- 1. Propheten als Medien ethischer Gewalt
- 2. Das Feindbild amoralischer Gewalt
- 3. Ethische Gewalt in Staat und Religion
Propheten als Medien ethischer Gewalt
Ethische Gewalt
Im vorhergehenden Menu und E-Buch zur Tora ist das Thema und Phänomen von Propheten bereits systematisch mit zur Sprache gekommen. Dies ist sachlogisch nicht anders möglich, da es uns um eine Religionsphilosophie des prophetischen Theismus zu tun ist. Es soll daher lediglich eine philosophische Erörterung der häufigen Meinung ergänzt werden, welche etwa folgendes Zitat ausdrückt: „Das Klischee vom atl. Gott der Rache und des Zornes ... steht lähmend zwischen uns und dem AT [...] Uns ist ... heute ein Menschenbild zugänglich, welches die Kategorie der Gewalt ausschließt [...] und [wir] entdecken mit Schrecken und Sorge, in welchem Ausmaß dort [= im Tanakh] eine gewalttätige Diktion herrscht.“ Das Zitat stammt von dem Innsbrucker Theologen Robert Oberforcher: Verkündet das Alte Testament einen gewalttätigen Gott? Fundamentalistische Relikte im Umgang mit gewalttätigen Zügen im biblischen Gottesbild. In: Niewiadomski, J. (Hrsg.): Eindeutige Antworten? Fundamentalistische Versuchung in Religion und Gesellschaft, Thaur 1988, 142—143. Vgl. für sonstige Literatur zum Thema Lohfink, N.: Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament, Freiburg 1983, 15—50 und 225—247.
N.B.: Obiges Zitat zeigt übrigens, wie stark emotionale Reaktionen und moralische Klischees von Milieu und Zeitgeist bestimmt werden. Dass das moderne Menschenbild die Kategorie der Gewalt ausschließe, dass politisch-weltanschauliche Gewalt, Zorn und Rache uns mit Schrecken und Sorge erfülle und lähme, ist eine typische linksliberale bzw. liberaltheologische Einstellung speziell der nach-68er Jahrzehnte. Spätestens seit dem 1. Jahrzehnt des 21. Jh. gilt das Gegenteil: Praktisch alle früher linksliberalen Leitmedien, alle politischen Parteien und die ideologisch und machtpolitisch tonangebenden NROs tolerieren oder bejahen inzwischen implizit oder explizit politisch-weltanschauliche Gewalt und globale Weltanschauungskriege, harten deregulierten Kapitalismus sowie polizeistaatliche Einschränkung von Demokratie und Bürgerrechten bis zur Akzeptanz von Folter und weltanschaulich oder politisch motivierten Attentaten. Die gegenteilige frühere Einstellung gilt als politisch nicht korrekt.
Der Einfachheit halber folgen wir der Argumentation Oberforchers, deren zentraler Gedankengang der Sache gerecht wird, auch wenn er mit interpretatorisch überholten und zeitgeistlastigen Fäden verwoben ist, die wir beiseite lassen. Er stellt zunächst korrekt fest: „Überall, wo Gott agiert ... gibt es auch jenes gewalttätige Reden. Es ist nicht so, daß dieses beschränkt bleibt auf ganz bestimmte, vielleicht als archaische Relikte identifizierbare Literaturbereiche [...] Dieses ... Phänomen einer Koexistenz von Gewalt- und Liebesterminologie wird direkt in das Gottesbild hineinverlagert“. (Oberforcher a.a.O. 1988, 144) Und „dieser ... Befund [findet] sich letztlich auch im Neuen Testament“ (ebd. 145). Besonders beispielhaft ist das Buch Exodus: „In dieser Erzählfolge [der Exodusgeschichte] verdichten sich die Züge von Kämpfen, ... Zermürben und Vernichten des Feindes im Gottesbild. Der Exodusgott ist ein mächtiger Krieger, der jeden Gegner eliminieren kann.“ (ebd. 146)
Politische Rettung durch ethische Gewalt
Zum Begriff "ethische Gewalt" vorab an dieser Stelle noch die folgende terminologische Klärung. Der Begriff wird von uns positiv verstanden und gebraucht. Er meint die wirksame Durchsetzung der Ethik durch das personale göttliche Absolute und dessen Repräsentanten in der Geschichte, speziell gegen übermächtiges privates, öffentliches und internationales Unrecht. Ethische Gewalt in diesem Sinn ist ein moralisches Instrument.
Dieser Begriff wird in der Moderne und Gegenwart auch in einem anderen, negativen Sinn gebraucht und meint dann den Missbrauch der Ethik als amoralisches Manipulations- und Unterdrückungsinstrument. Oder den zu undifferenzierten, die individuelle Situation vergewaltigenden Einsatz universeller ethischer Normen. In dieser Bedeutung findet sich der Begriff bei Judith Butler und Theodor Wiesengrund Adorno und in der Sache natürlich ganz prominent bei Nietzsche.
In dem beschriebenen positiven Sinn ethischer Gewalt ist nun das zentrale Argument Oberforchers: „Die Ausgangssituation für die mächtige Intervention Gottes ist die schwere Existenzgefährdung und Unterdrückung des ohnmächtigen Volkes ... durch den übermächtigen Pharao [...] Dieser Gott erweist sich als mit den Versklavten solidarisch ...: ‚Ich bin der ICH-BIN-DA‘ (3, 14) [...] Unter dieser ... Großperspektive steht ... die gesamte narrative Gestaltung und Ausformulierung der rettenden Intervention Gottes“ (146—147). Mit anderen Worten: „Die Sprache der Gewalt ... hat ... keinerlei Eigengewicht. Kurz gesagt: es will nicht verkündet ... werden, daß Gott gewalttätig ist, sondern daß er retten und befreien kann, auch dort, wo bedrohliche Mächte übermächtig agieren und jede Lebenschance nehmen. In dieser Richtung ist die theologische Sachaussage zu formulieren.“ (149)
Soziale Rettung durch ethische Gewalt
Dasselbe Bild zeigen die Schriftpropheten: „Das prophetische Engagement für die Unheilsankündigung gegenüber Israel befremdet durch seine Intensität und seine Gewaltdiktion“ (Oberforcher a.a.O. 1988, 151). Dies wird an dem 760—750 v. C. wirkenden Propheten Amos deutlich: „Amos gilt in seinem sozialkritischen Einsatz als einer der schärfsten und unbestechlichsten Kritiker der israelitischen Gesellschaft. Doch läßt er keinen Zweifel, woher er sein Protestpotential, den Scharfblick und die Sensibilität für Unrechtsphänomene bezieht: aus dem Wissen um den ... Bundesgott, der kompromißlos auf der Seite der Bedrohten, der Wehrlosen, der Rechtlosen und Armen stellt! Im Grunde wird hier das Exodusdogma in Sozialethik übersetzt.“ (151) [Bild rechts: Amos-Ikone 18. Jh., Kizhi-Kloster Russland]
Logik der ethischen Gewalt
Emotionspsychologisch gewendet: „Auf der Ebene ... der emotionalen Höhenlage muß eine Korrespondenz sichtbar werden zwischen Strafaktion und Unrecht. So signalisiert die Unheilsterminologie die Größenordnung menschlicher Unrechtspraxis.“ (152) Und sozialpsychologisch gesprochen: „Die konkret ... ausmalende Schilderung des Gerichtstages und des ... Rächergottes zielt auf die Sachaussage, daß es keine Autonomie des Bösen gibt! Die Praxis der Gewalttat und des Lebens auf Kosten der Wehrlosen führt unweigerlich in die Konfrontation mit dem Bundesgott [...] Der ...bedrohliche Grundton ist für die Opfer ... Hoffnungssprache.“ (152) Dasselbe kausalanalytisch: „Wenn Amos in seiner langen Auflistung von Phänomenen der Gewalttätigkeit bei den Völkern und Israel / Juda spricht, ist klar, wo das Zentrum und die Initiative solcher Gewalt zu lokalisieren ist: nicht im reagierenden Bundesgott, sondern in der vorgängigen Unrechtspraxis der Menschen!“ (152) Und schließlich und endlich teleologisch oder zweckanalytisch. „Für eine Gesamtbewertung der Unheilspassagen muß der Großkontext der Komposition der prophetischen Literatur herangezogen werden: ... niemals verselbstständigen sich Unheilstexte! Sie werden immer redaktionell rück- und eingebunden in heilseschatologische Passagen.“ (153)
Theologie der ethischen Gewalt
Polarisierung von Gut und Böse
Der letztgenannte Gesichtspunkt schiebt sich in geschichtstheologischen Aussagen zum Ende und Abschluss der Weltgeschichte (Eschatologie) naturgemäß in den Vordergrund: „Gewiß kommt in der Schilderung von der Endzeit die gewalttätige Sprache vom zurückschlagenden Richtergott und seinem Zerstörungswillen auf ihren Höhepunkt, nimmt Gott doch die kosmische Katastrophe und den Untergang der bisherigen Welt in Kauf [...] Die Darstellungslogik arbeitet mit Bildern ... der Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit. Deshalb haben in diesem Kontext Aussagen des Einlenkens, ... der Versöhnung keinen Platz. Geht es doch um die äußerste Polarisierung von Gut und Böse [...] Schließlich gilt auch für die Apokalyptik, daß die Untergangsszenarios eine letzte Perspektive erhalten in einem ganz neuen schöpferischen Handeln Gottes. Wenn Gott als Fernperspektive der Weltgeschichte eine universale Konfrontation mit aller Bosheit und aller Gewaltpraxis der Menschen erzwingt und zur Verantwortung ruft, dann ist ... von den Texten sehr scharf ausgesprochen, daß nicht Gott die Initiative von Gewalttätigkeit hat, sondern allen Weisen der Gewalt und der Bosheit Widerstand entgegensetzt und dazu die Macht und Kompetenz hat.“ (154—156)
Pflichtgebet Fluchpsalmen
In diesen Zusammenhang gehören auch und besonders die Fluchpsalmen, zu welchen — wenigstens in einzelnen Partien — ein Großteil der Psalmen zählt. Nicht nur der lebenslange Kampf in der Waffenrüstung Gottes gegen sichtbare und unsichtbare Feinde (Epheserbrief), sondern auch die Verfluchung und das Fluchgebet gegen scheinbar übermächtige Feinde und Verderber des Geschlechtes bzw. Vaterlandes sowie gegen Unterdrücker der Armen und Wehrlosen ist eine Konstante des prophetischen Theismus. Vor allem anderen gilt das für Fluch und Bann der Feinde Gottes, welche in Altem und Neuen Bund, die vormessianische und messianische Kirche und Gesellschaftsordnung hassen und vernichten wollen. Der spirituelle und existentielle Kampf gegen innere und äußere Feinde ist seit 2000 Jahren ein wesentlicher Part gerade des Divinum Officium, also des offiziellen Pflichtgebetes der Kirche. Auch in den — aus den biblischen Texten und den Psalmen zusammengestellten — Messformularen und sakramentalen Riten sind die Fluchworte eine allgegenwärtige und selbstverständliche Komponente.
Politisch-theologische Psalmen-Christologie
Dazu dieser Hintergrund: Das eigentliche Psalmenbuch beginnt — nach der später beigefügten Einleitung von Psalm 1 — mit dem Psalm 2 über die spirituelle und geopolitische Herrschaft des messianischen Gottkönigs: "Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt [...] Ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Eigentum die Enden der Erde. Du wirst sie zerschlagen mit eisernem Stab, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern. Nun denn, ihr Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch warnen, ihr Richter der Erde. Mit Furcht dient dem Herrn [...] damit er nicht zürnt und euer Weg sich nicht verliert". Und das Psalmenbuch endet mit dem Psalm 149 über die von der Kirche und Zivilisation des Messias verwirklichte spirituelle und geopolitische Gottesherrschaft (der Psalm 150 ist lediglich eine Schlussdoxologie): "Singt dem Herrn ein neues Lied; Sein Lob erschallt in der Kirche der Heiligen [...] Er wird die leidbewährten Sanftmütigen erhöhen und heilen. Der Jubel Gottes ist auf ihen Lippen und zweischneidige Schwerter in ihren Händen, um unter den Nationen Vergeltung zu üben, das Strafgericht über die Völker. Um ihre Könige mit Fesseln zu binden, ihre Fürsten mit eisernen Ketten, um über sie das [in Psalm 2] proklamierte Gericht zu vollziehen. Dies ist das Ehrenamt seiner Heiligen."
