beschäftigenden Punkt an.
Nach den Maßstäben des prophetischen Theismus sind beides moralische Fehlhaltungen und religiöse Abwege. Beides ist vernunft- und lebensfeindlich. Die Mission der Religion liegt jenseits dieser Lagerbildungen. Wie diese im Einzelnen aussieht, ist genau Gegenstand der Analysen des E-Portals Religionsphilosophie.
Dabei ist nicht die Existenz und Funktion von Autorität als solcher das Problem, sondern gerade der Mangel an intellektueller, spiritueller und sozialer Autorität. Das Problem liegt nicht in der psychologisch, soziologisch und theologisch absolut grundlegenden Ein- und Unterordnung unter eine rechtliche und spirituelle Autorität (= Hierarchie), sondern darin, dass Letztere seit ca. 1800 sukzessive die intellektuelle, existentielle und politische Überlegenheit, Führungsrolle und Überzeugungskraft und damit die von ihr zu fordernde spezifische Kompetenz und Leistung verlor.
Die vorstehenden einführenden Anmerkungen stehen auch als PDF-Datei unter dem Titel Das Israel Gottes zur Verfügung.
Religionsphilosophische Analyse der Tora (Pentateuch)
Aufbau der Tora
Zu einer ersten Orientierung über den formalen Aufbau des Tanakh oder Tanach überhaupt dieser Überblick: „Das mit den Anfangsbuchstaben der Wörter torah ‚Gesetz‘, nebiim ‚Propheten‘ und ketubim ‚Schriften‘ gebildete Kunstwort Tanach (TaNaK) zeigt das dreiteilige Ordnungsschema an, nach dem im Mainstream des Judentums die einzelnen Bücher zusammengestellt wurden. Allerdings gab es auch eine Reihenfolge mit dem Prophetenblock an dritter Stelle (Struktur: TaKaN) [Auch] die Abfolge der Bücher innerhalb der Blöcke Nebiim und Ketubim konnte variieren.“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G. et al.: Einführung in das Alte Testament. Mit einem Grundriss der Geschichte Israels von Christian Frevel, Stuttgart 7. Aufl. 2008, 21) Die Reihenfolge mit dem Prophetenblock an dritter Stelle (Struktur: TaKaN) ist jene der sog. Septuaginta [LXX] oder der griechischen Fassung des Ersten Testamentes ab 250 v. C., welche vom christlichen Israel übernommen wurde. [Stahlstich oben: Der Leipziger Philologe und Theologe Konstantin von Tischendorf (1815–1874), welcher die frühesten Handschriften der Tora, der Propheten und der Evangelien entdeckte und textkritisch edierte; darunter den berühmten Codex Sinaiticus (350 n. C.), den er 1844 nach einer Wüstenexpedition im Katharinenkloster der Sinaihalbinsel fand]
Die LXX ist die älteste Übersetzung der Tora in die internationale Weltsprache der klassischen Antike, ausgeführt im damaligen globalen Wissenschafts- und Kulturzentrum Alexandrien unter Ptolemäos II Philadelphos (282—246 v. C.). Die Akademie und Bibliothek von Alexandria waren die geistigen Zentren der zivilisierten Welt der Epoche. Dieses nach Art und Umfang als einzigartig geltende Übersetzungswerk der Antike umfasste bis zur Zeitenwende den gesamten Tanakh. Auch die mit Abstand ältesten vollständigen Handschriften des Tanakh bieten diesen in der griechischen Fassung der LXX: die Pergament-Handschriften Vaticanus, Sinaiticus, Alexandrinus von 320 resp. 350 resp. 400 n. C. Eine vollständige Handschrift des hebräischen Tanakh besitzen wir erst aus 600 Jahre späterer Zeit mit dem Codex Leningradensis von 1008 nach Christus.
Interessierte sollten für diese Analysen sinnvollerweise eine Ausgabe des Alten Testamentes [Tanakh] zur Hand haben. Zwecks allseitiger Orientierung ist auch eine Ausgabe der Messianischen Tora des christlichen Israel, also des Neuen Testamentes, vorteilhaft. Über den Aufbau von Tora und Tanakh überhaupt informiert in großen Zügen die folgende Verknüpfung.