Zu diesem „messianischen und theokratischen ... Horizont“ des Psalmenbuches folgende Bilanz der aktuellen Forschung: „Von den Rahmenpsalmen 1—2 und 146—150 her ist offenkundig, dass der Psalter ein Lobpreis der universalen in Schöpfung und Tora grundgelegten Gottesherrschaft ... ist, die JHWH durch seinen auf dem Zion eingesetzten (messianischen) König (vgl. Ps. 2) und durch sein messianisches Volk (vgl. Ps 149) inmitten der Völkerwelt in einem eschatologischen Gericht durchsetzen will. Diese messianische Perspektive wird dadurch unterstrichen, dass an makrostrukturell wichtigen Stellen des Psalmenbuchs ‚Königspsalmen‘ und ‚Davidspsalmen‘ stehen, die einerseits auf einen messianischen König und andererseits auf ein messianisches Volk ... hin gelesen werden können [...] In der Gesamtarchitektur des ... Psalmenbuches markieren die Königspsalmen ... eine königstheologische bzw. eine messianische Perspektive“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G. et al.: Einführung in das Alte Testament. Mit einem Grundriss der Geschichte Israels von Christian Frevel, Stuttgart 72008, 357).
Eine sehr starke indirekte Bestätigung dieses Zusammenhanges ist die Theologie des christlichen, d.h. messianischen Israel. Denn die Messianische Tora der Evangelien handelt nur und genau von der in Rede stehenden „universalen ... Gottesherrschaft ..., die JHWH durch seinen auf dem Zion eingesetzten (messianischen) König (vgl. Ps. 2) und durch sein messianisches Volk (vgl. Ps 149) inmitten der Völkerwelt ... durchsetzen will“. Und deswegen ist „die neutestamentliche Christologie [= Lehre oder Theologie des Messias] ... weithin ‚Psalmen-Christologie‘. Gut ein Drittel aller neutestamentlichen Zitate im NT stammt aus dem Psalter. Mit keinem anderen Teil ihres Ersten Testamentes waren die Christen in gleicher Weise vertraut – die Adressaten der neutestamentlichen Schriften ebenso wie ihre Verfasser.“ (Zenger a.a.O. 2008, 369)
Messianischer Fluch und Bann I
Wenn im Neuen Testament Jesus Christus sagt: "Segnet die euch fluchen, segnet und fluchet nicht", dann wurde das von ihm selbst und seinen Aposteln und der Kirche nie als Widerspruch zu der Rechtmäßigkeit und sogar Pflicht zu Fluch und Anathema (Bann) verstanden. Letztere wurden immer und überall sieben Mal am Tag im Stundengebet sowie bei entsprechenden sonstigen Anlässen ausgesprochen. Dies zeigen vor allem anderen die Messiasbiographien (Evangelien) und die Biographie der Gründerväter des neuen Bundes Petrus und Paulus (Apostelgeschichte). Jesus Christus sagt im messianischen Gesetz der Bergpredigt: Wer das Hauptgebot der Liebe nicht praktiziert, "soll dem Hohen Rate verfallen sein", also der Kapitalgerichtsbarkeit (Blutgericht) und damit dem Tode, und darüber hinaus bei besonderer Gehässigkeit "dem Feuer der Hölle." (Matthäusevangelium 5, 22) Dementsprechend wird der Messias im Endgericht Unbarmherzige und Hasser für ewig verfluchen und bannen: "Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Satan und seinen Engeln bereitet ist" (Matthäusevangelium 25, 41).
Messianischer Fluch und Bann II
Der finale Auftrag des neutestamentlichen Messias zur Weltmission schließt mit dem furchtbarsten Fluch und Bann der Weltgeschichte über alle, die nicht glauben werden (Markusevangelium 16, 16). Dies erneuert für den Neuen Bund den entsprechenden Fluch und Bann am Schluss des Gesetzes des Moses (Levitikus 26 und Deuteronomium 28). Der Weltmissionar und Völkerapostel Paulus spricht im Galaterbrief den Fluch und Bann aus über alle Häretiker und vor allem über die die galatische Kirche manipulierenden judaisierenden Irrlehrer, wie es alle Konzilien der messianischen Ära tun werden. Die Verurteilung der Irrlehren schließt immer mit der feierlichen Formel: Wer dies lehrt, "Anathema sit — Der sei im Banne".
Das Nichtfluchen, sondern Segnen gilt dem grundsätzlichen Wohlwollen oder Lieben der Person des Feindes und deren irdischem wie transzendentem Heil. Der legitime und seine Wirkung nicht verfehlende Fluch hingegen gilt dem Feind bzw. den Feinden und ihren Organisationen als Verkörperung des Bösen und Satanischen, der Tücke und Verführung, der Blasphemie, des Verderbens, Raubens und Mordens. Die Maxime ist und war immer: Man soll die Sünde hassen und den Sünder lieben.
Entmannte — Kopflose — Gottverlassene
Es ist also keine Kleinigkeit, wenn der aus dem II. Vatikanischen Konzil hervorgegangene Neokatholizismus aus dem offiziellen Stundengebet der Presbyter und Mönche die ausgesprochenen Fluchpsalmen vollständig gestrichen hat und bei einem großen Teil der anderen Psalmen die Fluchpassagen entfernt hat. Ebenso in den Messtexten und Riten. Die Psalmen sind nach dem prophetischen Theismus inspiriertes Wort Gottes selbst. Sie sind die klassischen und normativen Gebete seit 3000 Jahren, deren eigentlicher Autor nach der Überzeugung der Propheten und Apostel der Geist Gottes ist. Mit diesem biblischen Gebetskanon, den alle Kulturen und Epochen mit unbedingter Ehrfurcht und Stolz — als vom Heiligen Geist geformt — behandelt haben, ist man in den 1970er Jahren ins Gericht gegangen und hat ihn zensuriert und verstümmelt. Es ist in biblischer Perspektive keine Frage, dass dies ein vermessenes und gotteslästerliches Tun war bzw. ist. Ein Tun, das das Gebet und den Gottesdienst leer und kraftlos macht, weil "die Herrlichkeit des Herrn" — mit Ezechiel (10, 18—19; 11, 22—23) zu sprechen — angesichts der frevlerischen Manipulationen "den Tempel verlassen hat". Entsprechend unspirituell und hilflos ist der liberalistische Neokatholizismus. Wer ihn erlebt, sieht eine besonders kindische Form entmannten und kopflosen Gutmenschentums, mit enormem unterschwelligem Groll und Depression: corruptio optimi pessima. Es ist im Übrigen ein nicht wirklich bestreitbares Fakt, dass genau diese Korruption in Verbindung mit einem großen Glaubensabfall und der zeitweisen Besetzung der Hierarchie der Kirche und messianischen Zivilisation durch die antichristlichen Mächte seit 2000 Jahren immer wieder prophetisch angesagt worden ist — angefangen von Jesus Christus und dem Apostel Paulus bis zu vielen Heiligen und Gerechten aller Jahrhunderte. Dies kann hier nur erwähnt, aber nicht weiter gewürdigt werden.
Das Feindbild amoralischer Gewalt
Korrelation von Lüge und amoralischer Gewalt
Die prophetischen Texte des Alten wie auch des Neuen Testamentes sagen, Anfang und Medium der Unrechtspraxis der Menschen ist die Lüge. Theologisch gebildete Leser werden hier spontan an eine berühmte Stelle bei Jesaja (28, 14—18) denken: „Ihr ... Sprüchemacher bei diesem Volk in Jerusalem habt gesagt: Wir haben [...] mit der Unterwelt einen Vertrag gemacht [...] wir haben unsere Zuflucht zur Lüge genommen und uns hinter der Täuschung versteckt.“ Der Prophet antwortet mit der Vorhersage des Messias als Entlarver und Sieger über Lug und Trug: „Darum — so spricht Gott, der Herr: Seht her, ich lege einen Grundstein in Zion, einen harten und kostbaren Eckstein, ein Fundament, das sicher und fest ist [...] Als Senkblei nehme ich das Recht und als Wasserwaage die Gerechtigkeit. Aber der Hagelsturm fegt eure Lügenzuflucht hinweg und das Wasser schwemmt euer Versteck fort“.
Das Bild vom Grund- und Eckstein ist eine zentrale Metapher für den Messias. Im Neuen Testament wird sie demgemäß an besonders herausgehobenen Stellen von und für Jesus Christus gebraucht: „Legt ... Falschheit und Heuchelei ab [...] Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist [...] Denn es heißt in der Schrift: Seht her, ich lege in Zion einen auserwählten Stein, einen Eckstein, den ich in Ehren halte; wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde“ (1 Petrus 2, 1—6). Und: "Wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen der Stein aber fällt, den wird er zermalmen." (Matthäus 21, 42—44)
Ein Hauptvorwurf im Tanach (Altes Testament) und im Neuen Testament an die Führungsschichten ist mithin die Neigung zu und das Vertrauen auf Lüge und Täuschung. Und ein Hauptmerkmal des messianischen Reiches ist die im Bild des Ecksteins ausgedrückte Aufrichtung von Wahrheit und Gerechtigkeit. Von ihr wenden sich Menschen und Gesellschaften in Annäherung an o.g. endzeitliche Perspektive jedoch mehrheitlich wieder ab. Am Ende steht ein Universum der Lüge. Das Neue Testament kommentiert dies so: Vor der Wiederkunft Christi "muß der Abfall kommen und offenbar werden der Mensch der Gesetzlosigkeit, der Sohn des Verderbens [...] Sein Auftreten zeigt sich ... in jeder Art böser Verführung für jene, die verlorengehen, weil sie der Liebe zur Wahrheit nicht Einlaß gaben, um gerettet zu werden. Daher schickt ihnen Gott die Kraftentfaltung der Verführung, daß sie der Lüge glauben, damit alle das Gericht erfahren, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Gefallen hatten am Frevel." (2 Thessalonicher 2, 1—12)
Rückblick auf den Dekalog
Orientierte Beobachter stimmen wohl zu, dass unsere Generation nicht umhin kommt, sich mit der in Rede stehenden Perspektive auseinander zu setzen. Es liegt auf der Hand, dass auch und besonders in unserer Zeitgeschichte „bedrohliche Mächte“, die „übermächtig agieren und jede Lebenschance nehmen […] in die Konfrontation mit dem Bundesgott“ führen. Insbesondere scheint dies zuzutreffen für eine historisch singuläre Sünde gegen das 8. Gebot Gottes („Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten!“), deren Avancement zum weltanschaulichen und weltpolitischen Eckstein Chestertons Diktum bestätigt: „It is actually our truisms that are untrue“ (Orthodoxy, New York 2004, 121). Unser gegenwärtiges Geschlecht ist darüber hinaus teils Kollaborateur teils Angriffsziel einer globalen Agenda zur Zersetzung von Glaube, Moral, Würde, Tradition, Eigentums- und Bürgerrechten mittels Pseudomoral, Manipulation und Terror. Sie ist kaum anders denn als apokalyptischer Frevel gegen die 10 Gebote Gottes insgesamt einzuordnen. Dies wird ohne weiteres deutlich auf dem Hintergrund des folgenden aktualisierten Dekaloges:
1. Gebot Gottes: Du sollst keinen anderen Götter neben mir haben! Du sollst den wirklichen Gott und nur diesen anerkennen! Du sollst dich in den Dienst der neuen Weltordnung des Messias Gottes und seiner Kirche stellen und ideologische, monetäre und physische Götzen verabscheuen und beseitigen!
2. Gebot Gottes: Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren! Dulde keine Respektlosigkeit, Schmähung und Subversion gegen die absolute Realität, den Messias und seine Kirche in deiner Mitte!
3. Gebot Gottes: Gedenke, dass du den Sabbat heiligest! Das Gebet, der Gottesdienst und die Feste der absoluten Realität, des Messias und der Martyrer und Gerechten der Weltkirche sollen die Koordinaten deiner Lebensform sein!
4. Gebot Gottes: Du sollst Vater und Mutter ehren! Die Würde und das Ansehen deines Vaters, deiner Mutter, deiner Familie, deines Volkes und seiner Repräsentanten sei unantastbar! Bekämpfe und mache zunichte die Feinde und Zerstörer der Selbstachtung, Würde und Freiheit deiner Familie und deines Landes!