R1. Aufbau von Tanakh und Tora.pdf
Entstehung der Tora
Die Tradition des vorchristlichen Israel und des christlichen Israel bezeugte einhellig Mose als Urheber der Tora. Auch die historisch-philologische Forschung zur Tora — welche im Rahmen der sich seit dem Humanismus und der Renaissance verstärkt entwickelnden historischen und philologischen Wissenschaften einsetzt — vertritt bis ca. 1800 die geschilderte Sicht von Mose als Urheber der Tora. Die Tradition und die historisch-philologische Forschung der Renaissance und Aufklärung sah diese Urheberschaft allerdings durchaus differenziert und wirklichkeitsnah. So nahm man an, dass Mose ihm vorliegende Traditionen verwendete, und man verarbeitete die in den der Tora folgenden Büchern des Alten Testamentes stehenden Informationen, dass Josua und Samuel dem überlieferten Gesetz des Mose Ergänzungen hinzufügten. Oder dass von David und Salomon neue Anordnungen über den Gottesdienst und das Priestertum — also zentrale Bereiche der Tora betreffend — berichtet werden, und von mehreren späteren Königen religiöse Reformen. [Bild oben: Jean Astruc (1684—1766), Begründer der wissenschaftlichen Venerologie und Leibarzt Ludwigs XV. Der aus einer jüdisch-kalvinistischen Familie zur Römischen Kirche konvertierte Mediziner und Philologe Astruc hat in Conjectures sur les mémoires originaux, dont il paroit que Moyse s'est servi pour composer le livre de la Genèse [Vermutungen über die authentischen Überlieferungen, deren sich Moses bei der Abfassung der Genesis bediente] (1753) erstmals der Sache nach in Genesis die später als Jahwist und Elohist bezeichneten sowie weitere Quellen unterschieden. Er verteidigt jedoch die traditionelle Position der Verfasserschaft des Mose durch deren Deutung als vormosaische, von Mose verwendete Quellen]
Über die Entstehung der Tora informiert ausführlicher die folgende Verknüpfung. Sie ist in die diese Abschnitte unterteilt:
(1) Die antike Überlieferung und Diskussion
(2) Grundschrifthypothese und vormosaische Quellentheorie in Mittelalter, Renaissance und Aufklärung
(3) Literarkritische Urkundenhypothese und evolutionistisches Paradigma des 19. Jahrhunderts
(4) Form- und überlieferungsgeschichtliche Fragmentenhypothese des frühen 20. Jahrhunderts
(5) Die biblisch-archäologische Schule der 1950er und 1960er Jahre (Albrightianismus)
(6) Middle-Period Minimalism der 1970er und 1980er Jahre
(7) Late-Period Minimalism seit den 1990er Jahren
(8) Orientalistische Forderung eines Paradigmenwechsels
R2. Entstehung von Tora und Tanakh.pdf
Weltanschauung der Tora
Wir formulieren die — im Fortgang der Untersuchungen zur Religionsphilosophie im Einzelnen zu begründende und fachübergreifend zu erörternde — These: Der Tanakh auf der Basis der Tora ist das global früheste zusammenhängende Geschichtswerk zur Frühgeschichte und zu den ersten Hochkulturen mit dem rationalsten Ansatz, dem größten Textumfang sowie dem längsten Berichtszeitraum und mit dem Fokus auf dem prophetischen Theismus als effektivem Schrittmacher von vernunftbasierter Aufklärung und Ethik sowie der längsten und umfassendsten Religions-, Kult- und Sozialkritik der Geschichte im Umfeld der jeweils modernsten urbanen Zivilisationen (Sumer, Ägypten, Phönikien, Babylonien, Persien, Hellenistische Globalisierung).
Der hervorgehobene Abschnitt der These fasst die Weltanschauung der Tora zusammen und ist hier thematisch. Eine ausführlichere Darstellung dazu liegt in der folgenden Verknüpfung vor. Die Untersuchung folgt dieser Gliederung:
(1) Axiomatische theistische Grundüberzeugung: Das Universum wird hervorgebracht und seine Geschichte steht unter der Regierung eines sowohl weltranszendenten als auch weltimmanenten persönlichen göttlichen Absoluten
(2) Die Anerkennung der Realität des Theismus ist die Mutter aller Dinge: „Anfang der Weisheit ist Respekt und Achtung vor dem Spirituellen und Göttlichen“ (vgl. Sprichwörter 9, 10)
(3) Das göttliche Absolute ist Quelle der Ethik und des Heils (Weisheit, Erfolg und Glück) sowie Richter des Handelns von Menschen und Staaten
(4) Thema der Tora und des Tanakh überhaupt ist die Rekonstruktion und Verkörperung von (1) bis (3) in der globalen Dynamik einer nicht-theistischen und nicht-ethischen Zivilisation
(5) Das personale göttliche Absolute selbst inspiriert und motiviert die Erneuerung und Verkörperung des Theismus unter (4) durch die prophetische Berufung und Mission Abrahams aus der urbanen Weltmetropole Ur im nahöstlichen Ausgangs- und Brennpunkt wissenschaftlich-technischer Hochkulturen
(6) Das personale göttliche Absolute selbst beruft und formt aus den Nachkommen Abrahams eine sakrale und politische Elite – ein priesterliches und königliches Volk (Exodus 19, 5—6) als Träger der Rekonstruktion des Theismus
(7) Die Formung der sakralen und politischen Elite resp.des Priestervolkes Israel vollzieht sich während eines Jahrtausends durch prophetische Sprecher, Schriftsteller und Akteure gegen die beherrschende Schwerkraft der nicht-theistischen und tendenziell nicht-ethischen Zivilisationen und erfasst effektiv nur einen „Rest Israels“ (Jesaja 10, 20)
(8) Die Rekonstruktion und Verkörperung des Theismus in (1) bis (7) zielt auf die messianische Ära mit der Neutralisierung der nicht-theistischen und ethisch gebrochenen Zivilisationen und deren Eingliederung in die sakrale und politische Elite des Priestervolkes und somit auf emanzipierte Mündigkeit und Inspiration aller Menschen durch das Göttliche: „Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch“ (Joël 3, 1)
R3. Weltanschauung der Tora.pdf
Theologie der Tora
Dieses Untermenu ist dem Gottesbegriff der Tora im zeitgenössischen Umfeld gewidmet. Die Analysen zur Religionsgeschichte mit dem Schwerpunkt auf der Nachzeichnung der Geschichte der Gottesidee zeigten, dass Zivilisationen mit dem Eintritt in die neolithische Revolution und noch einmal verstärkt mit der Ausbildung materieller Hochkulturen regelmäßig ein Verblassen des Hochgottglaubens erkennen lassen und nichttheistische: animistische, polytheistische Kulte sich in den Vordergrund schieben. Thema der Tora und des Tanakh überhaupt ist die Rekonstruktion und Verkörperung der theistischen Grundüberzeugung mit dem Ziel der Anerkennung der Realität des Theismus als Quelle der Ethik und des Heils in der globalen Dynamik nicht-theistischer und tendenziell nicht-ethischer Zivilisationen. [Bild links: 'Beter von Larsa' im Gebet für das Leben des amoritisch-babylonischen Königs Hammurapi (1792—1750 v. C.) vor dem Gott der Amoriter 'Amurru', der vielfach mit dem sumerisch-babylonischen Hoch- oder Himmelsgott 'Anu' (bzw. dessen Sohn) und auch mit 'El [Schaddai]', dem Allmächtigen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, identifiziert wird; ca. 1750 v. C. (Louvre)].
Eine weiterführende Diskussion zum Gottesbegriff der Tora im zeitgenössischen Umfeld finden Sie auf der folgenden Verknüpfung, welche diese Punkte behandelt:
(1) Theistischer Hochgottglaube und Polytheismus in der Religionsgeschichte
(2) Der Gott der Sethiten, Semiten und Abrahams, Isaaks und Jakobs
(3) Reform-Theismus im Nahen Osten, Mittelasien und im Fernen Osten
(4) Mosaischer Reform-Theismus
(5) Theistisch-polytheistischer Synkretismus im Nahen Osten, Mittelasien und im Fernen Osten
(6) Theistisch-polytheistischer Synkretismus in Israel
(7) Überwindung des theistisch-polytheistischen Synkretismus in Israel und Theismus als zukünftige globale Leitkultur
Schriftkultur der Tora
Eduard Meyer (1855—1930), Althistoriker, Ägyptologe und Altorientalist, gilt bis heute als Autor eines der bedeutendsten Werke der Altertumswissenschaft. Darin sagt er: „Völlig selbstständig geschaffen ist eine wahre historische Literatur im Bereiche des vorderasiatisch-europäischen Kulturkreises nur bei den Israeliten und Griechen. Bei den Israeliten, die auch darin eine Sonderstellung unter allen Kulturvölkern des Orients einnehmen, ist sie in erstaunlich früher Zeit entstanden und setzt mit hochbedeutsamen Schöpfungen ein [...] Bei den Griechen ist sie erst in einem viel späteren Stadium entstanden.“ (Meyer, Eduard: Geschichte des Altertums I.1, 4. Aufl. 1921, 227). Wichtige Voraussetzung und Werkzeug dieser Schriftkultur war die moderne westsemitische, kanaanitisch-israelitische Alphabetschrift, auch Buchstabenschrift oder Phonemschrift. Der Altmeister der Sprachforschung Karl Bühler (1879—1963) spricht von der "Genialität der Phonemschrift", die den analytischen Bau der Sprache optimal graphisch repräsentiert, was bei anderen Schriftsystemen nur ansatzhaft der Fall ist. [Bild rechts: 'Mescha-Stele' 840 v. C. in westsemitischer Alphabetschrift (Louvre), Siegesdenkmal König Meschas von Moab über König Omri von Israel mit der frühesten inschriftlichen Bezugnahme auf den Gottesnamen JHWH].