5. Gebot Gottes: Du sollst nicht töten (morden)! Sei der Feind intellektueller und politischer Agenden, die Chaos und Terror erzeugen! Sie sind Produkte des Vaters der Lüge und Menschenmörders von Anfang.
6. Gebot Gottes: Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst die Rechte deiner Gattin und die Würde deines Körpers achten und dein Geschlechtsleben vernünftig ordnen! Du sollst deine Kinder in der Zucht des Herrn erziehen.
7. Gebot Gottes. Du sollst nicht stehlen! Du sollst dich als Person, Geschäftsmann/frau, Amtsträger und Staatsmann nicht korrumpieren lassen, betrügen und dich unehrenhaft bereichern.
8. Gebot Gebot Gottes: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten! Mache dich nicht gemein mit Angriffen auf Geschichte, Integrität und Ethik! Du sollst Recht und Geschichte nicht schänden, indem du das Weiße schwarz und das Schwarze weiß nennst.
9. Gebot Gottes: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib! Du sollst nicht die moralische und rechtliche Ordnung der Familie und Gesellschaft verletzen, zersetzen und zerstören!
10. Gebot Gottes: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut! Du sollst nicht dem Mammon dienen und Menschen, Firmen, Märkte und Staaten manipulieren, übervorteilen und missbrauchen. Folge den sozialethischen Prinzipien der messianischen Zivilisation: Personalität — Solidarität — Subsidiarität, und der Herr, dein Gott, schenkt dir Gutes im Überfluss und macht dich zum Kopf und nicht zum Schwanz (Deuteronomium 28).
Ausblick auf die Apokalypse
Man kann es nicht verdenken, wenn sich gegenwärtig manchem im wachsenden Umfang der Eindruck einer "äußersten Polarisierung von Gut und Böse" aufdrängt und damit — um noch einmal unseren Referenztext zu bemühen — die "Fernperspektive der Weltgeschichte", wo der Ewige "eine universale Konfrontation mit aller Bosheit und aller Gewaltpraxis der Menschen erzwingt und zur Verantwortung ruft" (Oberforcher 1988, 154—156).
Mehrheitliche Fernperspektive der Menschheit
Die qualitativ wie quantitativ maßgebliche Verkörperung des prophetischen Theismus ist heute die größte Religion der Erde: das Christentum. Für zwei Milliarden Gläubige des Christentums ist der Schlusstext des Neuen Testamentes Apokalypse [Offenbarung] die verbindliche "Fernperspektive der Weltgeschichte". Darüber hinaus gilt, wie an anderer Stelle gezeigt, dass 75 % der aktuellen Weltbevölkerung von 6, 7 Mrd. Menschen (2008) den prophetischen Theismus in religiöser oder säkularisierter Form als Grundlage ihres Denkens und Lebens anerkennen.
Der Adressat dieses Buches ist zwar zunächst die existentiell bedrohte und siegende Christenheit alias das spirituelle Israel des 1. Jh. vor dem Fall Jerusalems 70 n. C. (= zeitgeschichtliche oder präteristische Interpretation, siehe die in Folge genannte Literatur). Aber dieser Existenzkampf und Sieg ist darüber hinaus Vorbild oder Typus für die zukünftige Geschichte des spirituellen Israel alias der Kirche Christi und/oder des Reiches Christi in der Welt (= kirchengeschichtliche und/oder reichsgeschichtliche Interpretation) und besonders für die Endzeit, in der die Machtverhältnisse und Frontstellungen des 1. Jh. wieder aufleben werden — mit einem neuerlichen existentiellen Ringen und Sieg des Christentums (= endgeschichtliche oder futuristische Interpretation).
Die Aufmerksamkeit "gilt besonders den zwei Krisenzeiten, in denen die Kirche dem Ansturm Satans [siehe hierzu das Skript Zur Wissenschaftsphilosophie nichtmaterieller Lebensformen] ausgesetzt ist: in ihren Anfängen durch die römische Christenverfolgung und am Ende ihrer Geschichte durch die große Drangsal." (M. E. Boismard: Die Apokalypse. In: A. Robert / A. Feuillet (Hrsg.): Einleitung in die Heilige Schrift. Bd. II Neues Testament, Wien / Freiburg / Basel 1965, 655). Letzteres gilt insbesondere für den zweiten Teil (Kapitel 10—20) der Apokalypse, des prophetischen Buches par excellence das Neuen Testamentes. Hier ist thematisch „die endgültige Offenbarung der Königsherrschaft Gottes, die durch die Zerstörung der Feinde des Gottesvolkes angezeigt wird“ (Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg / Basel / Wien 2000, Anmerkung zu Apokalypse 10, 7). Deswegen ist für eine umfassende religionsphilosophische Bewertung von Prophetie und ethischer Gewalt folgender Überblick über die wichtigsten Aussagen des Buches nicht nur nützlich, sondern geboten.
Ethische Wertung der Geschichte
In der Sache ist die Apokalypse eine ethische Bewertung der Zeitgeschichte und ferneren Geschichte. Das ist stets und überall der Hauptzweck der Prophetie. Die damit eventuell verbundene Vorhersage der Zukunft dient diesem Hauptzweck. Die ethische Bewertung geschieht im prophetischen Theismus durch Vergegenwärtigen und Aktualisieren der Verpflichtungen und Verheißungen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk. Dieser Bund ist im Gesetz und den Propheten grundgelegt und findet im Neuen Bund seine ultimative Erfüllung. Die Apokalypse zitiert in ca. 580 impliziten Zitaten, Bildern, Zahlsymbolen und Bezügen die Schrift und Tradition des Alten Bundes und zwar sowohl des Gesetzes wie der Propheten und der Liturgie — als Typus oder Vorbild für die endgültige Realität des Neuen Bundes. Auch ihre Botschaft ist dieselbe: Wenn du / ihr auf meine Worte hört und den Bund beobachtet, bist du / seid ihr inmitten einer Umwelt feindlicher Verfolger Sieger und Herrscher, erfährst du / erfahrt ihr Segen und Heil, was angesichts der kosmischen Randbedingungen immer Aszese (Kreuzesnachfolge) voraussetzt und in manchen Phasen das Martyrium erfordert. Wenn du / ihr nicht auf meine Worte hört und den Bund nicht beobachtet, führt dies zu Erfolglosigkeit, Niederlage und Unheil in Zeit und Ewigkeit. Wie für kein anderes Buch des Neuen Testamentes gilt: "Deutlich tritt die Siegesthematik in der Offenbarung (17 mal nikân [= siegen], bei 24 Belegen im NT) ... in den Vordergrund." (U. Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, 6. Auflage Göttingen 2007, 548)
Bezugsrahmen Moses, Ezechiel und Daniel
Zum mosaischen Bezugsrahmen: Insbesondere "wird das Thema des Exodus in seiner ganzen Breite entfaltet, es wird zum Urbild aller großen Heilstaten Gottes [...] Der Verfasser schaut die Kirche gewöhnlich im alttestamentlichen Bild des Exodus und der Bundesgemeinde vom Sinai" (M. E. Boismard: Die Apokalypse, a.a.O. 1965, 641, 658). Man kann sogar die These vertreten, dass die Struktur des Werkes dem liturgischen Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk im Gesetz des Mose (Bücher Exodus, Leviticus und Deuteronomium) entspricht als auch dessen nachexilischer Erneuerung im Buch Ezechiel: "Ezechiel ist für den Seher die bevorzugte Referenzschrift" (Schnelle a.a.O. 2007, 559) und "den Hauptbeitrag zur Bildersprache der Apokalypse hat ... der Prophet Ezechiel geliefert" (Boismard a.a.O. 1965, 641—642). Ausführlicher: "The Revelation is a Christian rewriting of Ezekiel. Its fundamental structure is the same. Its interpretation depends upon Ezekiel. The first half of both books leads up to the destruction of the earthly Jerusalem; in the second they describe a new and holy Jerusalem.“ (Ph. Carrington: The Meaning of Revelation, London 1931, 65). Vgl. dazu in der aktuellen Forschung B. Kowalski: Die Rezeption des Propheten Ezechiel in der Offenbarung des Johannes, Stuttgart 2004, sowie D. Sänger (Hrsg.): Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung, Neukirchen 2006. [Bild links: Der Prophet Ezechiel, Fresko 12. Jh., Marienkirche Bergen auf Rügen] Die Prominenz von Ezechiel in der Apokalypse des Johannes ergibt sich daraus, dass präzise diese zwei Persönlichkeiten in der Bibel die Seher par excellence der transzendenten Welt des Göttlichen sind. Wer diesen Anspruch anerkennt, wird deren Übereinstimmung also nicht als literarische Rekonstruktion oder rewriting Ezechiels durch den Autor der Apokalypse interpretieren dürfen, sondern als Wahrnehmung und Kognition derselben metaphysischen Welt. Dass die Apokalypse für deren Beschreibung dann statt neuer Wortbildungen die von Ezechiel her vertrauten Bilder und Begriffe verwendet, ist zu erwarten. Analoge, sehr starke Entsprechungen bestehen zwischen der Apokalypse und dem altestamentlichen Buch Daniel.
Schauplatz transzendente Liturgie
Bekanntlich ist die alt- und neutestamentliche Liturgie die rituelle Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und die sakramentale Feier des Bundesschlusses zwischen Gott und seinem Volk. Es verwundert daher nicht, dass auch die Apokalypse diese Heilsgeschichte und Bundeserneuerung in Form der himmlischen Liturgie vor dem transzendenten Thron Gottes präsentiert, mit dem sich opfernden und triumphierenden Osterlamm und dessen neuem Bund mit der Braut des Lammes, d.h. der Kirche der Sieger: "In der Gegenwart beginnt sich trotz des Widerstandes der Welt durchzusetzen, was Johannes im himmlischen Bereich schon als vollendet schauen darf." (Schnelle a.a.O. 2007, 563)
Die rituelle Vergegenwärtigung der spirituellen Realitäten ist eine selbstverständliche religionsphänomenologische Grundgegebenheit. Im prophetischen Theismus präsentiert sie sich auf den zwei korrespondierenden Ebenen der irdischen und himmlischen Liturgie, wie neben der Apokalypse besonders Ezechiel und die Qumrantexte der Essener zeigen. Der rituelle Stil bedeutet, dass die Darstellungsform der Apokalypse weitestgehend metaphorisch und symbolisch ist. Ersteres ist der bekannte allegorische oder spirituelle Sinn als Anwendung oder Übertragung einer bildlichen oder auch begrifflichen Bedeutung auf eine andere begriffliche bzw. auch bildliche Realität (z.B. die Arche Noah in der Sintflut als Metapher der Kirche Gottes auf dem Meer der Welt). Letzteres ist symbolische (bildliche) Darstellung derselben begrifflichen Realität (z.B. Wassertaufe als spirituelles Bad; weißes Gewand als Symbol sittlicher Lauterkeit). Vgl. hierzu B. P. Prigent: Apocalypse et Liturgie, Neuchâtel 1964, G. Delling: Zum gottesdienstlichen Stil der Johannes-Apokalypse. In ders: Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Berlin 1970, 425—450, sowie K. P. Jörns: Das hymnische Evangelium, Gütersloh 1971.