Im selben Sinn der erstrangige protestantische Einleitungswissenschaftler W. H. Schmidt: Einführung in das Alte Testament, Berlin / New York 5. Aufl. 1995, 76, welcher die sog. jahwistische Quelle der Tora um 950 v. C. z. Zt. Salomos ansetzt: „Die jahwistische Darstellung ist ... das älteste bekannte Geschichtswerk von so erheblichem verschiedene Epochen begreifenden Zusammenhang [...] Der Jahwist ist der ,erste, der den Gedanken einer einheitlichen Weltgeschichte erfaßt hat' (J. Hempel)". Dasselbe von Seiten der Römischen Bibelwissenschaft: „Sein Werk jedenfalls ist, ob man es literarisch, historiographisch oder theologisch betrachtet, die bedeutendste Leistung der altorientalischen ... Geschichtsschreibung [...] Die in der israelitischen Geschichtsschreibung so stark ausgeprägte Tendenz zur Welt- und Menschheitsgeschichte" stützt sich auf eine ebenso "erstaunlich hoch entwickelte literarische Technik schon der frühesten uns erschließbaren literarischen Werke der Israeliten" (H. Cancik in: Haag, H. (Hrsg.): Bibel-Lexikon, Stichwort: Geschichtsschreibung, Zürich / Einsiedeln / Köln, 1982) Der Jahwist wird nicht zuletzt v.a. mit den Erzählungen und Berichten in Genesis in Verbindung gebracht.
Zur Geschichtsschreibung der späteren Ära der geeinten Monarchie stehen Robert, A. / Feuillet, A. (Hrsg.): Einleitung in die heilige Schrift. Bd. I: Allgemeine Einleitungsfragen und Altes Testament, Wien / Freiburg / Basel 1963, 128, für eine häufig anzutreffende analoge Einschätzung: „In den Annalen der davidischen Dynastie [stößt] man auf eine Historiographie, für die man weder in Ägypten noch in Assyrien etwas Gleichwertiges zu finden vermöchte.“ Dabei ist zu beachten, dass es Propheten sind, welche entweder selbst die maßgeblichen Schriftsteller sind oder doch den Antrieb und den Sinn solchen Tuns motivieren. Für die Schriftpropheten Hosea, Amos, Jesaja, Jeremia etc. ist dies evident. Aber es gilt auch für die sog. Vorderen oder Früheren Propheten und deren Beschäftigung mit Geschichtsschreibung und -deutung: Samuel (1 Samuel 10, 25, 1 Chronik 29, 29) für Saul und David, und Nathan (2 Chronik 9, 29) für David; und Schemaja und Iddo (2 Chronik 12, 15; 13, 22) für Rehoboam und Abijah: „There is no warrant to dismiss these notices“ (Kitchen: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 375).
Noch einmal Robert/Feuillet (1963, 128): „Der biblische Prophetismus [hat sich], selbst vom rein literarischen Standpunkt aus, auf einer ganz anderen Linie und viel reicher entwickelt“ als parallele prophetische Texte aus den Nachbarkulturen: "Es ist den israelitischen Historikern gelungen, durch eine hoch entwickelte Verweis- und Anspielungstechnik schon rein umfangmäßig größere Handlungsfolgen zusammenzufassen, als es z.B. den Hethitern je möglich gewesen ist. Allein in Israel kam es zur Darstellung von handlungsübergreifenden Prozessen. Derartige Prozeßdarstellungen mit umfassenden Themen wie «Entwicklung des Verhältnisses von Gott und Mensch» (Genesis), «Entstehung des Volkes Israel» (Exodus), «Landnahme» (Josue), Generalisierungen wie im Prolog des Richterbuches (Ri 2, 11.23), wo in einer erstaunlichen Abstraktion ein Einblick in die historische Gesetzmäßigkeit der Richterzeit gegeben wird, gibt es im Alten Orient sonst kaum" (Bibel-Lexikon, Stichwort: Geschichtsschreibung, Zürich / Einsiedeln / Köln, 1982).