Historisch-philologischer Diskussionsstand
In der uns hier besonders interessierenden ethischen Perspektive sind — abgesehen von Aufsatzliteratur — besonders innovative Monographien einmal die Interpretation des Turiner Experten zur antiken christlichen Literatur E. Corsini. Er ist dem heute oft präteristisch genannten Sinn verpflichtet: Die Apokalypse ist auch und zunächst eine Rekapitulation der gesamten fernen, näheren und nächsten Vergangenheit, nämlich der Geschichte des prophetischen Theismus des Alten Testamentes bis zum Leben und Wirken des Messias und der Stiftung eines neuen, neutestamentlichen Jerusalems. Vgl. Eugenio Corsini: Apocalisse di Gesù Cristo secondo Giovanni, Turin 2002 [1. Aufl. 1983; engl: The Apocalypse: The Perennial Revelation of Jesus Christ, trans. & ed. F. J. Moloney, Wilmington, DE 1983]. Wir vermuten allerdings, dass Kritiker Recht haben, wenn sie Corsinis präteristische Sicht als entschieden zu einseitig und selektiv einstufen. Zum Gesichtspunkt ethischer Gewalt ist sodann wichtig Alan J. Beagley: The "Sitz Im Leben" of the Apocalypse with Particular Reference to the Role of the Church's Enemies [Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 50], Berlin / Boston 2013 [1. Aufl. 1987]. Eine m. E. insgesamt nicht überzeugende Kritik Beagleys ist Ph. L. Majo: Those Who Call Themselves Jews: The Church and Judaism in the Apocalypse of John, Princeton 2006. Außerdem ist zu nennen der wahrscheinlich umfangreichste und in vieler Hinsicht gründlichste Kommentar von D. Chilton: The Days of Vengeance. An Exposition of the Book of Revelation, Fort Worth 1987. Der renommierte Exeget Gordon Wenham (Cheltenham / Bristol) sieht ihn als so "wertvoll" an, dass "das Studium desselben eine Pflicht ist" (Vorwort), auch und gerade weil er nicht in problematischer Weise zeitgeistfromm ist. Chilton will — ähnlich wie Corsini (1983/2002) — zeigen, dass (i) die Apokalypse zunächst die zeitgeschichtliche Situation des 1. Jh. im Blick hat und (ii) das österliche Siegeslied des Messias nach erfolgreich beendeter Mission auf der Erde ist und der optimistische Hymnus der Herrschaft alias des sozialen Königtums Christi in der Geschichte. Wir können wiederum auch Chilton nicht darin folgen, dass er in der Apokalypse prophetische Aussagen zur Zukunft jenseits des 1. Jh. marginalisiert. Eine komprimierte Zusammenfassung der genannten Literatur bietet der Theologe und Religionsphilosoph D. Ragan Ewing: The Identification of Babylon the Harlot in the Book of Revelation, Fort Worth 2002.
Wer aus der Globalen oder Katholischen Weltkirche kommt, muss bei Ewing und sonstigen protestantischen Interpreten allerdings Nachklänge antikatholischer Vorurteile in Rechnung stellen. Es ist meist tatsächlich nur ein Nachklang, der sich bei Ewing so anhört: "The view that regards Babylon as a symbol for the Roman Catholic Church is largely regarded today, and rightly so, as the least defensible." (Kap. 1) Das E-Portal zum Neuen Testament orientiert ferner auf historisch-philologischer und religionsphilosophischer Ebene über den geistes- und realgeschichtlichen Kontext von Apokalypse. Hinsichtlich Autor und Datum halten wir die detaillierte Beweisführung Robinsons zugunsten der Überlieferung für überzeugend, dass der Apostel Johannes das Buch im Exil auf der Ägäisinsel Patmos kurz vor 70 n. C. schrieb bzw. dem ihn begleitenden Diakon diktierte (Wann entstand das Neue Testament?, Paderborn / Wuppertal 1986, 232—264). Die häufige Datierung in die 90er Jahre Kaiser Domitians steht auch m.E. im Widerspruch mit den tatsächlichen örtlichen und politischen Verhältnissen dieser Epoche und beruht auch auf dem Missverständnis einer antiken Quelle. Man sollte sich hier nicht nur an der gängigen Einleitungsliteratur orientieren, sondern Robinsons Argumente kennen und abwägen. Das heißt nicht, dass Robinsons Deutung des Textes selbst — im Vergleich mit vorgenannten Autoren — nicht vielfach oberflächlich und zu soziologisch ist. [Foto rechts: Die Johannes-Höhle auf der Insel Patmos, nach der Überlieferung Ort der Offenbarung des Apostels Johannes, zusammen mit dem benachbarten Kloster des Hl. Johannes des Theologen erstrangiges spirituelles Zentrum der Griechisch-Katholischen Kirche und UNESCO-Weltkulturerbe]
Kommentar zu Apokalypse Teil II
Hier nun die große Linie sowohl zur amoralischen wie zur ethischen Gewalt im zweiten Teil der Apokalypse, in Form kurzer Zusammenfassungen des Originaltextes. Die auch dem allgemeinen Bewusstsein vertrauten Schlüsselbegriffe sind dabei der „große Drache“, das „Tier aus dem Meer“, der „Lügenprophet“: Sie werden als eine satanische Trinität eingeführt. Dazu tritt die „große Stadt“ alias „Hure Babylon“. Diese Schlüsselbegriffe sind besonders im zweiten Teil der Apokalypse ab Kapitel 10 präsent, welche die finale Prophetie des Werkes bietet. Unabhängig von theologischen Überzeugungen und religiösen Standpunkten besteht besonders im Blick auf die Identität der „großen Stadt“ alias „Hure Babylon“ historisch-philologischer Klärungsbedarf.
Wir skizzieren deswegen den Kontext der Schlüsselbegriffe und notieren Anmerkungen in der Perspektive der grundlegenden zeitgeschichtlichen Auslegung. Sie verdeutlichen m.a.W. den geschichtlichen und theologischen Hintergrund der zeitgenössischen Rezipienten, ihre Gedankenverknüpfungen und Assoziationen bei der Lektüre des Inhaltes unserer Schrift. Die zeitgenössischen Rezipienten sind in erster Linie Judenchristen, aber auch schon ein großer Prozentsatz Heidenchristen des 1. Jh. Sie werden definiert als „Könige und Priester“ (Apokalypse 1, 6) des durch den Messias begründeten spirituellen Israel resp. neuen Jerusalems:
Das Johannesevangelium und die sonstigen johanneischen Schriften sind "ein Aufruf an das griechischsprechende Judentum ..., an die Personengruppe, die Paulus als 'Israeliten und Gottesfürchtige' (Apg. 13, 16) anspricht, den als den Christus anzunehmen, den die Einwohner Jerusalems und ihre Führer (13, 27), 'die Juden' dieses Evangeliums, anzuerkennen abgelehnt hatten". Sie bilden jene, "die nicht zur Nation, tò éthnos, (für den Schreiber immer das hauptstädtische Judentum), gehören, nämlich die versprengten Kinder Gottes (Joh 11, 51ff), jene, die [in den Städten und Ländern des Erdkreises ...] in der Zerstreuung leben" (Robinson a.a.O. 1986, 304)
Sie erfahren sich andererseits als existentiell bedroht durch die Verfolgung des fleischlichen Israel resp. des säkularen Jerusalems und dessen Instrumentalisierung heidnischer Staatsmacht. In dieser Situation ist die Offenbarung des Ewigen und seines Messias „Jesus Christus, Herrscher über die Könige der Erde“ (1, 5): „Wer siegt ..., dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens“ und „Macht über die Völker“. Die unmittelbaren Adressaten sind die Bischöfe von sieben führenden Städten Asiens, des bedeutendsten Ballungs- und Wirtschaftsraumes des Römischen Reiches. Nach einer Eingangsvision des Messias und gottgleichen Menschensohnes (Kap. 1) bringt die Apokalypse inividualisierte Botschaften in Briefform an dieselben (Kap. 2 und 3). Die Kapitel 4 bis 9 beschreiben warnende und vorbereitende Strafgerichte über eine gottlose und verderbte Erde. Die Kapitel 10 bis 20 schildern drei finale Schlachten bzw. Gerichte. Die abschließenden Kapitel 21 und 22 haben einen neuen Himmel und eine neue Erde nach dem Ende der Geschichte zum Gegenstand. Hier die historisch-philologische Evaluation der Schlüsselbegriffe im Kontext von Apokalypse 10—20:
(1) Zentrum der wendezeitlichen wie der endzeitlichen Gottlosigkeit, Ungerechtigkeit und Verderbtheit ist „die große Stadt.* Diese Stadt heißt, geistlich verstanden: Sodom** und Ägypten***; dort wurde auch ihr [= der christlichen Blutzeugen] Herr gekreuzigt.“ (Apokalypse 11, 8)
* Bezeichnung für Jerusalem (Jeremia 22, 8). Die Apokalypse (16, 19) stellt „die große Stadt“ allen anderen „Städten der Völker [= nichtjüdische Nationen]“ gegenüber. Ein Beweisziel der Apokalypse ist, dass das Wirken, Leiden und Triumphieren des Messias eine Zeitenwende und Scheidung der Geister in der 'großen Stadt' herbeiführte. Das den Messias und seine Kirche bekämpfende irdische Jerusalem wird zu 'Sodom', 'Ägypten' und 'Babylon' (siehe in Folge), während die "Heilige Katholische Kirche" (Apostolisches Glaubensbekenntnis) des Messias das neue spirituelle Jerusalem ist, das vom Himmel auf die Erde herabkommt. Dieses und nicht das irdische Jerusalem ist jetzt die majestätische „Stadt des Herrn“ (Jesaja 60, 14) und „Nabel der Erde“ (Ezechiel 38, 12), deren „Glanz den ganzen Erdkreis“ erfasst (Baruch 5, 4).
** Leitmotiv der großen Schriftpropheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel ist die Gleichung Jerusalem = Sodom. Das Buch Jesaja beginnt mit dem „Wort des Herrn“, das die Führer Jerusalems „Herrscher Sodoms“ nennt, d.h. der „Stadt, die zur Dirne geworden ist [...] wo die Mörder herrschen“ (Jesaja 1, 10. 21). Dem Propheten Jeremia „bricht das Herz in der Brust" wegen des Wortes des Herrn: „Für mich sind alle wie Sodom, Jerusalems Einwohner sind für mich wie Gomorra [...] Schlechtigkeit ist ihr Ziel, Unrecht ihre Stärke. Sogar Prophet und Priester sind ruchlose Frevler“ (Jeremia 23, 9—11, 14). Ezechiel (vgl. besonders 16, 2—3, 16, 45—48) ist schließlich der große Theoretiker dieser Gleichung: siehe in Folge die Abschnitte (2) und (3). Die genannten großen Schriftpropheten sind für den Autor der Apokalypse die hauptsächlichen Referenzschriften (Schnelle a.a.O. 2007, 559). Die wegen ihrer Verderbtheit und kriminellen Energie sprichwörtlichen Sodom und Gomorrha mit ihren drei Schwesterstädten waren — wie aktuelle Ausgrabungen in Bab edh-Drah und Numeira dokumentieren — besonders reiche und gewaltige Stadtstaaten Kanaans in symbiotischen Kontakt mit Babylonien: ein frühgeschichtliches Wirtschaftswunderland und Ballungszentrum, dessen Friedhöfe mehrere Millionen Gräber umfassen. Zum detaillierten Hintergrund vgl. das Papier Die Frühgeschichte in der Tora.
*** Die Gleichung des Galaterbriefes (4, 24—29) war allgemein bekannt: Ungläubiges Jerusalem = Hagar [ägyptische Nebenfrau Abrahams] = Ägypten, seit dem Exodus ebenfalls Symbol heidnischer Kultur und Hybris.
(2) Die „große Stadt“ heißt auch „Babylon, die Große“ (16, 19).*
* Leitmotiv der Gerichts- und Endzeitrede Jesu in den Evangelien (Matthäus 24 und Parallelen) ist die Gleichung Jerusalem = Babylon: "Here … is the all-important change of roles. Jerusalem has become Babylon; Jesus and His disciples have become Jerusalem [...] All this language refers to the fall of Jerusalem, which is to be understood against the background of the predicted destruction of Babylon [...] The new Babylon was to be destroyed in an instant, and flight was the only appropriate action, the only way of salvation for Jesus’ renewed Israel.” So der führende Experte zum Thema N. T. Wright (St. Andrews): Jesus and the Victory of God. Christian Origins and the Question of God, Minneapolis 1997, 359, 356, 360. Genannte Gleichung hat eine reale Grundlage, denn (i) historisch wird das erste Weltreich Babylon 1800 v. C. von westsemitischen Kanaanitern gegründet und spiegelt die archetypische Verderbtheit Kanaans auf weltpolitischer Ebene. Und (ii) steht die Entartung Israels zu einem Neokanaan im Fokus der Analyse und Kritik der Propheten. "So spricht Gott, der Herr, zu Jerusalem: Deiner Herkunft und deiner Geburt nach stammst du aus dem Land der Kanaaniter [...] Deine ältere Schwester ist Samaria mit ihren Töchtern, die links von dir wohnt; deine jüngere Schwester ist Sodom mit ihren Töchtern, die rechts von dir wohnt. Du bist nicht nur ihrem Beispiel gefolgt und hast nicht nur die gleichen Gräueltaten begangen, sondern in kurzer Zeit hast du es in allem noch schlimmer getrieben als sie.“ (Ezechiel 16, 2—3, 45—48) Deshalb die Zerstörung und Deportation ab 597 v. C.
Auch nach dem Exil sehen die prophetischen Schriften des Neuen Testamentes angesichts des messianischen Auftretens Jesu eine Scheidung der Geister in der "großen Stadt“. Einmal das den Geist Kanaans und Babylons kultivierende Israel dem Fleische nach, das sich der Sphäre der dunklen Macht anschließt (Johannesevangelium 7—11: Große Messianische Offenbarung). Ihm steht gegenüber das spirituelle Jerusalem alias das christliche Israel: „Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist [...], sondern [...] im Herzen durch den Geist [...] Was Israel erstrebt, hat nicht das ganze Volk, sondern nur der erwählte Rest erlangt; die übrigen wurden verstockt [...] bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben, dann wird ganz Israel gerettet werden“ (Römerbrief 2, 28f; 9, 6f, 27; 11, 7, 25f). Ausführlicher: „Ein zentrales Thema [der ...] Ekklesiologie [Kirchenlehre] [der Evangelien und der Apostelgeschichte ist] die Kontinuität zwischen Israel und der Kirche [...] Während der ungläubige Teil Israels Jesus ablehnt, werden die Heiden in das Heil aufgenommen (Apg 10 f) und so zu einem Teil des wahren Israel [...] Indem Jerusalem das Zeugnis der Zwölf [Apostel], der [judenchristlichen] Urgemeinde und des Paulus ablehnt, wird es vom Ort des Heils zu einem Ort des Unheils. [Der Verfasser der Apostelgeschichte] Lukas macht aber deutlich, dass Gott die Kirche als das wahre Israel nicht an Jerusalem gebunden hat. Er erschloss sich durch die Heidenmission selbst einen neuen Lebensraum, als dessen Repräsentant die Welthauptstadt Rom zu gelten hat.“ (Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, 6. Auflage Göttingen 2007, 296, 318)
In der Apokalypse impliziert der Hinweis in den Versen "2, 9 und 3, 9 bezüglich derer ..., die 'behaupten Juden zu sein, es aber nicht sind' [...], daß die Christen die wahren Juden sind, die Vollendung der zwölf Stämme (7, 4—8; 21, 12), und daß, falls die Juden wirklich die Synagoge Jahwes (wie sie behaupten) und nicht 'die Synagoge Satans' wären, sie nicht 'mein geliebtes Volk' verleumden würden." So der Vordenker der angelsächsischen Exegese des 20. Jh. John A. T. Robinson (a.a.O. 1986, 239).
Die auch belegte Übertragung des Namens Babylon auf andere widergöttliche Metropolen wie das heidnische Rom ist demgegenüber sekundär und metaphorisch. Sie ist im vorliegenden Text positiv ausgeschlossen durch die ausdrückliche Gleichsetzung der in (1), (2) und (3) genannten Namen. Außerdem durch die Tatsache, dass das sprichwörtliche "Ewige Rom" zwar Bürgerkriege und Plünderungen erlebte, aber nie untergegangen ist wie die 'große Stadt' der Apokalypse.
(3) Die große Stadt heißt auch „die große Hure“* und zentrales Thema der Apokalypse ist das „Strafgericht über die große Hure, die an den vielen Gewässern sitzt […] auf einem scharlachroten Tier […] beschrieben mit gotteslästerlichen Namen und mit sieben Köpfen […] Auf ihrer Stirn stand ein Name, ein geheimnisvoller Name: Babylon, die Große, die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde. Und ich sah, dass die Frau betrunken war vom Blut der Heiligen** und vom Blut der Zeugen Jesu […] Die sieben Köpfe bedeuten die sieben Berge, auf denen die Frau sitzt*** […] Die Wasser, an denen die Hure sitzt, sie bedeuten Völker und Menschenmassen****, Nationen und Sprachen [...] Die Frau … ist die große Stadt, die die Herrschaft hat***** über die Könige der Erde.“ (17, 1, 5—6, 15, 18)
* Hauptthema des Propheten Ezechiel ist die Verwandlung Israels und Jerusalems in die große Hure, die in chronischem spirituellem Ehebruch gegenüber ihrem Eheherren JHWH lebt (Ezechiel 16): "So spricht Gott, der Herr, zu Jerusalem [...] Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen (Ehe-)Bund ein ... und du wurdest mein [...] Der Ruf deiner Schönheit drang zu allen Völkern; denn mein Schmuck, den ich dir anlegte, hatte deine Schönheit vollkommen gemacht [...] Doch dann hast du dich auf deine Schönheit verlassen, du hast deinen Ruhm missbraucht und dich zur Dirne gemacht [...] Du hast deine Söhne und Töchter, die du mir geboren hast, genommen und ihnen [= den Götzen] als Schlachtopfer zum Essen vorgesetzt [Ritualmorde an Kindern] [...] Du hast dich jedem angeboten, der vorbeiging, und hast unaufhörlich Unzucht getrieben [...] mit den Ägyptern ... Assyrern ... Chaldäern [...] Du hast ... den Bund gebrochen" (16, 3, 13—15, 25—28, 58)
Dieselbe Verwandlung bei Jeremia: „Von jeher hast du dein Joch zerbrochen ... und gesagt: Ich will nicht dienen. Auf jedem hohen Hügel und unter jedem üppigen Baum hast du dich als Dirne hingestreckt. Ich aber hatte dich als Edelrebe gepflanzt, als gutes, edles Gewächs. Wie hast du dich gewandelt zum Wildling, zum entarteten Weinstock! […] Du hast die freche Stirn einer Dirne“ (2, 20—21; 3, 3).
** Die Gleichsetzung der Begriffe „Große Hure“ und „Blutstadt“ ist ein weiteres Hauptthema bei Ezechiel (22): „Durch das Blut, das du vergossen hast, bist du schuldig geworden [...] Man missbraucht bei dir Frauen [...] lässt sich bestechen und vergießt dadurch Blut. Du nimmst Zins und treibst Wucher und erpresst deinen Nächsten. Mich aber hast du vergessen – Spruch Gottes, des Herrn. Ich schlage meine Hände zusammen wegen des Gewinns, den du gemacht hast, und wegen der Morde, die in deiner Mitte geschehen sind [...] Mitten in ihm [= Israel] sind seine Fürsten wie brüllende Löwen, die auf Beute aus sind. Sie fressen Menschen, nehmen Schätze und Kostbarkeiten an sich [...] Seine Priester vergewaltigen mein Gesetz [...] Seine Beamten sind wie Wölfe, die auf Beute aus sind; sie vergießen Blut und richten Menschenleben zugrunde, um Gewinn zu machen. Seine [Pseudo]Propheten aber übertünchen ihnen alles.“ (22, 4.12—13, 27—28) Auch nach dem Gericht über Jerusalem und dem Babylonischen Exil des 6. Jh. v. C. ist das letzte Wort des Propheten Maleachi und damit des Alten Testamentes die Ankündigung des Tages JHWHes als eines weiteren, durch den Messias selbst vollstreckten und ultimativen Gerichtes. Der Grund: "Ihr ermüdet den Herrn mit euren Reden ... dadurch, dass ihr sagt: Jeder, der Böses tut, ist gut in den Augen des Herrn, an solchen Leuten hat er Gefallen. Oder auch: Wo ist denn Gott, der Gericht hält?" (Maleachi 2, 17—18)
In der Apokalypse wird die Frau / Hure insbesondere "als geschworene Feindin aller Christen hingestellt; ihre Verfolgungswut und mörderische Tätigkeit hat sie in einen wahren Blutrausch versetzt." (E. Schick: Die Apokalypse [Die Heilige Schrift in deutscher Übersetzung. Echter-Bibel], Würzburg 1952, 76). Besonders plastisch stand dies den zeitgeschichtlichen Adressaten der Apokalypse in der Römischen Provinz Asien vor Augen. Denn sie waren durch Saulus/Paulus Christen geworden, dem früheren Organisator der systematischen Strafverfolgung von Christen im internationalen Maßstab durch den Hohen Rat: „Saulus versuchte die Kirche zu vernichten“ (Apostelgeschichte 8, 3) und zwar durch „Terror und Mord“ (Apg. 9, 1). Nach seiner Bekehrung zum Christentum wird er selbst Zielperson von Mordkomplotten (Apostelgeschichte 21-24) und regelmäßiger Todesdrohungen (Apg. 9, 23—25; 9, 29—30; 21, 31.36; 22, 22; 23, 30; 25, 3.24; 26, 21).
*** In der Wahrnehmung des Judentums und Frühchristentums war weniger Rom als vielmehr Jerusalem „die Stadt auf sieben Bergen“. Der Archäologe des Jerusalemer Tempelbezirks E. L. Martin: „The City of Jerusalem ... was also reckoned to be the ‚City of Seven Hills.‘ This fact was well recognized in Jewish circles [... and Jerusalem is the] only one of those ‚Cities of Seven Hills‘ that could possibly be the subject of the End-Time revelation." (The Seven Hills of Jerusalem)
**** Die Apokalypse ersetzt in der traditionellen alttestamentlichen Formulierung "Völker und Stämme, Nationen und Sprachen" den Ausdruck "Stämme" durch "Menschenmassen", was manchmal so gedeutet wird: "Unter dem entmenschlichenden Einfluß der Hure sind die Völker zu einer unorganischen, bewußtlosen und gewissenlosen Masse herabgesunken; der Typ des Kollektivmenschen hat sich in der gottlosen und dekadenten Atmosphäre, die ... alle Welt verseucht hat, herausgebildet". Sie "gebietet über alle Menschen", die ihr "wie willenlose Sklaven verfallen sind." (Schick a.a.O. 1952, 79). "Ihre Weltanschauung und ihr Lebensstil hatten auf sie wie ein Zaubertrank gewirkt, der sie in die Arme der gottlosen und unsittlichen Hure trieb." (ebd. 84)
***** Der bedeutendste Historiker des Judentums der Zeitenwende Flavius Josephus (37—100 n. C.) aus königlich-hohepriesterlicher Familie, und der bedeutendste Geograph und Forschungsreisende der Antike, Strabo (63 v. C.—23 n. C.), informieren darüber, dass die 'große Stadt' und ihre Bewohner "alle Städte überflutet" habe. Sie bilde in denselben die einflussreichste Lobby oder sei im Besitz der Macht: "Man findet praktisch keinen Ort, an dem dieses Volk nicht die Oberhand gewonnen hat." (Josephus: Ant 14, 7, 2). Der Tempel in Jerusalem war nach Größe, Ansehen, internationaler Bedeutung für und Ausstrahlung nach Europa, Afrika und Asien nicht nur das weltweit wichtigste religiöse Zentrum, sondern der "unermesslich reiche Tempel" (Tacitus: Historien 5,8) war z.Zt. des Neuen Testamentes wahrscheinlich auch weltweit größtes Finanzzentrum und "erstrangiger Machtfaktor" (ebd. 5, 5). Der Ausbau des Tempels seit 19 v. C. zu einer nach Größe und Glanz einzigartigen Gesamtarchitektur war weltweit größtes Bauprojekt des 1. Jh., ausgeführt durch die bedeutendsten Stadtplaner inkl. des Römischen Wirtschaftsministers M. Vipsanius Agrippa.
'Die große Stadt' kontrollierte unter Herodes dem Großen die auch in der Antike strategische Schlüsselindustrie Erdölproduktion und -handel und war Hauptsponsor der Olympischen Spiele (Josephus: Jüdische Altertümer 16, 5, 3). Es war im Römischen Reich geflügeltes Wort, dass der Orontes (Hauptfluss Kanaans und Syriens) sich in den Tiber (Fluss Roms) ergossen habe. Das sollte heißen: Die in den Welthandelszentren Phönizien, Syrien und Judäa zur Wissenschaft erhobene Finanzwirtschaft dominiert die Wirtschaft und mittelbar auch Politik des Römischen Reiches, im 1. Jh. die einzige Supermacht des Planeten. Die drei jüdisch-römischen Kriege 66—70/74 n.C. — Diasporakrieg 115—117 n. C. — Bar-Kochba-Aufstand 132—135 n. C. waren zuletzt ein messianisch-apokalyptischer Weltkrieg um globale Hegemonie im Orient und Römischen Reich. Natürlich ist solches Hegemoniestreben nicht per se unethisch, sondern erhält seine moralische Qualität aus der Legitimation, Intention und Ausführung.