Die angesprochenen Zusammenhänge werden in der weiteren, in Folge eingerückten Verknüpfung, anhand dieser Thesen näher erörtert:
(1) Historiographische Exzellenz der semitischen Kultur des Alten Orients
(2) Präzise mündliche und schriftliche Überlieferung umfangreicher geschichtlicher und genealogischer Textkorpora über Jahrhunderte bis Jahrtausende
(3) Nahöstlicher Ursprung der Schrift und Schriftkultur
(4) Ursprung der modernen rationellen Alphabetschrift als globales Bildungs- und Wissensinstrument in Kanaan resp.Israel / Phönizien
(5) Prinzipielle Alphabetisierung aller sozialen Schichten seit der Mitte des 2. Jahrtausends v. C. durch die moderne kanaanitisch-israelitische Alphabetschrift
R5. Schriftkultur der Tora.pdf
Kosmologie der Tora
Vor 2000 Jahren beteten unsere Vorfahren wie die große Mehrheit der Menschen auf unserem Planeten Sonne, Mond und Venus als Götter und Göttinen an, zollten Bäumen und Quellen als Sitz von Nymphen und Halbgöttern kultische Verehrung, unterwarfen sich einem Meeresgott, Kriegsgott und Fruchtbarkeitsgöttinen durch lange priesterliche Tempelliturgien, Wallfahrten, Weihrauch und Opfer von Hähnen, Schafen und Stieren. Sie suchten sie so zu besänftigen und erwarteten Heilung von Krankheiten oder geschäftlichen Erfolg. Noch mehr als Naturvölker zeigten zivilisatorische Hochkulturen wie das pharaonische Ägypten, die griechische Wissenschafts- und Kulturwelt (Hellenismus) und das Römische Weltreich dieses Bild. Wer diese religiöse Weltanschauung nicht teilte und aktiv in Zweifel zog wie Sokrates in Athen oder das christliche Israel im Römischen Reich, galt als Staats- und Verfassungsfeind, unterstand polizeilicher Beobachtung oder wurde zu Gefängnisstrafen bzw. noch häufiger und in der Regel zum Tode verurteilt.
Wenn wir und die meisten Menschen auf unserem Planeten heute die Sonne und den Mond und die Venus nicht mehr anbeten, keine Nymphen und Halbgötter kultisch verehren, keinen Meeresgott, Kriegsgott und keine Fruchtbarkeitsgöttin mehr durch Wallfahrten und Stieropfer zu besänftigen suchen, wenn wir uns vor keinen Statuen von Tiergöttern mehr niederwerfen — dann ist die ausschlaggebende Ursache hierfür die Kosmologie des ersten Buches der Tora: Genesis. [Bild oben: Ask und Embla, die ersten Menschen in der nordischen Kosmologie, deren Beseelung durch die Asen eine Variante der indo-europäischen vorgeschichtlichen Tradition zur Genesis des Menschen ist: "Seele besaßen sie nicht, Vernunft hatten sie nicht, weder Blut noch Bewegung noch gute Farbe" (Lieder-Edda: Völuspá, 17—18), Briefmarke Färöer 2003]
Ein klassischer Belegtext hierfür — exakt an der Schnittstelle zwischen dem alten polytheistisch-pantheistischen Paradigma und dem neuen monotheistischen Paradigma — ist De vera religione [Von der wahren Religion] eines der wichtigsten Väter des christlichen Israel, Aurelius Augustinus (354—430). Das Werk datiert von 390 n. C., als das neue monotheistische Paradigma begann, in der Bevölkerung der zivilisierten Welt zu einer Mehrheitsmeinung zu werden. Thema des Werkes ist eine Evaluation beider Paradigmen. Es bietet gewissermaßen eine Momentaufnahme der Diskussion in dem Augenblick, als die Hälfte der Bevölkerung, der Wissenschaft und der öffentlichen Meinung noch polytheistisch oder pantheistisch dachte, und die andere Hälfte monotheistisch. Folgende Verknüpfung bietet eine Erörterung zu dieser theistischen Kosmologie der Tora, in deren Wirkungsgeschichte und grundsätzlichem Horizont wir (bis auf die hinduistischen und buddhistischen Kulturen Vorder- und Hinterindiens) heute alle denken und leben. Die einzelnen Themen sind:
(1) Genesis 1—2: Kosmologie und Anthropologie
(2) Genesis 3: Randbedingungen der Ethik — Schuld, Scheitern und Erlösung
(3) Theistische Welttranszendenz und Schöpfung in Religionsgeschichte und Ethnologie
(4) Theistische Weltimmanenz und Ethik in Religionsgeschichte und Ethnologie
(5) Paradiesische Lebenswelt und deren Beendigung in Religionsgeschichte und Ethnologie
(6) Nichtmaterielle intelligente Lebensformen in Religionsgeschichte und Ethnologie
(7) Das Messiaskonzept in Religionsgeschichte und Ethnologie
(8) Protohistorischer Charakter von Genesis 1—11
Vorgeschichte in der Tora