(4) "Alle Völker ... und die Könige der Erde haben mit ihr Unzucht getrieben. Durch die Fülle ihres Wohlstands sind die Kaufleute der Erde reich geworden […] Ihre Sünden haben sich bis zum Himmel aufgetürmt und Gott hat ihre Schandtaten nicht vergessen* […] Sie dachte bei sich: Ich throne als Königin, ich bin keine Witwe und werde keine Trauer kennen. Deshalb werden an einem einzigen Tag die Plagen über sie kommen, die für sie bestimmt sind: Tod, Trauer und Hunger" (18, 3—8). [...] Freu dich über ihren Untergang, du Himmel — und auch ihr, Heilige, Apostel und Propheten, freut euch! Denn Gott hat euch an ihr gerächt.“ (18, 19—20) — „In ihr war das Blut von Propheten und Heiligen und von allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden** sind.“ (18, 24) — „Er hat die große Hure gerichtet, die mit ihrer Unzucht die Erde verdorben*** hat. Er hat Rache genommen für das Blut seiner Knechte, das an ihren Händen klebte.“ (19, 2) Die Rache erfolgt durch eine Allianz von Königen und Nationen unter einem globalen antigöttlichen Imperium****: "Sie werden die Hure hassen, ihr alles wegnehmen, bis sie nackt ist, werden ihr Fleisch fressen und sie im Feuer verbrennen. Denn Gott lenkt ihr Herz so, dass sie seinen Plan ausführen" (17, 15—17).
* Kanaan, d.h. Palästina und Phönizien, ist bekanntlich Knotenpunkt dreier Kontinente und hat eine planetarische Mittelpunktlage. Es war seit der Frühgeschichte Motor urbaner wissenschaftlich-technischer Hochkultur, Ursprung der modernen rationellen Alphabetschrift als globales Bildungs- und Wissensinstrument, Vorreiter der industriellen Massenfertigung, der Finanzwissenschaft und des Welthandels (siehe das Menu Schriften). Herausragende Vormächte Kanaans waren im kulturellen Gedächtnis der Menschheit das schon genannte Ballungszentrum Sodom, die phönizische Vormacht Tyrus und Jerusalem. Seitens der Propheten und der Apokalypse erfahren sie eine analoge Beurteilung und Kritik (s.o.). Apokalypse 18 überträgt nun insbesondere die Kapitel 27 und 28 bei Ezechiel über den Untergang der kanaanäischen Weltmetropole Tyrus auf den Untergang der 'großen Stadt'. Der Tenor ist: „Durch deine gewaltige Intelligenz, durch deinen Handel“ schufst du dir „unvorstellbaren Reichtum an Gold und Gütern [...] und eine vollendet schöne Stadt [...] Produzenten, Handwerker und Händler aller Regionen hast du beschäftigt und den Wohlstand der Nationen kontrolliert [...] „Durch deinen ausgedehnten Handel wurdest du erfüllt von Gewalttat, in Sünde bist du gefallen [...] durch gewaltige Schuld, durch unredliche Handelsgeschäfte“.
** Die Gerichtsrede des Messias über Jerusalem im Neuen Testament lautet: „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz [...] Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen? Darum hört: Ich sende Propheten, Weise und Schriftgelehrte zu euch; ihr aber werdet einige von ihnen töten, ja sogar kreuzigen, andere in euren Synagogen auspeitschen und von Stadt zu Stadt verfolgen. So wird all das unschuldige Blut über euch kommen, das auf Erden vergossen worden ist [...] Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind.“ (Matthäusevangelium 23, 27—36)
*** Der o.g- Historiker des Judentums der Zeitenwende Josephus in der Geschichte des Jüdischen Krieges: "Wenn die Römer gezögert hätten, über dieses Geschlecht von Frevlern zu kommen, so hätte ein Erdbeben sie verschlungen, oder der sodomitische Feuer- und Schwefelregen hätte sie getroffen; denn dieses Geschlecht war gottloser als alle, die etwas dergleichen litten." (Buch 5, 13, 6) Der in der Apokalypse zentrale Begriff der Hure bzw. Unzucht war für die Adressaten der Apokalypse nicht nur spiritueller Ehebruch durch Untreue gegen Gott, sondern auch reale Unzucht im Kontext gnostischer, satanischer Rituale. Die Briefe des Neuen Testamentes (v.a. Judasbrief und 2 Petrus) und die Apokalypse selbst sehen eine Hauptgefahr in "Angriffen von innen her durch gnostisierende, judaisierende Irrlehrer mit Anspruch auf Führerschaft in der Kirche [...die] des Irrtums des Bileam [= Korruption und Apostasie durch Sexualisierung] [...] und der nikolaitischen Irrlehre [= sittlicher Laxismus] eng verbunden sind" (Robinson a.a.O. 1986, 238).
**** Die Rache und das Gericht über Jerusalem beziehen zeitgenössische Leser der Apokalypse nach unserer Chronologie zunächst und v.a. auf den Untergang der Stadt 70 n. C., welche in der parallelen Gerichtsrede der Evangelien so lautet: „Es wird eine Zeit für dich kommen, in der deine Feinde ... dich und deine Kinder zerschmettern und keinen Stein auf dem andern lassen; denn du hast die Zeit der Gnade nicht erkannt [...] Das sind die Tage der Vergeltung, an denen alles in Erfüllung gehen soll, was in der Schrift steht [...] Der Zorn (Gottes) wird über dieses Volk kommen. Mit scharfem Schwert wird man sie erschlagen, als Gefangene wird man sie in alle Länder verschleppen.“ (Lukasevangelium 19, 41—44; 21, 21—24)
(5) Nach dem Gericht über die große Hure erfolgt, so weiter die Apokalypse, die Messiasschlacht. Sie ist das Gericht über die Völker und Nationen der Erde, die von der großen Stadt alias der Hure Babylon zum Abfall von Gott und dem Messias Gottes, zu Häresie, Mammon, Unmoral und Gewalttat verführt worden sind*. Das zweite Gericht richtet sich namentlich (i) gegen das sogenannte Tier aus dem Meere, ein globales Imperium aus Lüge und Terror, verkörpert im heidnischen, antichristlichen Römischen Weltreich bzw. dessen endzeitlichem Wiedergänger, dessen sich die Hure Babylon als politisch-militärisches Organ bedient hatte und (ii) den Lügenpropheten, der weltanschaulich-kulturelle Promotor der Hure Babylon.
* "Ihr größtes Verbrechen bestand darin, daß sie die Christen ... ermordet hatte; ja die gesamte Blutschuld, die die Welt durch die Verfolgung und Hinrichtung der Christen auf sich geladen hat, trifft [die Hure] Babylon, weil von ihr die Verführung und Verhetzung ihren Ausgang nahm und geschürt wurde“ (Schick a.a.O. 1952, 84). Das statistische Standardwerk T. M. Johnson: World Christian Trends AD 30 — AD 2200, Pasadena 2012, zählt 70 Millionen christliche Martyrer in zwei Jahrtausenden. Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte wie der spätermeist selbst ermordeten Kirchenväter Polykarp, Justinus, Origenes, Tertullian, Irenäus von Lyon und Cyprian von Karthago war die von der Apokalypse unter der Chiffre 'Hure Babylon' gefasste Instanz gewöhnlich Verursacher der Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte (vgl. R. Wilde: The Treatment of the Jews in the Greek Christian Writers of the First Three Centuries, Washington, DC, 1949). Die antiken Christenverfolgungen gipfelten u.a. im Mamilla-Massaker in Jerusalem, dem größten Massenmord Palästinas der letzten zwei Jahrtausende: Nach der kurzzeitigen persischen Eroberung des zum inzwischen christlichen Römischen Reich gehörigen Hl. Landes 614 n. C. wurden zwischen 65.000 (so der Augenzeuge Strategius und der Archäologe Reich) und 90.000 (der Historiker Milman) gefangene palästinensische Christen, mehrheitlich junge Frauen und Nonnen, von nichtchristlichen Juden aufgekauft, auf der Stelle ermordet und einem Massengrab übergeben, das 1992 bei Tiefbauarbeiten in Jerusalem entdeckt und wissenschaftlich untersucht wurde. Dazu zerstörten die das messianische Reich des Neuen Bundes ablehnenden Juden systematisch die seit Jahrhunderten in voller Blüte stehende katholische Zivilisation Palästinas sowie des Libanons, darunter Hunderte Kirchen, oft von Weltrang, 80 Klöster und zahllose Immobilien und ermordeten die Priester und Mönche. Siehe dazu den angesehenen und noblen Historiker E. Horowitz: The Vengeance of the Jews Was Stronger than Their Avarice: Modern Historians and the Persian Conquest of Jerusalem in 614. In: Jewish Social Studies 4 (1998), 1—39. Es ist sein Anliegen zu zeigen, wie fast alle jüdischen Historiker die Fakten unter den Tisch fallen ließen und die Geschichte neu schrieben und er warnt eindringlich, dass jüdische historische und ideologische Schriftstücke im Allgemeinen offenkundig unzuverlässig und apologetisch sind. In quantitativer Hinsicht ist diese aggressive Ablehnung und Verfolgung Sache einer kleinen, die Ideologie der Pharisäer fortsetzenden Partei. Denn bis zum Ende der Antike wurden 90 % der Juden und ihrer Nachfahren orthodox-katholische Christen. Diese judenchristliche Mehrheit hat das christliche Israel, also die Weltkirche des Neuen Bundes, begründet und stabilisiert — unter ständiger Lebensgefahr und mit zahllosen Martyrern. Siehe dazu das Papier Das Israel Gottes.
(6) Das in (5) genannte zweite Gericht stellt sich in den Worten des in Rede stehenden prophetischen Buches wie folgt dar: „Dann sah ich den Himmel offen, und siehe, da war ein weißes Pferd, und der, der auf ihm saß, heißt «Der Treue und Wahrhaftige»; gerecht richtet er und führt er Krieg. Seine Augen waren wie Feuerflammen und auf dem Haupt trug er viele Diademe; und auf ihm stand ein Name, den er allein kennt. Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand; und sein Name heißt «Das Wort Gottes». Die Heere des Himmels folgten ihm […] Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert; mit ihm wird er die Völker schlagen. Und er herrscht über sie mit eisernem Zepter, und er tritt die Kelter des Weines, des rächenden Zornes Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung. Auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte trägt er den Namen: «König der Könige und Herr der Herren».“ (19, 11—16)
„Das Tier und die Könige der Erde und ihre Heere waren versammelt, um mit dem Reiter und seinem Heer Krieg zu führen. Aber das Tier wurde gepackt und mit ihm der falsche Prophet; er hatte vor seinen Augen Zeichen getan und dadurch alle verführt, die das Kennzeichen des Tieres angenommen … hatten. Bei lebendigem Leib wurden beide in den See von brennendem Schwefel geworfen. Die Übrigen wurden getötet mit dem Schwert, das aus dem Mund des Reiters kam“ (19, 19—21)
(7) Die dritte und letzte Phase des Gerichtshandelns Gottes ist das Weltgericht: „Wer siegt, wird dies als Anteil erhalten: Ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein. Aber die Feiglinge und Treulosen, die Frevler und Scheusale, die Mörder und Unzüchtigen, die Praktiker schwarzer Magie und Giftmischer, die Götzendiener und alle Lügner — ihr Los wird der See von brennendem Schwefel sein. Dies ist der zweite Tod.“ (21, 1, 7—8)
(8) Die vieldiskutierte Frage einer jahrtausendelangen messianischen Friedensära nach den beiden ersten Strafgerichten und vor dem Weltgericht ist von der hermeneutischen, begriffsgeschichtlichen Klärung der Schlüsselbegriffe unabhängig und wird nicht einer weitergehenden Betrachtung unterzogen. Hier nur soviel: Das in den abschließenden zwei Kapiteln 21 und 22 der Apokalypse thematische neue Jerusalem alias messianische Reich wird definitiv und uneingeschränkt jenes eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach dem finalen Sieg über die Mächte des Bösen und nach einem Weltgericht sein. Aber dieses neue Jerusalem, das „die Herrlichkeit Gottes erleuchtet“, ist nach der Zeitenwende bereits jetzt prinzipiell die entscheidende spirituelle, moralische und theologisch-politische Realität in der Welt, in dessen „Licht die Völker einhergehen und wohin die Könige der Erde ihre Pracht bringen“ (21, 23—24).