Formal folgt die Darstellung der Vorgeschichte einer Serie von Genealogien oder Stammtafeln. Genealogien stehen allgemein am Beginn der Geschichtsschreibung. Sie erlauben eine erste Orientierung in Zeit [Geschichte] und Raum [Geographie]. In die Genealogien sind Exkurse zum erstmaligen Auftreten eines Volkes, eines Berufs (Hirte, Ackerbauer), einer Technik (Städtebau, Metallbearbeitung, Instrumentenbau), eines Verbrechens — wie der erste Mord — sowie zu besonders markanten und dramatischen Wendepunkten (Große Flut) eingebaut. Und dies jedes Mal in der Perspektive einer religiösen oder spirituellen Pragmatik. Das Referat zur Vorgeschichte ist in der Völkertafel von Genesis 10 systematisch verdichtet. Sie ist ohne Parallele in der Weltliteratur: Das Kapitel bietet eine vorgeschichtliche genealogisch-geographische Weltkarte mit 70 Völkern bzw. deren Namen und Herkunft. Kein Name ist mythologisch. Es scheint, dass sie in der gesamten anschließenden Frühgeschichte benutzt und aktualisiert wurde: „The Table of Nations with early roots had its first form in the early second millennium, its full form in the late second, and was finally updated in the early first“ (Kitchen: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 447). [Bild oben: Der Große Zikkurat von Ur (Fundament), 2100 v. C., ein kultischer Tempelberg oder Turm wie der Turm zu Babel unter Sargon I. von Akkad (2300 v. C.) und weitere Türme an 20 anderen Orten Mesopotamiens]
Die folgende Verknüpfung bietet eine religionsphilosophische Analyse aller Themen der Vorgeschichte in Genesis. Eine erweiterte Fassung datiert vom 07.06.2010. Die Themen sind im Einzelnen:
(1) Genesis 4: Kain — Abel — Seth
(2) Genesis 5: Patriarchen vor der Flut
(3) Genesis 6—9: Sintflut und Noach, Sem, Ham und Jafet
(4) Genesis 10: Völkertafel
(5) Genesis 11: Turmbau zu Babel — Sprachverwirrung — Patriarchen nach der Flut
R7. Die Vorgeschichte in der Tora.pdf
Frühgeschichte in der Tora
Wir haben gesehen: Die Vorgeschichte in der Tora (und anderswo) besteht aus (i) Genealogien grundlegender und repräsentativer Persönlichkeiten, (ii) kurzen Notizen über ethische und technologische Weichenstellungen, sowie (iii) Nachrichten zu überdurchschnittlich einschneidenden und herausragenden Ereignissen.
Im Vergleich dazu bestimmen wir die Frühgeschichte als die Ära, ab welcher zusammenhängende und im Prinzip chronologisch fortlaufende Berichte über Stämme, Völker und Staaten und deren Gründerpersönlichkeiten vorliegen. Sie fällt weithin mit der Bronzezeit zusammen (im Nahen Osten 3300—1200 v. C.). In diese Ära treten wir in der Tora mit Abraham und seinen Söhnen und Enkeln ein, welche der Mittleren Bronzezeit des Nahen Ostens zuzuordnen sind (2000—1550 v. C.). [Bild oben: Grab der Patriarchen: Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea, in Hebron mit der massiven Mauereinfassung Herodes des Großen]
Anmerkungen zur bronzezeitlichen Frühgeschichte in der Tora bietet folgende Verknüpfung mit den Abschnitten:
(1) Methodologische Vorbemerkungen zu Genesis 12—50
(2) Genesis 12—25: Abraham
(3) Genesis 25—35: Isaak — Jakob — Esau
(4) Genesis 37—50: Josef
R8. Frühgeschichte der Tora.pdf
Spätbronze-Eisenzeit I in der Tora: Exodus & Landnahme
Hier stehen sich minimalistische Bibelwissenschaftler und nach üblichen Standards arbeitende Orientalisten besonders schroff gegenüber. Erstere meinen: "Der Exodus — so wie die Bibel ihn schildert — ist nicht historisch [...] Eine Migration von größeren Bevölkerungsanteilen als Hintergrund der Entstehung Israels ist auszuschließen.“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G.: Einführung in das Alte Testament. Mit einem Grundriss der Geschichte Israels von Christian Frevel, Stuttgart 7. Aufl. 2008, 600, 605). Oder: “The historical saga contained in the Bible – from Abraham’s encounter with God and his journey to Canaan, to Moses’ deliverance of the children of Israel from bondage … [is] a brilliant product of the human imagination.” (Finkelstein, I. / Silberman, N. A.: The Bible Unearthed, New York 2001, 1)
Letztere Orientalisten sehen darin eine Erstarrung in Denkschablonen des 19. Jh., welche auf Schritt und Tritt dem immer umfassender vorliegenden Fakten- und Datenmaterial widersprechen. Hier das Urteil des Ägyptologen James K. Hoffmeier: “The details of travel and life in Sinai as the Torah presents them square well with what is known about Sinai. The tabernacle makes sense as a mobile sanctuary for a people on the move, and prototypes from Egypt closely parallel to the tent-shrine of Exodus.