Diesen Sachverhalt veranschaulicht nach der Zeitenwende das schon andernorts vorgestellte und bis heute maßgebliche Bildprogramm des Apsismosaikes der Basilika St. Pudentiana, der ältesten Kirche der Erde in der antiken Welthauptstadt Rom, die von Pius I. (140—155 n. C.) im Stadthaus des Römischen Senators Quintus Cornelius Pudens auf dem Viminal errichtet wurde, der zusammen mit seiner Gattin, zwei Söhnen und den Töchtern Pudentiana und Praxedis durch die Gründerväter der Römischen Kirche Petrus und Paulus Christ geworden war. Das Bildprogramm ist die seit 391 n. C. in Weltanschauung, Bildung, Ethik und Recht offiziell das Christentum verkörpernde römische Weltzivilisation: Das Mosaik zeigt sie als Organ der aus der Transzendenz kommenden Stadt Gottes, des neuen Jerusalem, d.h. der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“ (Glaubensformel von 325 n. C.). Umgeben vom Senat der Apostel in Senatorentoga, insbesondere den von Pudentiana und Praxedis (und/oder Personifikationen der Juden- und Heidenkirche) mit dem Siegeslorbeer bekränzten Apostelfürsten Petrus und Paulus, erscheint der Messias alias die absolute Vernunft (Weisheit, Logos Gottes) in goldener Toga als philosophischer Lehrer und Moderator der menschlichen Zivilisation. Sein Lehrstuhl ist der kaiserliche Thron des Weltherrschers (Pantokrator). Er verwirklicht das platonische Ideal des Philosophenkönigs, hinter sich das Kreuz als integraler Bestandteil theoretischer und praktischer Vernunft angesichts der misère de la condition humaine.
Ontologische Geltung der Ethik
Philosophisch geht es bei unserem Thema um die ontologische Geltung der Ethik. Ein zentrales Axiom des prophetischen Theismus ist: Das Universum, die Gesamtrealität ist in letzter Instanz ethisch. Die ethischen Gesetze sind die ultimativen Gesetze der Wirklichkeit. Ethik ist keine hilflose Fiktion oder Projektion oder Traum. Für die weitergehende Frage, wie im prophetischen Theismus die Theodizeefrage nach dem Leiden Unschuldiger beantwortet wird, vgl. insbesondere das Menu zur Atheismusdebatte und das Ethikotheologische Gottesargument.
Ontologische Geltung des Theismus
Philosophisch geht es darüber hinaus um die ontologische Geltung des Theismus. Das grundlegende Axiom des prophetischen Theismus ist: Das personale göttliche Absolute ist Realität. Die Theologie der Tora ist metaphysische und geschichtliche Realität. JHWH ist kein Phantasieprodukt oder menschliche Projektion wie die materiellen Götterbilder oder begrifflichen Konstrukte des Polytheismus, Deismus, Pantheismus und Materialismus. Der prophetische Theismus bekämpft Letztere auf der philosophischen, juristischen und politischen Ebene als sozial schädliche Wahnvorstellungen von krimineller Energie. Sie sind für ihn unmoralisch, weil sie die ethische Pflicht der Auseinandersetzung mit und des Respektes vor der wirklichen absoluten Realität verleugnen und verdrängen. Siehe hierzu die Verknüpfung zur ' Weltanschauung der Tora'.
Ethische Gewalt in Staat und Religion
Gewalt im Dienst der Ordnung der Vernunft
Ethische Gewalt ist im prophetischen Theismus nicht nur ein Vorrecht Gottes und speziell seines unmittelbaren Gerichtshandelns. Ethische, d.h. gute, moralisch gerechtfertigte und sittlich verpflichtende Gewalt ist auch eine unverzichtbare Kernkompetenz staatlicher und religiöser Institutionen und Autoritäten. Zwar erhellt aus allem Gesagten, dass die Kernüberzeugung des prophetischen Theismus ist: „Communitas universi gubernatur ratione divina“ / „Die Gemeinschaft des Universums wird durch die Ratio Gottes geleitet“. Aber genauso gilt von dieser Tradition: Ethisches Denken und Handeln, also die menschliche praktische Vernunft ist eine aktive und eigenverantwortliche Teilhabe an der absoluten Vernunft. Die Teilhabe der praktischen Vernunft an der transzendenten Vernunft (Gott) ist gekennzeichnet durch vernünftige Eigenverantwortung. Die praktische Vernunft hat einen aktiven Anteil und eine unabdingbare Aufgabe in der Ökonomie der absoluten Vernunft: Sie und nur sie leistet die Konkretisierung der Ziele und die Überlegung und Organisation der Mittel (Aquinas: Theologische Summe 1 II, qu. 91, art. 3, corp.; 1 II, qu. 93, art. 1). Im Vorwort des Kommentars zur Ethik des Aristoteles sagt derselbe Gewährsmann: Die Ordnung der existentiell, natürlich vorgegebenen Ziele und Pflichten ist durch die Vernunft kreativ aus Beobachtung und Erfahrung zu leisten. Es ist eine „Ordnung, die die Vernunft durch überlegende Beobachtung macht“. Dadurch erst gewinnen solche in der Natur vorliegenden Ziele moralische Qualität.
Dabei ist Gegenstand der praktischen Vernunft bzw. des Naturgesetzes notwendig und gleichursprünglich die individuelle (persönliche Verwirklichung und Glück) und soziale Dimension (Gemeinwohl). Der Grund für den starken Akzent auf dem Gemeinwohl ist: Der Mensch als Individuum ist nicht autark, und deswegen nicht in der Lage, das persönliche Glück ausschließlich individuell zu verwirklichen. Deswegen ist das Gemeinwohl die Bedingung der Möglichkeit des individuellen Glückes: „Der Mensch als Individuum ist ein Teil der autarken Gesellschaft: deswegen muß das Gesetz zwangsläufig die Organisation der Lebenswelt in Richtung auf das gemeinsame Glück betreffen.“ (a.a.O. 1II, qu. 90, art. 2, corp.) „Und deswegen ist jedes Gesetz auf das Gemeinwohl hingeordnet." (a.a.O. 1II, qu. 90, art. 2, corp.) Dies ist der Hintergrund für die wahrscheinlich berühmteste Definition des Gesetzes in der menschlichen Rechtsgeschichte. Sie lautet: „Von dem für die Gemeinschaft Verantwortlichen zum Zweck des Gemeinwohls promulgierte Ordnung der Vernunft“ (1 II, qu. 90, art. 4, corp.).
Die Aufgabe der Autorität in allen Sozialsystemen von der Familie über Firmen und Gemeinden bis zu Staaten und Weltanschauungsgemeinschaften ist nun einerseits die Repräsentation der Identität und Würde der jeweiligen Institution, ihrer Werte und Ziele, ihrer Leistung und Attraktivität — durch Symbole, Feste, Kunst und Architektur, Erziehung und Bildung, Visionen und Programme. Andererseits ist Aufgabe der Autorität — nach innen — die Setzung und Durchsetzung von moralischen, privatrechtlichen, öffentlich-rechtlichen, strafrechtlichen Normen und Sanktionen in Verfolgung dieser Ziele. Und — nach außen — die Verteidigung des Sozialsystems durch Aufklärung und Bekämpfung offener oder subversiver Angriffe. Dass dabei auch Missbrauch möglich ist, dafür ist keine Tradition so sensibel wie der Tanakh (Altes Testament) und natürlich auch das Evangelium (Neues Testament), aber abusus non tollit usum. Zweitens lässt sich bei umfassender und eindringender Kenntnisnahme — unabhängig vom eigenen weltanschaulichen Standpunkt — die These verteidigen, dass ethische Gewalt im prophetischen Theismus tatsächlich ethisch ist.
Ab- und Rückbau der Zivilisation
Mit diesem Hintergrund kontrastiert wie kaum eine andere Erscheinung der Gegenwart dieses Faktum: Im zeitgenössischen Christentum und speziell in der Katholischen Weltkirche ist ethische Gewalt im Dienst der Religion das am meisten umkämpfte Thema. Hierüber informiert die folgende Verknüpfung resp. das E-Buch:
Religiöse Verpflichtung versus religiöse Neutralität des Staates Interpretation und Bewertung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils (Dignitatis humanae) im Kontext der modernen Moralphilosophie und neokonservativen Staatsphilosophie
Zum Hintergrund: Die Legitimität oder Nichtlegitimität der ethischen Gewalt in Verbindung mit Moral und Religion ist das meistdiskutierte Thema des II. Vatikanischen Konzils (1962—1965): „In der Geschichte der Kirche hat kein Lehrdokument bei seiner Auslegung so viele Kontroversen und so viel Widerspruch ausgelöst wie die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae.“ (Peter A. Kwasniewski: Dignitatis Humanae: The Interpretive Principles. In: The Latin Mass: A Journal of Catholic Culture and Tradition 18 (2009), Nr. 1, 12) Die These der religiösen Neutralität des Staates, die sich faktisch auf diesem Konzil durchgesetzt hat, ist seitdem einer, wenn nicht der meistthematisierte Eckstein offizieller Reden und Initiativen. Es gab keinen Punkt in den Predigten und Stellungnahmen des langjährigen Pontifikates Johannes Paul II., der häufiger und nachdrücklicher angesprochen und eingeschärft worden wäre.
Umgekehrt sehen die Verteidiger der Position von Schrift und Tradition in dieser Erklärung ein zentrales Manifest des Taumelgeistes (Romano Amerio) und der Selbstzerstörung (Paul VI.). Die nachkonziliare Kirche unternimmt — so sagen sie — auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Versuch, die liberalistische Gesellschaftsdoktrin als Resultat des neuzeitlichen westlichen Säkularisationsprozesses zu übernehmen: Entlassung des Staates in die religiöse Neutralität — Vorrang der liberalistisch verstandenen Freiheitsrechte (Religionsfreiheit — Pressefreiheit — Lehrfreiheit) vor Wahrheit, Gerechtigkeit und herkömmlicher bürgerlicher wie politischer Freiheit und Selbstbestimmung. Sie können sich auf Pius X. berufen, der zum ersten Mal mit einer reflektierten und organisierten binnenkatholischen Bewegung pro religiöser Neutralität des Staates und interkonfessioneller resp. interreligiöser Kooperation auf humanistischer Grundlage konfrontiert war. Es war die französische Gruppierung Sillon, deren ursprüngliches idealistisches Ethos und deren große Leistungen Pius X. anerkannte. Er warnte sie vor diesen Ideen als einem „inkonsistenten und impotenten Humanitarismus“ notorischer Versager und Tölpel. Sie liefen einer kontraproduktiven, realitätsabgelösten Illusion hinterher, die zum „Ab- und Rückbau der Zivilisation“ führe und in „soziale und intellektuelle Anarchie“ münde: „Es gibt keine wahre Kultur ohne moralische Kultur und keine moralische Kultur ohne die wahre Religion; das ist eine bewiesene Wahrheit, ein historisches Faktum“ (Apostolisches Schreiben Notre charge apostolique vom 25.08.1910). Es gehe nur darum, diese Einsicht und Erfahrung gegen die immer wiederkehrenden Angriffe „geisteskranker Träumer, Rebellen und Schurken“ energisch zu verteidigen. Dies besonders dann, "wenn Irrtum und das Böse in einer mitreißenden Sprache dargeboten werden, welche die Unklarheit der Ideen und die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke hinter emotionalem Aufruhr und wohlklingenden Worten verbirgt", die auch „Persönlichkeiten von hohem geistigem Rang [... und] idealistische junge Menschen bei fehlender Bildung und Selbsterkenntnis blendet“. Eine solche impotente humanitaristische Bewegung endet — nach einer anfänglichen Phase ungeordneter reformerischer Träume oder chaotischer Revolutionen — in der desolation row, wenn man Pius X. Feststellung durch Verse Dylans paraphrasieren darf: "And though her eyes are fixed upon Noah’s great rainbow, She spends her time peeking Into Desolation Row." — In freier Wiedergabe: "Ihre Augen sind fixiert auf Noahs großen Regenbogen, auf die eine bunte Multikultiwelt, das ist wahr, dennoch schweift ihr Blick die ganze Zeit, wie magisch angezogen, zur Endstation der Versager, der Phantasten, zur surrealen Antiwelt."