In the structure of the covenant, literary parallels with treaty documents from the second half of the second millennium b.c. best correlate with Exodus 24ff. and Deuteronomy; first-millennium treaty documents are entirely different and cannot account for the pattern used in the Torah. [Bild oben: Merenptah-Stele von 1210 v. C., auf welcher Pharao Merenptah Israel als politisch bedeutende Stammesorganisation in Kanaan nennt]
It was also demonstrated that a surprising number of words used to describe objects in the tabernacle and garments worn by the priests were of Egyptian etymology. Similarly, a surprising number of individuals of the exodus and following generations had Egyptian names. If the Israelites had not been in Egypt, how do we account for these elements? Surely a writer from the mid-first millennium b.c. in Judah or Babylon would not have known these Egyptian terms, let alone refer to Egyptian cities (i.e., Rameses) that had been abandoned centuries earlier. It seems doubtful that a late-period writer would have been interested in researching historical and cultural details simply to make the account look authentic to an audience who would not know the difference!
It seems to me easier to believe that the Bible accurately preserves an authentic picture of the travels and life in the Sinai wilderness than to suppose that authors six to seven hundred years later, writing in ignorance of the past and using creative imagination, got so much certifiably correct as this investigation has demonstrated.” (Hoffmeier: Ancient Israel in Sinai, Oxford 2005, 248)
Die folgende Verknüpfung orientiert im Einzelnen über die Debatte. Sie hat diese Abschnitte:
(1) Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
(2) Exodus 1: Israeliten in Ägypten
(3) Exodus 2—4: Mosebiographie und -berufung
(4) Exodus 5—13: Mose versus Pharao: Ägyptische Katastrophen (Plagen) — Paschaopfermahl
(5) Exodus 14—15: Auszug und Meerwunder
(6) Exodus 15/16—18: Zug durch die Wildnis zum Sinai
(7) Exodus 19—24: Sinaibund — Bundesbuch — Bundesschluss
(8) Exodus 25—31: Vorgaben zum Bau des Zeltheiligtums — Ordination der Hohen Priester — Kultordnung
(9) Exodus 32—34: Bundesabfall / Goldenes Kalb resp. Stier und Bundeserneuerung
(10) Exodus 35—40: Bericht über den Bau des Zeltheiligtums — Priesterbestellung — Kultordnung
(11) Levitikus 1—16: Opferriten — Priesterweiheriten — Kultische Reinheitsvorschriften
(12) Levitikus 17—26/27: Heiligkeitsgesetz
(13) Numeri 1—20: Musterung — Levitenweihe — Wüstenstationen und Rebellionen
(14) Numeri 21—36: Eroberung und Neuordnung des Ostjordanlandes
(16) Deuteronomium 1—11: Rückblick auf die Sinaierfahrungen
17) Deuteronomium 12—28: Deuteronomisches Gesetzbuch
(18) Deuteronomium 29—34: Testament des Mose — Fluch und Segen
(19) Josua 1–12: Militärische Neutralisierung Kanaans durch zwei Blitzkriege
(20) Josua 13—24: Aufteilung des Landes und Siedlungsbeginn
(21) Richter 1—21: Bilanz der Landnahme — Charismatische Führungspersönlichkeiten der vorstaatlichen Ära — Theologische und ethische Willkür
R9. Spätbronze_Frühe Eisenzeit in der Tora. Exodus_Landnahme.pdf
Die Tora in Monarchie — Untergang — Wiederaufbau
Referenzwerke zur Tora in dieser Epoche sind die Königsbücher und Chroniken (1050—430 v. C.). Sie sind für eine religionsphilosophische Analyse der Tora zu berücksichtigen und nicht vernachlässigbar. Denn sie sind „eine erste Auslegung der Tora“ und zwar eine „Toraauslegung, die die Form von Geschichtsschreibung angenommen hat“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G. et al.: Einführung in das Alte Testament, Stuttgart 7. Aufl. 2008, 193—194). Die Bücher gehören zu dem Textkorpus, das in der hebräischen Bibel unter dem Namen Vordere Propheten auftritt, da es sich (i) um prophetisch oder theologisch gedeutete Geschichtsschreibung handelt, (ii) Propheten selbst zu diesem Geschichtswerk beigetragen haben und prophetische Überlieferungen dominieren (Zenger et al. a.a.O. 2008, 241), (iii) prophetische Gestalten über weite Strecken im Zentrum stehen (Samuel, König David, Elija, Elischa, Jesaja) und (iv) gilt: „Die Königsbücher zeigen schließlich den geschichtlichen Hintergrund für das Wirken der vorexilischen Schriftpropheten.“ (Deissler, A. / Vögtle, A. (Hrsg.): Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg / Basel / Wien 2000, 261) [Bild oben: Modell des Zweiten Tempels in Jerusalem von 515 v. C., den Herodes der Große unter Heranziehung führender griechischer, römischer und ägyptischer Architekten seit 19 v. C. zu einer nach Größe und Ausstattung einzigartigen Gesamtarchitektur mit monumentalen Säulenhallen um den Tempelplatz ausbauen ließ. Der Um- und Ausbau war eines der weltweit größten Bauprojekte des 1. Jh. n. C.]