Eine vom messianischen Reich Gottes getrennte und dieses ablehnende 'Multikulti'-Gesellschaft ist allen Erfahrungen nach künstliche, geheuchelte Vielfalt, die letzte Station vor Chaos und Anarchie, gefolgt von polizeistaatlicher Uniformität und kulturellem wie spirituellem Tod. Das von der messianischen Weltordnung apostasierte Schweden ist die zugleich multikulturellste und islamisierteste Gesellschaft Europas und hat seit Jahren die Station von Chaos und Anarchie erreicht, wo (i) die ein Kreuz beinhaltende Flagge des Landes als politisch unkorrekt hinterfragt und versteckt wird, (ii) der Wohlfahrtsstaat von kulturfremden unproduktiven Invasoren schamlos ausgebeutet wird, welche (iii) ethnische Schweden aus Prinzip anpöbeln und zusammenschlagen und (iv) Mädchen in kaum vorstellbarem Umfang vergewaltigen, (v) aberhunderte Schulen in Brand stecken, (vi) bei zahllosen willkürlichen Brandstiftungen Feuerwehr und Notarzt nur unter Polizeischutz zum Einsatz kommen lassen, so dass (vii) in der Großstadt Malmö Polizei, Justiz und Regierung die Kontrolle an Häuser, Autos und Busse demolierende militante Migranten abgegeben haben, aber (viii) zugleich immer neue multikulturelle Programme auflegen, sich (ix) last but not least strafbar macht und auch rigoros bestraft wird, wer über diese Dinge spricht. Das Motto der 15—17jährigen Migranten: „Schweden sollen in unserer Gegenwart auf den Boden schauen und uns die Füße küssen“ (Studie Vi krigar mot svenskarna). Diese in anderen nord- und westeuropäischen Ländern mehr oder minder ähnliche „Horrorgeschichte eines utopistischen Multikulturismus“ (Christian Science Monitor) bewegt sich inzwischen weiter in einen ebenso traditions- und bürgerfeindlichen Polizei- und Spionagestaat (vgl. die einschlägige Pressedokumentation der Jahre 2007/08 auf der Grundlage der führenden Zeitungen der EU seitens des Journalisten U. Ulfkotte: SOS Abendland (2008)).
Wer echte Multikulturalität als Einheit des Denkens, Fühlens und Wollens in hundertfacher natürlicher und kultureller Vielfalt erleben will, wird diese andererseits tatsächlich nirgends so überzeugend erleben wie in der Globalen Weltkirche. Und am überzeugendsten dort, wo der „Taumelgeist“ sie nicht oder noch nicht „aus ihrem Orbit fallen und wild kreiseln ließ“ (R. Amerio, siehe das Menu Erlösung). In Sachen multikultureller Gesellschaft ist sie bei eindringender phänomenologischer Betrachtung kaum leugbar the real thing, wie Amerikaner sagen. Eine der prägenden Erfahrungen der römisch-katholischen Sozialisation in den vor1968er Jahren war für viele Millionen Kinder eine ebenso globale wie intensive Verbundenheit mit Hunderten Millionen Menschen aller Länder, Rassen und Kulturen, die im Bekenntnis derselben Religion einen einzigen großen lebendigen Organismus bildeten: Man erlebte die seelsorgerliche und bürgerliche Integration der Volksdeutschen aus Tschechien, Ungarn, Rumänien und Russland, Gebete und Spenden für die unterdrückten Glaubensgenossen der SBZ (DDR), die Gottesdienste italienischer Gastarbeiter, Patenschaften für indische und afrikanische Diözesen und deren farbige Bischöfe, Diavorträge, Kalender und Zeitschriften der Marianhiller Missionare Südafrikas, Missionsbenediktiner Tansanias, Steyler Missionare Neuguineas und der Kleinen Sundainseln sowie des Missionsärztlichen Institutes in der Bekämpfung der Lepra in Äthiopien. Im Reich Gottes alias der Weltkirche wurden alle als gleichwertig verinnerlicht und anerkannt, in selbstverständlicher wechselseitiger Hochachtung, ob weiß, schwarz oder gelb, ob deutscher Unternehmer, italienischer Gastarbeiter, Anden-Indio oder Malaie.
Inexistenz wahrheits- und moralfreier Menschenrechte
Das o.g. E-Buch dient einer fachübergreifenden Evaluation der Kontroverse. Insbesondere stellt es sich dem zusätzlichen Klärungsbedarf, der sich aus Folgendem ergibt: Das Konzil erklärt, das Recht auf Religionsfreiheit unabhängig von der Wahrheitsfrage sei kein theologischer Satz, sondern eine moralphilosophische Forderung aus der Würde der menschlichen Person. Nun hat die moderne moralphilosophische Debatte des 20. Jh. gezeigt, dass es ein solches Recht nicht gibt. Absolute, beziehungslose Natur- und Menschenrechte auf beliebige subjektive Meinungen, Einstellungen, Verhaltensweisen sind eine Fiktion: „Es gibt keine solchen Rechte und der Glaube daran entspricht dem Glauben an Hexen und Einhörnern“. So Alasdair MacIntyre, einer der einflussreichsten Moralphilosophen der Gegenwart in Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995, 98. Auch der bekannteste zeitgenössische Menschenrechtstheoretiker Ronald Dworkin (Taking Rights Seriously, 1976 / dt.: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a. M. 1984) kommt zu dem Fazit, dass kein Nachweis solcher abstrakter Menschenrechte möglich sei (ebd. 1995, 99). Zu demselben Ergebnis kommt die Metaethik. Eine der repräsentativsten und anerkanntesten Darstellungen der Metaethik stammt von Franz von Kutschera: Grundlagen der Ethik, Berlin/New York 2. Aufl. 1999, wo er begründet: Das Recht auf Gewissensfreiheit schließt kein Recht auf generelle Handlungsfreiheit ein (Kutschera 1999, 282) und das Recht auf Meinungsfreiheit gilt qua Recht ebenfalls nicht für Beliebiges und Falsches, sondern hat Wahrheit zur Voraussetzung (ebd. 283).
Dieses Ergebnis entspricht dem Standpunkt der sozialethischen Tradition des prophetischen Theismus, z.B. in den o.e. Texten Thomas von Aquins und Pius X. In den einschlägigen Lehrschreiben der Römischen Kirche seit dem späten 18. Jh. wurde immer deutlich gemacht, dass absolutgesetzte liberale Freiheitsrechte trojanische Pferde einer gegen Gott rebellierenden und menschenfeindlichen Mafia sind, um Breschen in die Mauer der Stadt Gottes alias der messianischen Weltordnung zu schlagen, diese von innnen her aufzurollen, echte Freiheiten und Bürgerrechte zu zersetzen und mentale Verwirrung und politische Hilflosigkeit zu erzeugen: "Das Menschenrechtlertum ist eine Ideologie, die mit praktischen Fragen der individuellen Freiheit oder des freien politischen Diskurses nichts gemeinsam hat. Ihm geht es um Ansprüche. Traditionelle Liberale und Liberalisten können gar nicht deutlich genug darauf hinweisen, dass eine derartige Auslegung der Rechte sich gegen die Freiheit und das rationale Funktionieren der Gesellschaft richtet. Menschenrechte sind keine standardmäßigen Bürgerrechte, sie sind genau genommen eine revolutionäre Verweigerung der Bürgerrechte." So der angesehene tschechische Staatsmann Václav Klaus in dem Sammelband Zeitenwende: Wie internationale Entscheidungsträger die Welt von morgen sehen (hrsg. von G. Württele, Frankfurt am Main: Frankfurter Allgemeine Buch 2013).
Man kann sich der Einsicht von Václav Klaus auch vom anderen Ende her vergewissern: Wenn die gegen Gott rebellierende und menschenfeindliche Mafia unter dem demagogischen Deckmantel des "Menschenrechtlertums" (Klaus) in einer Gesellschaft die freiheitliche und soziale messianische Weltordnung diffamiert, ausgehöhlt und zerstört hat, dann setzt sie an deren Stelle eine neue Weltordnung kommunistischer, neokonservativer oder sonstiger Couleur. In derselben werden die liberalen Freiheitsrechte regelmäßig durch einen totalitären Polizei- und Spionagestaat mit repressiver Gesinnungsdiktatur ersetzt.
Das E-Buch folgt dieser Gliederung:
1 Schrift und Tradition von Tanakh [Altes Testament] und Evangelium [Neues Testament] zur religiösen Verpflichtung des Staates
2 Sozialpsychologische, sozialethische und sozialpolitische Dimensionen des Themas
3 Die Gesellschaftsdoktrin der Katholischen Weltkirche und Fundamentalismus
4 Die moderne Moralphilosophie zu liberalen Freiheitsrechten und religiöser Neutralität des Staates
5 Die moderne Staatsphilosophie zu liberalen Freiheitsrechten und religiöser Neutralität des Staates
6 Die Konzilserklärung Dignitatis Humanae zur Religionsfreiheit als Schlüsseldokument im theologischen Diskurs zwischen Progressismus und Traditionalismus
7 Der Text, die Grundbegriffe und die Thesen von Dignitatis Humanae
8 Kommentar und Fazit des Textes von Dignitatis Humanae
9 Bestätigung des erzielten Ergebnisses aus dem historischen und systematischen Kontext von Dignitatis humanae
10 Hat die konziliare Erklärung über die Religionsfreiheit als solche (insgesamt) einen identifizierbaren Sinn?
Der weltweit bekannteste und maßgebliche Kritiker der Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils ist bzw. war Erzbischof Marcel Lefebvre (1905—1991). Der sedisvakantistische Flügel des Widerstandes gegen die liberal-modernistische Neudefinition von Kirche und messianischer Zivilisation schreibt ihm nun regelmäßig die Auffassung zu, er habe die Erklärung über die Religionsfreiheit als häretisch eingestuft. So namentlich Father Anthony Cekada (USA) unter Berufung auf eine diesbezügliche Äußerung M. Lefebres in den 1970er Jahren ihm gegenüber. Wir kommen in unserer Untersuchung zu dem Fazit, dass keine Leugnung einer direkt geoffenbarten und lehramtlich definierten Glaubenswahrheit (de fide divina) vorliegt und damit Häresie (propositio haeretica), sondern lediglich die Leugnung einer lehramtlich definierten theologischen Schlussfolgerung (de fide ecclesiastica) und damit ein Glaubensirrtum (propositio erronea). Faktisch ist das freilich ähnlich gravierend wie eine Häresie. Für die Bedeutung dieser Terme in der theologischen Methodologie siehe obiges E-Buch. Worauf ich nun glaube hinweisen zu sollen, ist, dass Erzbischof Lefebvre in Ecône (Schweiz) bei einem Vortrag bzw. einer Konferenz mit Führungskräften der von ihm gegründeten FSSPX in den 1980er Jahren diese Frage ausführlicher erörterte und zu dem Fazit kam, dessen Zeuge ich war: "Au lieu d'en parler comme d'une hérésie au plein sens du mot, je pense qu'il est plus vraisemblable que la déclaration de la liberté réligieuse soit une erreur théologique, une proposition erronique." — "Statt sie als eine Häresie im strikten Sinne anzusprechen, glaube ich, dass es sich bei der Religionsfreiheit mit größerer Wahrscheinlichkeit um einen Glaubensirrtum, eine irrige Proposition, handelt." Ich bin ferner so gut wie sicher, dass er diese Einschätzung mindestens einmal mir gegenüber im persönlichen Gespräch bekräftigte. Dieser Hinweis ist nicht dahingehend misszuverstehen, dass ich die Authentizität der von Fr. Cekada berichteten Äußerung in Zweifel zöge. Erzbischof Lefebvre sah sich hier wie in anderen Punkten mit nie für möglich gehaltenen, historisch singulären theologischen Herausforderungen konfrontiert. In flexibler Reaktion auf die Krisis von Kirche und Gesellschaft reflektierte er diese Herausforderungen immer wieder mit unterschiedlichen Akzenten und Schlussfolgerungen. Im vorliegenden Fall ist dabei im Auge zu behalten, dass auch die Infragestellung einer lehramtlich definierten theologischen Schlussfolgerung ein Glaubensirrtum und damit Häresie im weiten Sinne ist. Insofern klärt sich die Spannung zwischen den berichteten Stellungnahmen ganz zwanglos auf.
Vorliegendes E-Portal zum Thema Propheten und speziell zu ethischer Gewalt im prophetischen Theismus kann auch als PDF-Datei abgerufen werden. Sie trägt den Titel: Ethische Gewalt in Schrift und Tradition des prophetischen Theismus.