Diese Bücher sind eine „Meta-Theorie über Bedingungen, Sinn und Ziel von Geschichte überhaupt“ (Zenger a.a.O. 2008, 190). Dies ist die spezifische Kompetenz und gewissermaßen das Alleinstellungsmerkmal dieser Geschichtsschreibung.
Als Referenzrahmen und Anker für die geschichtliche Abfolge haben wir nun von 1180 v. C. (und schon 1432 v. C.) an bis 609 v. C. (Ende des assyrischen Reiches) eine exakte Assyrische Chronologie in Form der Regierungszeiten der Könige (K. Kitchen: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006, 22, 88). Sie wird fortgesetzt durch die Babylonische Chronik resp. Jahrbücher von 747 bis 224 v. C. (Kitchen a.a.O. 2006, 46). Da die assyrischen Könige auch die Namen ihrer Feinde in den Berichten nennen, haben wir so seit 853 v. C., dem Beginn des assyrischen Engagements in der Levante, eine sehr deutliche chronologische und historische Situation. Daneben haben wir eine zweite unabhängige Ägyptische Chronologie ab dem Neuen Reich 1550 bis 525 v. C. (persische Eroberung) (ebd. 22/23).
Ein erstes Schlaglicht auf den Abgleich dieses Referenzrahmens mit unserer Literatur ist dieses: „We find in Kings a very remarkably preserved royal chronology, mainly accurate in fine detail, that agrees very closely with the dates given by Mesopotamian and other sources [...] Out of twenty foreign rulers … all but two … duly turned up in the external records available to date […] This is a highly satisfactory standard […] Some nine out of fourteen Israelite kings are named in external sources [...] The time-line order of foreign rulers in 1—2 Kings, etc., is impeccably accurate, as is the order of the Hebrew rulers, as attested by the external sources […] The sources themselves show clear affinities in the kind of records used. Ancient kingdoms (large and small) did maintain running records (daybooks, etc.), exactly as were the annals (or daybooks) of Israel and Judah that are regularly cited as references by Kings and Chronicles" (Kitchen ebd. 2006, 31, 62—64).
Die fachübergreifende Diskussion in der folgenden Verknüpfung enthält diese Abschnitte:
(1) Methodologische Vorbemerkungen zum Geschichtswerk der Königsbücher und Chroniken (1050—430 v. C.)
(2) 1 + 2 Samuel: Samuel und König Saul (1050—1010 v. C. / 1 Samuel 1—15/31) — Biographie König Davids (1030/1010—970 v. C. / 1 Samuel 16–31 + 2 Samuel 1—24)
(3) 1 Könige 1—11: König Salomo — Philosophie — Tempelbau — Fernhandel (970—931 v. C.)
(4) 1 Könige 12—22 + 2 Könige 1—17: Geteilte Monarchie — Omriden / Ahab — Elija — Untergang Israels (Samarias) — Elischa (930—721 v. C.)
(5) 2 Könige 18—25: Südreich Juda bis zum Untergang: Assyrische Bedrohung und Jesaja — Manassischer Synkretismus — Joschijanische theistische Reform — Zerstörung und Deportation (721—587 v. C.)
(6) 1 und 2 Chronik: Geschichtstheologische Rekapitulation von Vorgeschichte, Frühgeschichte, Exodus und Dynastischer Geschichte von Genesis bis 2 Könige
(7) Esra und Nehemia: Wiederaufbau — Zweiter Tempel — Theistische Kultgemeinschaft — Endredaktion der Tora